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Mittwoch, 20. März 2013 – Juristisches Dealen

Hello, Freunde der Strafprozessordnung,

die Zukunft des Strafverfahrens ist keine gute, meint Heribert Prantl in der SZ. Er spricht von einem postmodernen Strafverfahren. „Es wird in diesem neuen Strafverfahren nicht mehr unbedingt die Wahrheit gesucht. Stattdessen wird gefeilscht, gekungelt, gepokert und gezahlt. Geständnis und Deal werden außerhalb des Gerichtssaals, oft am Telefon, von Richter, Staatsanwalt, Verteidiger und Angeklagtem ausgetüftelt, die Strafe wird nicht nach der festgestellten, sondern nach der so ausgehandelten Schuld bemessen.“

Da staunt der Laie und der Fachmann wundert sich. Müsste nicht die Wahrheit einer Anklage zuerst festgestellt werden? In der Postmoderne gibt es keine Wahrheit – weshalb der Film „Unsere Väter, unsere Mütter“ so gepriesen wird, weil er endlich die Wahrheit über unsere verbrecherischen Eltern zeigt!?

Wahrheit muss gesucht und gefunden werden. Man kann sie verfehlen, darf man deshalb die Suche nach ihr aufgeben? Kann Wahrheit das Ergebnis von Feilschen, Kungeln und Pokern sein? In einem Prozess des Dealens setzen sich jene durch, die die psychologischen Gesetze des Täuschen und Tricksen am besten beherrschen. Selten sind das die besten Freunde der Wahrheit.

Schon jetzt ist jedes fünfte Verfahren ein gedealtes Verfahren. „Hauptsache, die Sache geht schnell“. Der Grund des Dealens ist die Geldnot des Staates, es gibt zu wenige Richter und Staatsanwälte. Die vorhandenen sind überfordert und

können die Flut der Klagen nicht mehr bewältigen. Das Dealen ist eine Notwehrmaßnahme.

Nach Prantl ist der Deal vor etwa 30 Jahren am geltenden Recht vorbei in der Praxis entwickelt worden. „Jetzt wurde er mit den höchstrichterlichen Weihen und Mahnungen versehen. Es ist dies eine epochale Umwälzung des Rechtssystems: Die (mit einer Belohnung versehene) Zustimmung des Angeklagten zum Urteil erhält nun im postmodernen Strafprozess eine Bedeutung, wie sie einst im Inquisitionsprozess das (notfalls erzwungene) Geständnis hatte.“

Was bedeutet, dass seit 30 Jahren am geltenden Recht vorbei Unrecht gesprochen wurde. Nun mit nachträglicher Billigung des höchsten Gerichts. Natürlich muss das Rechtssystem korrigierbar sein, Mängel müssen abgestellt werden. Doch nach welchen Kriterien? Als schludrige Anpassung an ein eingeschlichenes Unrechtssystem – oder als Ergebnis intensiver Auseinandersetzungen über Moral und Recht? Muss eine Gesellschaft sich nicht fortlaufend streiten, in welchem Maß Moral in Recht verwandelt werden soll?

Diese Debatte gibt es nicht. Moral in der Wirtschaft und Wahrheit in der postmodernen Philosophie werden zu Hackfleisch gemacht. Es war abzusehen, dass das Ende der Moral das Rechtssystem unterminieren wird. Die Sonne bringt es an den Tag.

Worauf beruht eine Gesellschaft? Eine demokratische Gesellschaft, die nicht auf Wahrheit und Recht ruht, ist nicht überlebensfähig. Nun haben die Böckenfördes Oberwasser (Böckenförde selbst war oberster Richter), die die säkulare Gesellschaft auf Treibsand gebaut sehen und nach dem petrinischen Felsen göttlicher Werte rufen. Je mehr die säkulare Gesellschaft sich entkernt und entwertet, umso gieriger lauern die Transzendenten an der Ecke, um sie durch Hospitalisierung ihren Heilanden in die Arme zu treiben.

Die Krise des Rechtssystems ist eine Krise der Gesamtgesellschaft. Die Wirtschaft ist ins Reich der Justiz vorgedrungen, Recht wird zum Kungelprodukt schlitzohriger Dealer. Unschuldige gibt es nicht mehr, wir sind allzumal Sünder vor dem Kadi. Wer auf Wahrheit und Unschuld besteht, wird demnächst als Querulant von Gerichtspsychiatern – die ihr Wahnsystem bei Breivik und Kachelmann hinlänglich demonstriert haben – nach Emmendingen eingewiesen.

