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Mittwoch, 19. Juni 2013 – Vom Moralisieren des Pöbels

Hello, Freunde der Meritokratie,

in einer Aristokratie herrschen die Besten und Stärksten von früher. In einer Meritokratie herrschen die Besten von heute. Für Platon waren die Besten die Weisen, die das Volk beherrschen sollen: die Urform des Faschismus.

Wer bestimmt, wer die Besten sind? In einer Demokratie das Volk, in einer Meritokratie diejenigen, die sich selbst für die Besten halten. Das geht nur durch Macht. Das Beste durch Macht ist die Kurzdefinition einer totalitären Macht.

Totalitär kommt von total, dem Ganzen. Wer das Beste für das Ganze will und seinen Willen durch Macht erzwingt, ist totalitär. Katholisch, die Übersetzung des Totalen ins Griechische, heißt soviel wie: das Ganze betreffend. Der Katholizismus will das Beste für das Ganze – durch Macht. Durch Verheißung ewiger Seligkeit oder Androhung ewiger Strafen. Der dogmatische Katholizismus ist eine totalitäre Einrichtung.

In ehrgeizigen Gesellschaften hält sich jeder für den Besten. In unterwürfigen und religiösen Gesellschaften halten die meisten jene für die Besten, die sich selbst als die Besten ausgeben und sich als Gesandte eines göttlichen Willens bezeichnen.

Sind Demokraten fähig, die Besten auszuwählen? Ist der Pöbel nicht dumm? Wie können Dumme und Unfähige die Besten aussuchen?

Gläubige halten ihren Gott für den Besten, der sie lenken und leiten soll; sie wünschen sich eine Theokratie. Sei es durch Gott persönlich, wie bei der Wanderung der Kinder Israels durch die Wüste, wo Gott das auserwählte Volk mit einer Feuerwolke leitete. Sei es durch stellvertretende Könige oder Priester. Solche

 Werkzeuge des Herrn flehen zu ihrem himmlischen Führer wie der fromme Sänger des Gospelsongs:

„Psst! Jemand ruft meinen Namen. Mein Herr, was kann ich tun? Herr, nimm mich, damit ich die Arbeit für dich tue. Salbe mich und mein Leben, fülle mich ganz. Ich habe eine Aufgabe in deinem Dienst. Du kannst mich verwenden, damit du verherrlicht wirst.“

Du kannst mich verwenden, wie Du willst. Benutze mich, beute mich aus, dann wirf mich weg. Der Heilige des Evangelii sagt es unübertrefflich klar:

„So sollt auch ihr, wenn ihr alles getan habt, was euch befohlen war, sagen: Wir sind unnütze Knechte; wir haben nur getan, was wir zu tun schuldig waren.“ An Stelle der Knechte könnten auch Mägde stehen. Wie das folgende Beispiel eines Magd-Briefes zeigt, der erst jetzt in den Archiven gefunden und in französischen Medien veröffentlicht wurde:

Benutze mich so lange, wie es dir passt und wie es deinem Handeln entspricht. Wenn du mich brauchst, benötige ich deine Führung und Unterstützung: ohne Führung wäre ich ineffizient, ohne Unterstützung wäre ich nicht sehr glaubwürdig. Mit meiner immensen Bewunderung.“

Es gibt Benutzte erster und zweiter Klasse. Mit „dienstfertigen Ehrgeizlingen“ und Tageskarrieristen will die Schreiberin der Zeilen nicht verwechselt werden: „Ich hege keinerlei persönliche politische Ambitionen, und ich habe nicht den Wunsch, ein dienstfertiger Ehrgeizling zu werden wie viele in deinem Umkreis, deren Loyalität neueren Datums und oft nicht von Dauer ist.“

Die Zeilen sind von einer Dame namens Christine Lagarde, derzeitige IWF-Präsidentin und eine der mächtigsten Frauen der Welt. Sie schrieb ihr Loyalitätsbriefchen, als sie noch Ministerin unter Sarko war.

Was schließen wir daraus? Dass man eine bestimmte unnütze Knecht- und Magd-Mentalität mitbringen muss, um nach oben zu kommen. Dass die elegante Madame Lagarde Katholikin ist und Sarko der Stellvertreter Gottes für sie gewesen sein muss.

(Rudolf Balmer in der TAZ)

Es ist nicht neu, aber in vornehmen Kreisen in Vergessenheit geraten: wer nach oben will, muss buckeln können. Offiziell würde sich kein Karrierist einen Buckler nennen, auch wenn er weiß, dass ohne eine bestimmte Biegungsfähigkeit des Rückgrats niemand bei den Meritoren – den leistungsstarken Menschen – ankommen wird.

