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Mittwoch, 10. April 2013 – DER SPIEGEL

Hello, Freunde der Medien,

der SPIEGEL, das Flaggschiff der deutschen Publizistik, in schweren Wettern. Der Abgang der beiden Chefredakteure, die wie zwei störrische Lehrbuben gefeuert wurden, beweist die finale Hohlheit der Edelschreiber, die nichts mehr zu sagen haben. Weil der eine den Online-Dienst bezahlt haben wollte, der andere nicht: deshalb sollten die beiden sich heillos verkracht haben? (DER SPIEGEL in eigener Sache)

Der Niedergang des Magazins begann mit Stefan Aust, der sich weigerte, den allzu großen Fußstapfen seines Vorgängers zu folgen. Er schrieb keine Kommentare, um seine mangelhaften Denkerqualitäten vor der Öffentlichkeit zu verbergen. Ein überragender wacher Geist wurde von einem Apparatschik ersetzt, der dem Wochenmagazin kein Gesicht und sich nicht zu erkennen gab.

Vollends seine zwei Nachfolger bemühten sich, die Öffentlichkeit zu dominieren, ohne in den Foren der Öffentlichkeit präsent zu sein. Ein Publizist muss sich schreibend zeigen. Sein Publikum muss sich an ihm abarbeiten können. Ein guter Journalist ist ein vorbildlicher Demokrat, vom Willen beseelt, mit Argumenten das politische Geschehen mitprägen zu wollen. Je schärfer die Klinge, die er führt, je schärfer die Gegenmeinungen, die er hervorruft, damit die Leserschaft im profilierten Pro und Contra sich ihre eigene Meinung bilden kann.

Rudolf Augstein lebte von der Gunst der Stunde, die für die junge Republik von vorne begann. Nichts war selbstverständlich, alle Traditionen der Verbrechernation standen zur Disposition. Mit fast kindlicher Neugierde und scharfem Denkvermögen nutzte Augstein

den Neubeginn, bezog Stellung gegenüber jedermann, ging keinen Konsequenzen aus dem Weg – bis zum Weg in die Untersuchungshaft – und wurde zur Galionsfigur des deutschen Journalismus.

Bei der ideologischen Neugründung der Demokratie war er der Rädelsführer der Vierten Macht, die ab jetzt alles anders und besser machen wollte als die gleichgeschaltete Presse im Nationalsozialismus.

Die politisch Denkenden warteten auf den SPIEGEL-Montag, um das seltsame und ungewohnte Element der Kritik, des Muts vor Politikerthronen, in unmissverständlicher Sprache zu erleben. Der SPIEGEL-Stil, angstfrei, kess und angriffsfreudig war eine singuläre Gegenmacht gegen die Sprüchemacher der beginnenden religiösen Restauration.

Es war ein Nachholbedarf, um die totalitär vergiftete Kollektivpsyche der Deutschen auf westlich-demokratisches Niveau zu bringen. Man könnte vom Prozess der Amerikanisierung sprechen. Amerika war die mächtigste und vorbildlichste Demokratie der Nachkriegsjahre.

Die 68er-Revolte war gedanklich eine marxistische, atmosphärisch die deutsche Version der amerikanischen Hippie- und Antivietnambewegung. Demokratie konnte man bei Marx nicht lernen, eine konkrete politische Utopie nicht bei den Amerikanern.

Letztlich war Woodstock mehr das Singen der Neugeborenen im Goldenen Jerusalem als die Wiederkehr der griechischen Polis. Kein Zufall, dass Bob Dylan später Christ wurde und den Kontakt mit Priestern und Propheten suchte. Amerika war oft von christlichen Bekehrungswellen überrollt worden. Auch die Hippiebewegung blieb vom Go down Moses geprägt, wenn auch in schillernder Verpackung.

Amerikaner lieben das Wehen des Heiligen Geistes. Schnell sind sie entbrannt, schnell kehren sie zurück zum Moneymachen, das sie als Wirkung des heiligen Geistes verstehen. Den Charismatiker Obama bejubeln sie im Überschwang, wohl wissend, dass der Gnadenbegabte bei Erfolg schnell auf dem Boden der Tatsachen landen wird.

