Kategorien
Tagesmail

Mittwoch, 15. Mai 2013 – Heiliges Europa

Hello, Freunde Frankreichs,

warum sind die Franzosen so pessimistisch und europa-allergisch geworden? Fürchten sie die wirtschaftliche Übermacht ihrer rechtsrheinischen Nachbarn? Warum wollen führende Intellektuelle sich vom „protestantisch-angelsächsischen“ Europa zurückziehen, um mit einem „empire latin“ – einem Reich aus Frankreich, Italien und Spanien unter katholischer Dominanz – zu kokettieren?

Solche Überlegungen hatte schon bei Kriegsende der aus Russland stammende französische Philosoph Alexandre Kojève angestellt. Nun hat der italienische Philosoph Giorgo Agamben den Essay von Kojève in der französischen Zeitung Libération erneut veröffentlicht und zur Debatte gestellt. Vor Jahren bereits hatte Nicolas Sarkozy eine Mittelmeerunion vorgeschlagen, die gegen die Deutschen (contre les allemands) gerichtet sein sollte.

Im Text des Ex-Marxisten Kojève war der Begriff Demokratie nicht vorgekommen. Kritik am spanischen Diktator Franco und am Kolonialismus der Regime suchte man vergeblich. Religionsfreiheit unter vatikanischer Dominanz war nicht vorgesehen. Diese Rückwendung in eine mediterrane Theokratie soll Frankreichs Zukunft sein?

Allmählich ahnt man, welche Kräfte hinter den mächtigen Demos gegen die Gleichberechtigung der Schwulen stecken könnten. Die katholische Kirche Frankreichs – vor kurzem noch eine der liberalsten – wittert Morgenluft und signalisiert die Rückwendung ins selige Mittelalter. Auch in Frankreich sind die Zeichen auf Wiederkehr der Religion gestellt. Die Nachkriegszeiten mit Aufklärung, Versöhnung der Völker und Demokratie haben ihre Strahlkraft verloren.

Es wiederholt sich, was sich kurz nach der Französischen Revolution

ereignete: die adligen und klerikalen Kräfte schlugen zurück und drehten das Rad der Ereignisse zurück in den Feudalismus. In Europa begann das Zeitalter der Romantik. Das nachrevolutionäre Frankreich wurde zu einer vertrackten Mischung aus clarté und esprit, ein bekanntes Wörtchen, das damals eher mit heiligem Geist übersetzt werden musste, als mit frei schwebendem Einfallsreichtum.

Frankreich und Deutschland, diese komplementären Zwillinge, die nichts miteinander anfangen können, haben die Karten getauscht. Vor dem Krieg machte Deutschland seinen irrationalen, gegen den Westen gerichteten Egotrip („1789 gegen 1914“). Nun mosern die Franzosen und wollen im europäischen Reigen nicht mehr mitspielen, weil sie die Führung gegen die Deutschen verloren haben.

Die gruppendynamischen Wechselbeziehungen haben sich neu sortiert. Während vor dem Krieg Frankreich an der Seite Englands und Amerikas zum modernen Westen gehörte, gegen den die Deutschen zu Felde zogen, hat sich seit Kriegsende Deutschland den angelsächsisch-kapitalistischen Großmächten angenähert und ist dabei, Frankreich in die Liga der Verlierer zu stoßen. Frankreich beginnt, sich schmollend ins katholische Mittelmeerlager zurückzuziehen.

(Dass im Fußball ein Wachwechsel eintrat und die Vorherrschaft des spanischen Fußballs von deutschen Vereinen gebrochen wurde, begrüßten die Engländer mit überraschendem Wohlwollen: „Unsere angelsächsischen Cousins“ kehren nach Hause zurück, kommentierten englische Gazetten das Europacup-Endspiel im Londoner Wembley-Stadion. Das konnte man im empire latin nur mit wütender Enttäuschung zur Kenntnis nehmen.

Man weiß, dass Merkel mit Hollande nicht kann. Dass sie aber Cameron zu einer privaten Feier einlud und ihren französischen Kollegen nicht, das war mehr als eine provokative Petitesse, das war der Beginn einer offiziellen Animosität, die nichts Gutes für Europa verheißt. Wenn die beiden führenden Nationen – Mama und Papa der Rasselbande – nicht mehr miteinander können: wer soll die Familie noch zusammenhalten?)