Nun verstehen wir die Botschaft der SPD-Meritoren namens Schröder, Münte oder Clement, wenn sie ihren ehemaligen Proletengenossen empfehlen, sich nach oben durchzukämpfen. Sie fordern sie auf, genau so zu buckeln, wie sie selbst ein Leben lang getan haben, damit sie nicht die einzigen Bücklinge in der Partei sind. In der Schönrednersprache ihrer disziplinierten Partei lassen sie sich Parteisoldaten nennen.

Wenn alle Welt schlecht ist, falle ich nicht auf, wenn ich auch schlecht bin. Steigt buckelnd nach oben, heißt: seid solidarisch mit uns im Kriechen, damit wir nicht die einzigen Schleimbeutler sind. Streng genommen – leider moralisierend, was kein Zeichen merokratischer Eleganz ist – sind Karriereverweigerer die einzigen Menschen mit aufrechtem Gang.

Blochs Lieblingsausdruck ist verschollen. Warum wohl? Weil die SPD als Proletenpartei früher die Partei des aufrechten Gangs war, heute aber wie die zwei Ganoven auf Klees Bild daherkommt: „Zwei Männer, einander in höherer Stellung vermutend“.

Mit anderen Worten, wer sich nicht verbiegen lassen will, muss unten bleiben. Unten ist das wahre Oben. (Da unsere Leserschaft allesamt zur neudeutschen Meritokratie gehört, buckeln wir jetzt ein ganz klein wenig und sagen: Liebe Brüder und Schwestern, ihr seid die Ausnahmen von der Regel.)

Dass Aufgestiegene die Schicht hassen, aus der sie kamen, ist nicht schwer zu verstehen. Unten zu sein ist ein Makel, wer will schon aus einer Schicht kommen, die ein einziger Makel ist.

Der phänomenale George Orwell hat in seinem phänomenalen Buch „1984“ in wenigen Sätzen erklärt, warum zur Macht gekommene Unterschichtler (gilt auch für Mittelschichtler) ihre zurückgelassenen Freunde und Familien als ehrgeizlose und verlotterte Knechte behandeln. Im verbotenen Buch des Dr. Goldstein lesen wir:

Während langer Zeitspannen scheinen die Oberen sicher an der Macht zu sein, aber früher oder später kommt immer ein Augenblick, in dem sie entweder ihren Selbstglauben oder ihre Fähigkeit, streng zu regieren, oder beides verlieren. Dann werden sie von den Angehörigen der Mittelklasse gestürzt, die die Unteren auf ihre Seite ziehen, indem sie ihnen vormachen, für Freiheit und Gerechtigkeit zu kämpfen.

Sobald sie ihr Ziel erreicht haben, drängen die Angehörigen der Mittelklasse die Unteren wieder in ihre alte Knechtschaftsstellung zurück, und sie selber werden wie die Oberen. Bald darauf spaltet sich von einer der anderen Gruppen oder von beiden eine neue Mittelgruppe ab, und der Kampf beginnt wieder von vorne.

Von den drei Gruppen gelingt es nur den Unteren nie, auch nur zeitweise ihre Ziele zu erreichen. … Keine Steigerung des Wohlstandes, keine Milderung der Sitten, keine Reform oder Revolution hat die Gleichheit der Menschen jemals auch nur um einen Millimeter nähergebracht. Vom Gesichtspunkt der Unteren aus hat kein geschichtlicher Wandel jemals viel anderes bedeutet als eine Änderung der Namen ihrer Herrn.

Man hat den Orwell-Roman immer als schreckenerregende Zukunftsvision dargestellt. Er zeigt die blanke Gegenwart. Die Verlegung der grässlichen Handlung in die Zukunft soll nur dazu dienen, die Gegenwart aus geziemendem Abstand zu betrachten. Die SPD-Oberen müssen das Buch nie gelesen haben, sonst könnten sie ihr Aufstacheln zum Buckeln nicht mehr ernst meinen – es sei, sie wären Zyniker geworden, wozu ihnen aber die Intelligenz fehlt.