Das Ergebnis der apriorischen Schuld – man darf auch von Erbsünde sprechen – wird sein, dass alle schuldig sind. Eben deshalb werden alle mit weißer Weste herumlaufen. Besonders diejenigen, die am besten kungeln und – bezahlen können.

Prantl spricht von einem neuen Ablasshandel. Wenn der Taler im Kasten klingt, die Seele in den Himmel springt. Halleluja, wir sind wieder im Mittelalter angekommen. Ein Rückfall hinter Luther? Das katholische Dealen war verkommen, aber wenigstens „ehrlich“. Wer sich prophylaktisch schuldig bekannte und seinen Obolus bezahlte, hatte eine Chance auf Seligkeit.

Wenn Religion sich als Wirtschaftssystem versteht, darf man sich nicht wundern, dass Wirtschaft sich als Religion versteht. Die Gier der Magnaten ist keine Gier nach Mammon, sondern nach Erwählung und Absonderung von den Vielzuvielen, die verloren sind. Neoliberalismus ist Neocalvinismus.

(Gestern gab‘s in „Kulturzeit“ ein Interview mit Hans-Ulrich Wehler, der tatsächlich mal die Namen Hayek und Friedman nannte. Die Prinzipien der angelsächsischen Ökonomie wurden von Männern bestimmt, die hierzulande nicht mal Rösler kennt. Lambsdorff, der angebliche Urheber des Neoliberalismus in Deutschland, hatte noch das Vorwort zu Hayeks „Wege aus der Knechtschaft“ geschrieben. Was hierzulande bis heute nicht verstanden wird: der ungeheure Furor des Neoliberalismus entspringt seinem Vorkriegshass gegen Hitlers Nationalsozialismus und die totalitäre Planwirtschaft des sowjetischen Sozialismus. Überaus ehrenwerte Motive – die aber das Kind in blinder Reaktionsbildung mit dem Bade ausschütteten.

Regel- und Gesetzlosigkeit (= Deregulierung) verstand man als Freiheitsorgie, die man mit Demokratie identifizierte. Da Hitler durch demokratische Mechanismen – ohne Putsch – an die Macht kam, indem er die Massen auf seine Seite brachte, gab es bei Hayek & Co ein außerordentliches Misstrauen gegen Ochlokratie, die Macht des Pöbels. Also wollte man dessen Einfluss minimieren und die Gesetze der heiligen Wirtschaft dem Einfluss des wankelmütigen Volkes entziehen.

Dabei hatte Hayek in seinem Anti-Hitlerbuch selbst die Reihe jener deutschen Gelehrten aufgezählt und analysiert, deren Gedanken die Karriere des Führers erst ermöglichten. Es waren die Eliten, die das Verhängnis erdachten, das Volk fügte sich, wie immer.

Ökonomie wurde bei Hayek & Co zu einem transzendenten Gebilde der Evolution oder des Himmels, die Erbin der unsichtbaren Kirche, die durch Erschaffen von Wohlstand sichtbar geworden war. Für Neoliberale ist das Revier der Wirtschaft das vorweggenommene Reich Gottes auf Erden.)

Luthers Kampf gegen den Ablass war ein Fortschritt zurück in den vollständigen Bankrott des Menschen. Indem er die Herrschaft der klerikalen Mittler beeendete, unterwarf er sich komplett dem Erlöser am Kreuz. Im Ablasshandel hatte der Einzelne wenigstens die Möglichkeit, per Zaster an seinem ewigen Schicksal mitzubestimmen. Bei Luther musste der Sünder sich vollständig geschlagen geben. Ohne absolute Ergebung unter den Messias hatte er keine Chance mehr auf ein Plätzchen im Himmelreich.

Es war derselbe „Fortschritt“ wie der des Christentums gegenüber dem Judentum. Ein selbstbewusster Jude konnte durch Einhalten der Gesetze seinen Lohn von Gott fordern. Hiob war überaus selbstbewusst und legte Wert darauf, dass er seine „Vertragsbedingungen“ eingehalten und die Gesetze befolgt hatte. Also klagte er den Herrn der Heerscharen an, er habe seinen Teil des Vertrags nicht eingehalten und ihn schuldlos ins Elend gestoßen. Erst, als Jahwe am Ende der Debatte seine omnipotenten Schöpfermuskeln spielen lließ, musste Hiob sich als Kleindoofy geschlagen geben. Das Christentum kündigte sich an.