Deutschland ist dabei, Frankreich aus der angelsächsischen Verwandtenlinie herauszubrechen. Nur noch bei militärischer Interventionswilligkeit stehen die Franzosen den weltführenden Angelsachsen näher als das unentschieden-wankelmütige Deutschland. Aber auch diese letzten Reste mangelnder Militärpräsenz werden die Deutschen mit Sicherheit überwinden. Sind sie doch schon dabei, ihre Krauss-Maffei-Panzer und U-Boote wie einen warmen Frühlingsregen in der Welt zu verteilen.

Seit der Grüne Joschka Fischer mit Auschwitz-Assoziationen die Tür öffnete zum ersten deutschen Angriffskrieg gegen Serbien, sind die Tage des dogmatischen Nachkriegspazifismus gezählt. Afghanistan war nur militärisches Probehandeln, verglichen mit all den attraktiven Kriegseinsätzen, die in Zukunft nötig sein werden, um knappe Ressourcen für die deutsche Industrie zu sichern. Imperialer Wohlstand verpflichtet zur Dauermilitanz.

Die Deutsche Bewegung als Abwendung von der Moderne beginnt französisch zu sprechen. Hier erkennen wir die projektive Weitschweifigkeit des Begriffes Moderne. Moderne ist nicht nur Demokratie und Menschenrechte, sie ist wirtschaftlicher Erfolg und technischer Fortschritt. Wenn ein Riesenland wie China modern wird, heißt das nicht, dass es zur Demokratie übergeht. Sondern nur, dass es zu einem ökonomischen und technik-hungrigen Dinosaurier herangewachsen ist.

Wer in deutschen Feuilletons am vehementesten die Moderne vertritt – gegen grüne Fortschrittsfeinde etwa –, der mahnt bestimmt keine Mängel der Demokratie an. Im Gegenteil: Erfolg und Größe werden immer wichtiger. China, der Koloss, wird zunehmend als Vorbild beschworen. Die Demokratie bleibt auf der Strecke.

Warum hat der demokratische Westen immer mehr Probleme mit der Propagierung der Menschenrechte? Weil sie allmählich im finalen Kampf um Naturschätze und Weltbeherrschung immer mehr als Hindernis empfunden werden. Wer von Moderne spricht, ohne Demokratie in den Mund zu nehmen, sollte fürder vom Verfassungsschutz beobachtet werden.

Über die aktuelle französische Provokation contre les allemands hat Wolf Lepenies in der WELT einen empörten Artikel geschrieben. Wir erinnern uns: der Erste Weltkrieg wurde von vielen polemischen Artikeln vorbereitet, die von führenden Gelehrten der jeweiligen Länder gegeneinander abgefeuert wurden. Auf deutscher Seite gab es keinen Professor von Rang, der nicht schäumend gegen die Krämer von Albion und das degenerierte Lust- und Lotterleben der „Welschen“ zu Felde gezogen wäre.

(Wolf Lepenies in der WELT)

„Das Projekt eines „Empire latin“ gehört in die Rumpelkammer der politischen Ideengeschichte.“ Lepenies bewundert zwar die prophetische Fähigkeit Kojèves, unmittelbar nach Kriegsende das Ende der nationalen Staaten vorauszusehen und einen internationalen Verbund gefordert zu haben. Doch leider sollte das auf Kosten Deutschlands geschehen.

Hassobjekt ist Deutschland. Kojève propagiert einen „lateinischen“ Morgenthau-Plan. Deutschland soll in erheblichem Maße entindustrialisiert werden. Die deutsche Landwirtschaft muss in Zukunft ihre Düngemittel aus Frankreich importieren. Jede Stahlproduktion wird verboten. Deutschland, die „Kohlengrube des Lateinischen Reiches“, wird die Existenz der französischen Stahlindustrie sichern. Zur Ironie der Geschichte gehört es, dass die von Kojève vorgeschlagene „Eisen-Kohle-Konvention“ die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl vorwegnimmt, aus der die EG und dann die EU hervorgehen wird.“

Dabei war Kojève – bewunderter Lehrer der Generation Sartre-Beauvoir – für seine Hegel-Interpretationen bekannt geworden, mit denen er das Ende der Geschichte am Horizont ausbrechen sah. Ein Zustand ohne Herren und Knechte. Nach dem Fall der Mauer sah auch der amerikanische Soziologe Fukuyama das Ende der Geschichte nahe herbeigekommen. In der Welt habe sich die Demokratie irreversibel durchgesetzt. Kriege zwischen Demokratien könne es keine geben. Die pax americana konnte zur allgemeinen pax terrena expandieren.