(Nur nebenbei: indem die SPD und die Grünen sich hartnäckig weigern, mit den Schmuddelkindern von der Linken zu koalieren, erklären sie den Wählern eindeutig, dass sie nicht regieren wollen. Dass die SPD am liebsten wieder bei Mama Angie an der Küchenschürze hinge. Und die Grünen auf ein zweites Fukushima-Wunder warten, damit sie irgendwie an die Macht gespült werden. Selbstredend wären die Linken in Nullkommanix regierungskompatibel, wenn man sie nur an den Napf ließe. Sind sie nicht realitätstüchtige Deutsche, die ihren Pragmatismus schon in vielen Länderkoalitionen bewiesen haben?

Dass die Bedingungen in Land und Bund nicht zu vergleichen wären, ist die Erfindung gewisser bürgerlicher Politologen, die ihrem Berufsbegriff alle Ehre machen: sie logen, die Politologen. Wegen der längst vermoderten Akte „Oskar Lafontaine“ absurde Berührungsallergien zu entwickeln und das Land sehentlich in eine dauerhafte Sackgasse zu manövrieren, ist schandbar.)

Womit wir elegant bei Nicolas Berggruen wären, einem vielfachen Milliardär, der gerne marode Unternehmen retten würde, um viele Arbeitsplätze zu erhalten – wenn es nur nicht so furchtbar langweilig wäre, solche idealistischen Vorhaben in die Tat umzusetzen. Viel lieber will er mit Hilfe altgedienter – oder ausrangierter – elder Statesmen die Welt erretten, indem er sie in so genannten Think-Tanks (zu deutsch: Denkpanzern) zusammenführt.

(Denkpanzer sind transhumane Superintelligenzmaschinen, die nicht nur selbsregulierend jede natürliche Umgebung platt machen, sondern stellvertretend für ihre Eingeschlossenen denken.)

Unter ihnen der smarte Tony Blair und der weniger smarte Gerhard Schröder, der auch das neue Buch des superreichen Weltenretters mit einem passenden Vorwort versehen hat.

In dem Buch wird die Demokratie mit erlesenen Worten madig gemacht. Volksherrschaft sei vermutlich nicht überlebensfähig im Wettbewerb mit ach so tüchtigen antidemokratischen Systemen wie China und bräuchte dringend eine frische Blutzufuhr aus „meritokratischen Elementen“. Tüchtige Fachleute müssten mitregieren können, damit die inkompetenten Gewählten keinen Staatsbankrott hinlegen.

Wie können Ungewählte in Demokratien mitreden? Antwort: natürlich muss man die Verfassung ändern. Wer soll die Verfassung ändern, wenn dies bedeutet: Selbstamputation der Demokratie? Antwort: alle Meritokraten in Kirchen, Wirtschaft, Politik und in den Medien, die Propaganda für dieses demokratiefeindliche Buch machen, ohne es in Grund und Boden zu stampfen. Zugleich mit dem Buch den Emporkömmling Schröder, der in seinem Vorwort schreibt:

… die unkonventionellen Vorschläge der Autoren regten dazu an, über die Zukunft eines guten Regierens im 21. Jahrhundert zu diskutieren, «frei und ohne Scheuklappen»“. Meritokrat Schröder will immer noch mitregieren, die Mühen der Wahlen aber dem heulenden Muttersöhnchen Steinbrück überlassen, der stets die Rolle des Gegenteils spielen muss. Ist das gerecht?

Im Gegensatz zu den smarten Herren der oberen Buckler- und Kriecherschicht will sich Ralf Boes nicht verbiegen lassen. Sein aufrechter Gang stößt auf schärfste Kritik bei der nach unten tretenden und nach oben buckelnden BILD, die ihn großformatig als frechsten Hartz4-Schnorrer der Republik abmeiert. (BILD)

Allein mit seinem Namen hat sich der studierte Philosoph und ausgebildete Krankenpfleger Boes keinen Gefallen getan. Wie kann man in der Gesellschaft ankommen, wenn jeder nur bös versteht? Boes lebt, laut BILD, seit Jahren auf Staatskosten, lehnt sämtliche Jobangebote ab – und prahlt damit auch noch im staatlich finanzierten TV, die auch nichts anderes tun, als auf Staatskosten ihre angeblich demokratie-fördernden Dienste anzubieten. Nichts anderes tut Boes, der in seiner Freizeit politisch-philosophische Arbeit betreibt, sich um die Einführung des BGE bemüht und sich damit um unser Gemeinwesen verdient macht.

Was ist der Unterschied zwischen Boes und den Öffentlich-Rechtlichen? Letztere werfen das Geld zum Fenster raus, um die Politik der Mächtigen zu sichern. Als Sokrates wegen Erfindung neumodischen Krams, Verführung der Jugend zu eigenständigem Denken, von den – damals reaktionären – Athenern angeklagt wurde, wies er nach, dass sein Wirken dem Wohl der Polis diente, die Ankläger seine scharfsinnigen Argumente nicht widerlegen hätten.