Amerika-erforschen hätte für die Nachkriegsdeutschen aus Pro und Contra bestehen müssen: Pro Graswurzeldemokratie und Contra ausufernden Kapitalismus. Das geschah nicht gründlich und systematisch. Die 68er beschäftigten sich mehr mit dem Pro und Contra des Sozialismus. Das Pro überwog – und verblich über Nacht, als der Sozialismus unter Gorbatschow den Geist aufgab. Eine eigene Alternative gegen die Monopolmacht von Coca Cola und Wallstreet zu stellen, dazu hätten die deutschen Revoluzzer ihre Amerikaallergie in gründliche Amerikakritik verwandeln müssen. Das geschah nicht.

Der heute waltende „Antiamerikanismus“ ist weder Fisch noch Fleisch. Die Seele der ehemaligen deutschen Weltveränderer besteht gegenwärtig aus widerstreitenden Gefühlen vielfältigen Unbehagens. Unbehagen über die misslungene Revolution, Unbehagen über Anpassung an die Macht des Mammons, Unbehagen über die Naturzerstörung, Unbehagen über nicht vorhandene Alternativen. Untergründig ist man gegen alles, bewusst hat man sich mit allem arrangiert. Das aggressive Jasagen zum waltenden Zeitgeist beruht auf verdrängten Ablehnungsgefühlen gegen denselben.

Seinem Erfolg war Augstein nicht gewachsen. Geld und Ruhm vernebelten ihm den Kopf. Seine Christentumskritik blieb unvollendet. Dass der Nationalsozialismus eine politische Pfingstbewegung war, kam bei ihm nicht mehr an. Seine Vergangenheitsbewältigung geriet mehr und mehr zur Rettung der Deutschen: a) die vom Judenmord angeblich nichts wussten, b) die – gegen Goldhagen – keinen jahrhundertealten Antisemitismus als national verseuchtes Erbe kannten, c) die nur im Zweifelsfall links waren. Wann und wie oft waren Zweifel angebracht?

Er selbst kandidierte für die FDP. Gewiss, damals noch links-liberal. Allein, Milton Friedman in Amerika und Friedrich Hayek standen schon vor der Tür, um der Welt zu zeigen, wie man mit Hilfe des Geldes Masters of Universe werden konnte. Als Deutschland gelernt hatte, Amerika zu kopieren, aber nicht zu kritisieren, schlug die letzte Stunde Augsteins.

Sein Alter war davon geprägt, mit den Autoritäten, die er angegriffen hatte, ins präsenile Einvernehmen zu gelangen. Das begann bereits, als er sein kritisches Jesusbuch ausgerechnet von Karl Rahner – dem damals führenden katholischen Theologen – besprechen lassen wollte. (Übrigens parallel zum rebellischen Psychoanalytiker Tilmann Moser, der sein Büchlein „Gottesvergiftung“ von Hans Küng, dem damaligen Ratzingerfreund, rezensieren lassen wollte.)

Die Deutschen schafften es nicht mehr, ihren Befreiern Paroli zu bieten. Es blieb bei offizieller Bewunderung und grummelnder Antistimmung. Die verhängnisvolle amerikanische Synthese aus Demokratie und Kapitalismus blieb bis heute unbearbeitet. Als die beiden unverträglichen Elemente ihre rooseveltsche Balance – spätestens unter Reagan – zerbrachen und der entfesselte Kapitalismus unter dem Begriff Neoliberalismus seinen Siegeszug über die Welt begann, war Deutschland unfähig, seinen Weg des gebändigten Kapitalismus (= soziale Marktwirtschaft) dem amerikanischen Neucalvinismus entgegenzusetzen.