Genau genommen ist das jetzige Dealsystem der Justiz eine Mischung aus katholischem Ablass und lutherischer Allsündenhaltung. Schuldig sind immer alle; wer über Zaster verfügt, kommt noch am besten weg. Wenigstens im Recht haben wir 500 Jahre nach der Reformation eine ökumenische Symbiose zustande gebracht.

Pessimistisch die Prognose Prantls: „Der bisherige Strafprozess, in dessen Mittelpunkt die Aufklärung der Tat stand, verliert an Bedeutung. Und der Glaube an das Recht verliert seine Kraft.“

Bommarius ist keinen Deut optimistischer: „Der Niedergang des guten alten Strafprozesses ist nicht aufzuhalten.“

Christian Rath in der TAZ beklagt, dass es nur bei Appellen bliebe, die Prozessbeteiligten mögen sich doch bittebitte an die Regeln halten. „Die Staatsanwaltschaften sollen darüber wachen – dabei sind sie doch genauso wie die Richter an den Deals beteiligt. Auch sie sind oft von Personalknappheit geplagt und spüren sofort die Entlastung, wenn der Angeklagte gesteht. Für Urteile, die nach einem Deal zu milde ausfallen, gibt es nach wie vor keinen Kontrollmechanismus. Auch Karlsruhe ist nichts eingefallen. Wie enttäuschend. Die Auseinandersetzung wird also weitergehen.“

Alle drei Rechtsjournalisten sind übereinstimmend der Meinung, dass gestern ein rabenschwarzer Tag für die Justiz war. Besiegelt vom höchsten Gericht des Landes. Was katastrophal für das Recht ist, ist verheerend für das ganze Land. Das wirtschaftliche Paradigma hat die Gesellschaft uneingeschränkt im Griff.

Begonnen hatte dereinst die Wirtschaft als Naturalientausch. Dann kam das Geld, um den Tausch zu vereinfachen. Das Geld avancierte schnell zum abstrakten Symbol für Reichtum und konnte grenzenlos gehortet werden. Die unendliche Kluft zwischen Reich und Arm begann mit der Herrschaft des Geldes.

Das war in der Zeit des Hellenismus, der Nachfolgeepoche Alexanders des Großen, der das Gebiet des östlichen Mittelmeers – bis fast nach Indien – in eine Einheit verwandelt hatte. Es war die erste Globalisierung in der Geschichte Europas. Die eroberten Länder fügten sich zwar der Gewalt, akzeptierten aber in hohem Maße den Logos der Griechen. Selbst die Eliten des judäischen Reiches waren hellenisiert bis zum nackten Sportreiben in den Gymnasien.

Nur die pharisäischen Fundamentalisten wehrten sich gegen die Dominanz der Gojim und begannen den Aufstand der Makkabäer, der den Juden für kurze Zeit einen unabhängigen Staat einbrachte. Die Römer erweiterten die globalisierte Welt, indem sie das ganze Mittelmeer in die pax romana verwandelten – und die Kluft zwischen Reich und Arm ins Unermessliche trieben. (Siehe Rostovzeffs Gesellschafts- und Wirtschaftsgeschichten der hellenistischen und der römischen Welt)

Der Kapitalismus entwickelte sich peu à peu aus wachsenden Verflechtungen der mittelmeerischen Welt, bis durch den Verfall Roms die Stunde der Erlöser schlug, unten denen der christliche Messias sich als der wirksamste und einflussreichste erwies.

Der Kapitalismus war keine Erfindung des Protestantismus, wie Max Weber konstatierte. (Max Weber war eine zwiespältige und zerrissene Figur in allen Dingen. Indem er den ungeliebten amerikanischen Kapitalismus als Produkt des Calvinismus beschrieb, konnte er ihn als christliches Gewächs zur Hälfte akzeptieren und zur Hälfte als nichtlutherisches Produkt ablehnen. Diese Zwiespältigkeit beherrscht noch heute den psychischen Untergrund der Deutschen.)

Recht hatte Weber allerdings darin, dass der moderne Kapitalismus zu einer neocalvinistischen Verschärfung wurde. Nachdem der mittelalterliche Katholizismus die Religion in Wirtschaft verwandelt hatte, musste der Calvinismus diese Anfänge nur zu einem Seligkeitssystem auf Erden weiterentwickeln.