Heute wissen wir, die Ausrufung der demokratischen Utopie war zu früh – und entsprach so wenig dem messianischen Endzeitdenken amerikanischer Biblizisten wie dem Paradies- und Utopieverbot der Europäer. (Paradies, das arkadische Schäferleben, ist langweilig und verkümmert die menschlichen Antriebskräfte, welche zur Fortführung des technischen und wirtschaftlichen Aufschwungs notwendig sind.)

Hegel deutete den Konflikt zwischen Herr und Knecht als unerklärten Kampf um gegenseitige Anerkennung. Hegel muss Adam Smith gelesen haben, der die Sucht nach Reichtum als Mittel bezeichnete, um Anerkennung von seiner Mitwelt zu erlangen. Kojève sah die welthistorische Chance, dass nach der Niederlage der Faschisten der Kampf um Anerkennung zwischen Oben und Unten zu einem sinnvollen Ende geführt werden könnte.

„Die wechselseitigen Anerkennungskrisen zwischen Herr und Knecht führen, so Kojève, zu einem Verschwinden des Herrn, während der Knecht sich allmählich zum Herrn über die Natur aufschwingt. Wie Hegel sieht Kojève das Ende der Geschichte mit dem Napoleonischen Europa erreicht, einer universellen und homogenen Zivilgesellschaft, die gänzlich auf wechselseitiger Anerkennung gleichberechtigter Citoyens fußt. Im Hegelschen Modell endet die Geschichte mit dem Sieg der Ideen der Französischen Revolution in der Schlacht bei Jena. Seither gibt es keine neuen politischen Ideen mehr, nur noch ihre Verbesserung und Vertiefung. Das Zeitalter des historischen Menschen und des politischen Handelns im starken Sinne ist zu Ende. Fortan verwirklicht sich der Mensch nur mehr in der Kunst, in der Liebe und im Spiel, und kann darin zu seiner ursprünglichen, durch die Zivilisation geläuterten Tierhaftigkeit zurückkehren. Im Gegensatz zu Marx ist für Kojève der Endzustand der geschichtlichen Entwicklung nicht sozialistisch oder kommunistisch, sondern liberal-kapitalistisch – eine These, die in jüngerer Zeit durch die an Kojève geschulte Hegel-Lektüre Francis Fukuyamas aktualisiert und kontrovers diskutiert wurde.“ (Wiki)

Keine nennenswerten Krisen zwischen den Nationen, schon gar keine Kriege: der Mensch der Zukunft beschäftigt sich nur noch mit Kunst, Liebe und Spiel. Eine wunderschöne Vorstellung. Doch wehe, in welchem Rahmen das arkadische Schäferleben sich entwickeln soll: im Rahmen des Kapitalismus.

Kojève war knapp dem Leninismus entkommen. Sein Hass auf die real existierenden Sozialisten muss so groß gewesen sein, dass seine Reaktionsbildung nur noch denken konnte: alles ist gut, was nicht sozialistisch-leninistisch ist.

(Übrigens eine ähnliche Reaktionsbildung wie bei späteren DDR-Dissidenten, die – in der BRD angekommen – das Kind mit dem Bade ausschütteten, alles „Linke“ als Sozialismus verdammten und alle neoliberale Heilsformeln blind als ihr neues Konvertitendogma predigten. So Bundespräsident Gauck, der das Wort Freiheit in allen Tonarten skandieren konnte und jede soziale Absicherung als versteckte Honeckerei verdammte. So bei seiner Landsfrau Merkel, die als junge Neubekehrte den Westlern beibringen wollte, dass nur der Wettlauf zum Money der sicherste Weg zum Erfolg sei.