Deshalb beantragte der „Klügste aller Athener“ in seiner Verteidigungsrede nicht nur, dass die Todesstrafe aufgehoben werde, sondern eine öffentliche Auszeichnung für sein politisch-philosophisches Tun in allen Ehren erfolge.

Wir fordern eine öffentliche Entschuldigung von Merkel für Boes. Zugleich fordern wir das BGE für alle Menschen, die beileibe nicht nichts tun, sondern frei entscheiden wollen, welche Arbeit sie für sich und die Gesellschaft leisten können. Das blanke Leben in einem der reichsten Staaten der Welt darf nicht länger unter dem Damoklesschwert zermürbender Sorgen stehen.

Die BILD muss wegen Volksverhetzung angezeigt werden. Hartz4-Menschen sind keine Schnorrer – wie Kirchen, TV-Anstalten, Manager und Zocker –, sondern fristen ihr Leben im Schweiße der Demütigung, indem sie, so gut sie können, für ihre Lieben da sind.

Eins muss man den buckelnden Meritokraten sagen: die Unteren buckeln nicht. Ob die Kinder der Unteren unmoralischer sind als die der Oberen, die das Bücken schon in der Kinderstube eingebleut bekommen, darf bezweifelt werden. Leider gibt’s zu diesem Thema keine aussagekräftigen Umfragen. Die Demoskopen gehören selbst zur Schicht der Rückgratgeschädigten.

Pardon für das unerträgliche Moralisieren und das platte ressentimenthafte Agitieren. Ich ziehe alles zurück und behaupte das Gegenteil – nach Lektüre des FAZ-Artikels über die Verleihung des Börne-Preises an den Anti-Sokratiker Peter Sloterdijk, der vor kurzer Zeit keine gesetzmäßigen Steuern mehr zahlen wollte. Sondern monatlich den Schwachen und Kranken der Republik in ungezwungener Liebestat seine Sanftmut und Lindigkeit zukommen lassen wollte.

Für solche Putschversuche der Umwandlung einer gesetzmäßigen Polis in eine Herrschaft gnadenreicher Nächstenliebe erhält man hierzulande den Börne-Preis. Wie jeder weiß, war Börne der brillante Verfechter der Demokratie, die zu seinen Zeiten von den meisten Eliten mit Abscheu vor dem Pöbel abgelehnt wurde.

Unter den Verächtern des Volkes ein gewisser Geheimrat von Goethe, der von Börne mit bewundernswertem Freimut in kritisiert wurde. Mit dieser Haltung hätte Börne heute nicht mal die Chance, im Breisgauer Wochenblatt einen Artikel unterzubringen. Den deutschen Bücklingen, besonders von der schreibenden Zunft, schrieb er ins Stammheft: Im Dienste der Wahrheit genügt es nicht, Geist zu zeigen, man muß auch Mut zeigen.

Diesen Mut gibt’s heute weit und breit nicht. Besonders nicht bei dem Geehrten, der mit wolkenreichen Formulierungen dazu beiträgt, die Oberen vor den Angriffen der Abgehängten zu schützen. Viel akademisches Tandaradei zum Amüsement jener, die sich schnell langweilen. Wofür wurde der Gelobte – nach Meinung seines Lobredners – ausgezeichnet?

„Drei geistige Haltungen habe sich Sloterdijk indes um der Weltoffenheit willen verboten: den Idealismus, den Moralismus und das Ressentiment.“ (Lorenz Jäger in der FAZ)

Was ist nach Sloterdijk ein Ressentiment? Wenn man als idealistischer Weltverbesserer nicht vom moralisierenden Vorurteil loskommt, man könne die Welt verbessern. Warum sollte der Vielgerühmte die Welt verbessern? Nach dem Börne-, Cicero-, Sigmund-Freud-, Ernst-Robert-Curtius-, Lessing- und vielen anderen Preisen winken noch viele Ehrungen, die man hierzulande mit „Schäumen- und Blasenbildungen“ (frei nach einem seiner Bücher) erringen kann.

Die Unteren müssen sich mit dem Ranking bei Dieter Bohlen begnügen. Die Geistesriesen der Republik dürfen die noch nicht völlig gekrümmte Moral des Pöbels dem Gelächter der Klugen und Weisen preisgeben.