Wir sehen folgende Stufen des religiösen Dealens:

a) Das Judentum erfand den Tausch aus Gesetzesgehorsam gegen göttliche Belohnung: Reichtum, Gesundheit, ein sattes und langes Leben auf Erden. Das war der Grundvertrag fast aller Völker mit ihrem jeweiligen nationalen Gott.

b) Der Katholizismus ersetzte Gesetzesgehorsam durch Zaster. Ablassgeld wird getauscht gegen ewige Seligkeit.

c) Das aufbegehrende Luthertum war psychisch so heruntergekommen, dass es sich nicht mal würdig fand, einen Deal mit den göttlichen Mächten einzugehen. Alles übergaben die Kritiker des Papstes der Gnade ihres Heilands. Ihr eigener Beitrag zur Seligkeit bestand darin, keinen Beitrag zu liefern. Lutheraner waren die würdelosesten Sündenkrüppel in der Geschichte biblischer Religionen. Das merkt man an ihrem absoluten Gehorsam gegen jede Obrigkeit. Selbst unter Hitler beteten sie jahrelang zu Gott, ob sie den Schlächter füsilieren dürften. Ihre Begeisterung für den Führer war die Kehrseite ihre eigenen Unwürdigkeit und Bedeutungslosigkeit. Wer nicht Ich sagen kann, muss Wir sagen: ein Volk, ein Reich, ein Führer.

d) Im Calvinismus ist das Schicksal jedes Menschen vorherbestimmt (Prädestination). Vor Erschaffung der Welt hat der Schöpfer das Schicksal jedes Erdenwurms ausgewürfelt. Damit war das Leben des Einzelnen auf Erden vorprogrammiert. Er konnte sich seine Seligkeit nicht verdienen. So weit, so lutherisch – der Wittenberger war ebenfalls Anhänger der Vorherbestimmung, rückte diesen Punkt aber nicht so in den Vordergrund wie sein Genfer Kollege.

Doch durch Transformation des Calvinismus in das damals führende Holland, später in die Weltmacht des englischen Empire, kippte die totale Determiniertheit um in eine außerordentliche Dynamik der Einzelpersönlichkeiten. Die Vorherbestimmten mussten sich beweisen, dass sie ihr Leben sehr wohl selbst verdienen konnten. Zuerst war ihr finanzieller Reichtum nur eine Art prognostisches Indiz für ihre Seligkeit, spätestens in Gods own Country begann der weltliche Erfolg identisch zu werden mit dem himmlischen.

Während das Luthertum in politischer Bedeutungslosigkeit versank, konnte sich der Calvinismus in den Weltmächten Holland und England zur absoluten Verdienstreligion mausern. Vergessen wir nicht, dass die frühesten Aufklärer in Holland und England tätig waren. Unter dem Einfluss selbstbewusster Persönlichkeitsideen kippte die Passivität der Prädestination ins blanke Gegenteil um: Du allein bist deines Glückes Schmied. Jeder kann alles erreichen, es hängt nur von seinem Willen und seiner Leistung ab.

Obgleich beide protestantischen Religionen Anhänger der augustinischen Vorherbestimmung waren, entwickelten sich Luthertum und Calvinismus in verschiedenen politischen Umwelten zu diametral verschiedenen Leistungs-Lebensentwürfen. Absoluter Passivismus wurde zum absoluten Aktivismus.

Die Stufe des Dealens mit dem Himmel scheint bei den Selfmademen überwunden. Sie haben sich zu Masters of Universe aufgeschwungen. Schon hienieden beweisen sie ihre Gottähnlichkeit, als ob alles nur von ihrer Leistung abhinge. Hieß es bei Luther sola fide (allein durch den Glauben), heißt es bei Bill Gates sola pecunia (allein durch den Mammon).

An dieser Stelle entstand der Wallstreet-Finanzkapitalismus. Er muss nichts mehr produzieren, weil er mit niemandem mehr tauschen muss. Die amerikanischen Milliardäre brauchen keine Dealpartner mehr, ihr Kapital vermehrt sich durch Selbstbestäubung. Geld heckt Geld. Es ist die höchste Stufe des Mammonismus, der nur sich selber benötigt, um sich, mit sich selbst fortzeugend, ins Unendliche zu vermehren.