Heute haben Gauck und Merkel ihren Konvertitenehrgeiz abgekühlt. Was bei Merkel zu ihrem berühmten Durchwursteln führte. Sie weiß einfach nicht, wo sie steht. Als Kanzlerin hat man wenig Zeit, die wichtigsten Bücher von Rüstow zu lesen, um den Unterschied herauszukriegen zwischen angelsächsischen „Paläoliberalen“ – wie Rüstow seine Gegner Hayek und Milton Friedman nannte – und dem, was er unter Neoliberalismus verstand. Im Gegensatz zum machtsüchtigen Altliberalismus einen gleichmäßig verteilten, demokratischen Wohlstand, wo es keine Monopole oder ähnliche Machtgebilde geben kann, die man heute als too big to fail bezeichnen würde. Die damalige Schweiz mit selbstbewussten Handwerkern und Bauern ohne naturverschandelnde und menschenfeindliche Riesenstädte war das Vorbild Rüstows.

Sein Name ist verschollen, weil die „soziale Marktwirtschaft“ von Herz-Jesu-Marxisten wie Geißler auf die fromme Freiburger Ordoschule zurückgeführt wird. Während der scharfe Christentumskritiker Rüstow in der Versenkung verschwinden musste, um das Licht der katholischen Soziallehre nicht zu verdunkeln.

Deutschland hat einen wunderbaren linken und demokratischen Ökonomen vorzuweisen – der Vater Rüstows war der erste linke Offizier, der dem preußischen Adel entstammte – und kein Deutscher kennt ihn. Selbst Fachökonomen erlauben sich den Luxus, ihn vollständig zu ignorieren.)

Kojève musste dem Kapitalismus gegenüber blind gewesen sein. Anders kann man sich nicht erklären, dass er just im darwinistischen Raub- und Beutesystem das Herr-Knecht-Problem durch gegenseitige Anerkennung gelöst sehen konnte. Dass er in seinem antideutschen empire latin sich mit Franco verbrüdern und dem Katholizismus eine faschistische Dominanz zuweisen wollte, müsste jedem klar machen, dass der große Hegel-Kenner von Demokratie keine Ahnung haben konnte. (Es wäre interessant, Kojèves Spuren im Werk von Sartre und Beauvoir ausfindig zu machen.)

Lepenies’ Empörung über Giorgio Agamben, der ausgerechnet in einer tiefen Krise den antideutschen Kojève-Artikel in einer französischen Gazette abdrucken lässt, ist nachvollziehbar. Doch die Deutschen sollten mehr verstehen als sich verständnislos empören. Wie konnte es zu diesem Zerwürfnis kommen? (Noch nicht lange her, dass ein französischer Intellektueller, Philippe Delmas, ein Buch schrieb: Über den nächsten Krieg mit Deutschland.)

Wie kann das Abendland zu einer geistigen Einheit werden, wenn es kein innereuropäisches Gespräch, keinen Familienstreit über die Grundlagen Europas führt? Sowenig es einen deutsch-jüdischen Dialog gibt, so wenig gibt es einen deutsch-französischen, deutsch-englischen, deutsch-italienischen und deutsch-griechischen Dialog – um nur die wichtigsten bilateralen Verständnislosigkeiten zu nennen.

Was lernt ein deutsches Kind über französische Aufklärung? Über die italienische Renaissance? Über den Ursprung Europas in der athenischen Polis? Die deutschen Intellektuellen sind so heruntergekommen, dass sie Aufklärung mit Offenbarung in einen Sack werfen. Der Begriff Gegenaufklärung ist ihnen eine Erfindung vaterlands- und gottloser Gesellen.

Was wir gegenwärtig in ganz Europa erleben, ist das Heraufkommen einer neuen Gegenaufklärung unter Führung militanter Priester und netter Bubis, die die deutschen Feuilletons mit himmlisch-irdischem Einheitsbrei zusabbern. (Man nehme nur das Beispiel serbischer Bischöfe, die sich wieder so mächtig fühlen, um die demokratische Mehrheitsgesellschaft offiziell mit dem Tode zu bedrohen.

Die Beispiele ließen sich beliebig fortsetzen. In Kreta, Griechenland, Rumänien, Ungarn steigt der Einfluss der Kirchen proportional mit dem Aufkommen rechtsradikaler Parteien und Gruppierungen. Die Korrespondenten unserer öffentlich-rechtlichen Staatsmedien denken nicht daran, den Faktor Christentum in Europa vergleichend unter die Lupe zu nehmen. Fast alle Medien sind vom Salz der rechtgläubigen abendländischen Denkungsart durchsäuert.