Man kann auch sagen: der amerikanische Finanzkapitalismus hat die höchste Stufe der Entwicklung erreicht: die Erschaffung aus dem Nichts. Wie sagte jener Tycoon? Geld kann man aus Dreck machen, Dreck ist Symbol für Nichts.

Wo steht die deutsche Mentalität, abgelesen an der Verwüstung ihres Strafrechts? Das juristische Dealen haben die Deutschen von den Amerikanern gelernt. Kaum ein Hollywoodschinken, der einen Angeklagten nicht vor die Frage stellte: freiwilliges Schuldbekenntnis, honoriert durch eine mildere Strafe – oder störrisches Beharren auf einer ominösen Wahrheit, vielleicht mit Abweisung jeder Schuld, aber mit dem Risiko einer schrecklichen Strafe.

Hier geht der Deal nicht mehr um Geld, sondern um Wahrheit. Das Geld kann nicht nur Emotionen, sondern auch das Denken der Menschen kaufen. Eine unabhängige Wahrheit gibt es im amerikanischen Pragmatismus nicht. Wahrheit muss hergestellt werden. Man kann sie daran erkennen, ob sie wirkt. Was keine Wirkung zeigt, existiert nicht. Also kann juristische Wahrheit im Gerangel der Meinungen hergestellt werden.

Wahrheit ist das Ergebnis eines Fights in einer Arena, vergleichbar der ökonomischen Arena. Die stärkste Meinung, das stärkste Produkt, der stärkste Tycoon: sie alle setzen sich in der Konkurrenz durch. Das Ergebnis jedes Getümmels ist ein Gottesbeweis. Bei den Deutschen war es der Krieg, der den Willen des Höchsten beweisen sollte, bei den Amerikanern ist‘s das Getümmel des wirtschaftlichen Wettbewerbs. Endsieger ist der Liebling der Vorsehung.

Das Dealen um Wahrheit ist ein Rückfall der westlichen Kultur um mehr als zwei Jahrtausende. Zur Zeit des Sokrates wurde der Streit um die Wahrheit ausgetragen. Zwischen jenen, die die Wahrheit suchten und jenen, die sich von der Wahrheitssuche verabschiedet hatten. Es waren die Rhetoriker unter den Sophisten.

Nehmen wir Gorgias, den Dialogpartner des Sokrates. Bei ihm sehen wir eine endgültige Absage an die Philosophie. Er verzichtete auf eine objektive Erkenntnis der Dinge, verabschiedete sich von der Wahrheit und begnügte sich mit der Wahrscheinlichkeit. Möglicherweise war es so, Genaues werden wir nie wissen: also lasset uns um die Wahrheit kungeln.

Gorgias entsagte der Philosophie und entschloss sich, die Kunst der Rede zu lernen, deren gewaltige Wirkung er schon an seinem Meister Empedokles beobachten konnte. Worin bestand die Wirkung der Rhetorik? Man lernte bei ihr, „Wahrscheinlichkeit höher zu schätzen als die Wahrheit und durch die Kraft des Wortes das Kleine groß und das Große klein erscheinen zu lassen.“

Das deutsche Recht ist auf die Stufe der wahrheitsverachtenden gorgianischen Rhetorik zurückgefallen. Unter den ständigen ecclesiogenen Attacken gegen die autonome Wahrheit der Heiden ist die Kategorie Wahrheit endgültig von der Agenda der Moderne gestrichen. Wahrheit kann hergestellt werden. Sie ist Resultat rhetorischen Mauschelns und Dealens in der Arena, in der sich stets die Stärksten durchsetzen.

Bei Gorgias wurde Rhetorik zur Meisterin der Überredung. Heute würde man von Manipulation sprechen. Gorgias war sich bewusst, so formuliert es Nestle, „seinen Schülern mit der Redekunst eine scharfe und gefährliche Waffe in die Hand zu geben, die man zu guten und zu schlimmen Zwecken gebrauchen könnte, ähnlich wie Gifte zur Tötung oder zur Gesundung von Menschen dienen können.“

Für Gorgias selbst stand noch fest, dass er seine Kunst nur in „gerechter Weise“ einsetzen würde. Karlsruhe scheint zu glauben, dass deutsche Richter oder Staatsanwälte ihre rhetorischen Dealfähigkeiten wie Gorgias nur zu „gerechten Zwecken“ einsetzen werden. Das ist keine idealistische Naivität mehr, das ist eine verzweifelte Bankrotterklärung.