Es hat sich noch nicht herumgesprochen, dass unerledigte Probleme unter Wiederholungszwang stehen. Das trifft nicht nur für Individuen zu. Wir erleben momentan die Wiederholung des europäischen Abschieds von der Aufklärung und den Übergang in die gegenaufklärerische Romantik – was nicht bedeutet, dass Romantik in bestimmter Hinsicht nicht die Fortsetzung der Aufklärung gewesen wäre.

In Friedrich Schlegels „Lucinde“ wurde zum ersten Mal eine freie erotische Beziehung geschildert, ein außerordentlicher Affront gegen die damalige Kirchenmoral. Man höre, wie Rudolf Haym – ein überzeugter 48er – Friedrich Schleiermacher, den repräsentativen Theologen der Romantik, beschreibt. Dessen „Reden über die Religion“ wurzelten unmittelbar in seiner Polemik gegen die Aufklärung. „Ganz so scharf, ganz so wegwerfend, ganz so vornehm und vor allem ganz so in Bausch und Bogen fährt Schleiermacher gegen die Aufklärung daher. Erst in den „Reden über die Religion“ kömmt die Antithese der romantischen gegen die aufklärerische Bildung zu voll entwickelter Bestimmtheit.“ („Die Romantische Schule“)

Der romantisch-christliche Geist ist ein Spaltpilz. Bis zu den Zeiten Kants waren die europäischen Kulturen miteinander im Gespräch. Kein deutscher Intellektueller, der nicht Adam Smith oder Voltaire und Diderot gekannt hätte. Von Rousseau ganz zu schweigen, der wie ein Candystorm über Europa kam und ihn erst „zurecht gebracht“ hätte, wie Kant gesteht. Das Buch des Urvaters aller englischen Konservativen – Edmund Burke – wurde in der Übersetzung von Friedrich Gentz zu einem Gründungsbuch der deutschen Romantik.

Ab der Romantik begannen die nationalen Denker und Poeten sich links liegen zu lassen. Erst jetzt begann der verhängnisvolle Nationalismus der europäischen Vaterländer, der zwei schreckliche Weltkriege benötigte, um sich in die Luft zu sprengen. Das Ergebnis war keine Katharsis, sondern nur eine vorübergehende Lähmung aller unterirdischen Gegensätze – die jetzt wieder ihr Haupt zu erheben beginnen.

Der Heilsegoismus des Christentums führte zu einem nationalistischen Heilsegoismus, der sich immer mehr verschärfte, da er vom Himmel das Zeichen erstrebte, welche Nation wirklich auserwählt war. Der letztgültige Beweis konnte nur auf dem göttlichen Schlachtfeld der Ehre erbracht werden. Fast keine europäische Nation, die nicht das Selbstbild hatte, Gottes liebste Nation und zur Herrschaft über die Nachbarn prädestiniert zu sein. Viele sind berufen, wenige auserwählt, verdichtete sich zum eschatologischen Ranking der Nationen: nur ein Volk kann den finalen Lorbeer des Himmels erhalten.

Selbst die säkularen Franzosen kamen ohne das Prinzip Auserwähltheit nicht aus. Sie sprechen von Grandeur. Die Deutschen leben, um zu arbeiten: das ist mit amerikanischem Kapitalismus höchst kompatibel. Die Franzosen arbeiten, um zu leben.

Diese nationalen Urgegensätze hat man lange verschwiegen. Nun kommen sie wieder nach oben und vertiefen die Kluft zwischen den protestantischen Germanen und den lebenslustigen Franken. Gott soll nicht mehr in Frankreich leben?

Über die frisch aufbrechenden uralten Unterschiede der beiden Völker berichtet Berthold Seewald in der WELT.

Wenn Europa erneut zerfällt, warten die Kirchen mit weit geöffneten Armen, um der jeweiligen Nation ins Ohr zu träufeln: Du bist mein geliebter Sohn, an der der Herr sein Wohlgefallen hat.

Wer nicht miteinander sprechen kann, muss heilige Kriege gegeneinander führen – die die Romantiker im Mittelalter entdeckt hatten. Das Bild des seligen Mittelalters wurde von den Nationalsozialisten als Vision der Machtergreifung von 1933 gesehen.