Wieder einmal ordnete die deutsche Untertanenseele sich der herrschenden Weltmacht unter. Es gibt keine Obrigkeit, die nicht von Gott wäre. Auch keine wirtschaftliche. Ab diesem Zeitpunkt unterwarfen sich auch alle deutschen Medien dem Lockruf der unbegrenzten Zukunft. Die Meinungsführerschaft des SPIEGEL war vorbei. Augsteins Nachfolger waren blasse Manager, deren Credo die Auflage des Magazins war, nicht die politische Stellungnahme, die sich energisch in die Zeitläufte einmischt.

Ab jetzt war Einmischung nicht mehr erwünscht, es begann die Epoche der schnell vergesslichen Skandalisierung. Der SPIEGEL lebte noch einige Jahre von der abnehmenden Aura ihres Begründers, dessen Name und Verdienst heute kaum noch ein Jugendlicher kennt. In welchen Themen war das Magazin in den letzten Monaten federführend, fragte gestern in den TV-Nachrichten der frühere Chefredakteur Funk mit Empörung in der Stimme.

Wenn das Blatt keine Denker hat, kann es denkerisch niemanden mehr hinter dem Ofen hervorlocken. Dem SPIEGEL geht es hier wie allen führenden Medien. Wofür steht Giovanni di Lorenzo – außer zur Belobhudelung eines plagiierenden fränkischen Barons? Wie heißt noch mal der Chef der SZ? Des STERN, der WELT, der BLZ?

Die blassen und verwechselbaren Medien teilen ihr Schicksal mit den Intellektuellen dieser Republik, die keine unabhängigen Gedanken und Meinungen dulden. An der Uni tummeln sich Drittmitteleintreiber und hektische Wissenschaftsorganisatoren. Was im folgenden Beitrag über die Dozenten geschrieben ist, gilt für die ganze Schicht der Intellektuellen. Klaus P. Hansen im SPIEGEL:

Das Aussterben der Selbstdenker „ist das Resultat eines kulturellen Wandels: Stundenlang, in völliger Einsamkeit, Buch für Buch zu lesen, passt nicht mehr in unsere Zeit, die vom Wettbewerb dominiert ist und in der es um schnellen Austausch und das richtige Netzwerken geht. In einer solchen auf Kurzfristigkeit und kleinteilige Wissenschaft angelegten Situation findet der Nachwuchs kaum Zeit für das Eigentliche.“

Das lässt sich Wort für Wort übertragen auf die Situation der Medialen, die von denkfeindlichen Hochschulen geprägt sind und als rasende Reporter ins Berufsleben entlassen wurden. „Man kann nur noch hoffen, dass der Geist auch weiterhin weht, wo er will, und selbst in der gelehrtenfeindlichen Umgebung moderner Hochschulen noch ab und zu Gelehrte auftauchen – und vielleicht sogar Genies.“

Es geht nicht um Genies. Es sei, ein Genie wäre ein Aufgeklärter, der mit seinem eigenen Kopf denken könnte und nicht jeder Zeitgeistphilosophie hinterherliefe. Der Geist will immer noch wehen, wo er will. Allein, in Redaktionsstuben ist er schon lange nicht mehr zugelassen. Die deutsche Presse ist zu einer provinziellen Abschreibertruppe degeneriert.

Welche Themen müsste sie bearbeiten, um die heutigen Verkrustungen aufzubrechen?

a) die Philosophie der Postmoderne

b) die Verunglimpfung der Wahrheit

c) die Verachtung der Aufklärung

d) die Verdrängung des altgriechischen Erbes zugunsten eines geschönten Christentums

e) die Wiederkehr der Religion als Machtmittel der Eliten

f) die Unterscheidung zwischen Erlösungs- und Naturreligionen

g) die Entlarvung der Erlösungsreligionen als politische Welteroberungen

h) die Analyse des Neoliberalismus als Fleisch vom religiösen Fleisch

i) die radikale Veränderung eines christlichen Kalenders, der nur vom Rhythmus religiöser Feste lebt, die in sich abgestorben sind

j) die Einführung eines „heidnischen“ Zeitgefühls, das immun wäre gegen illusionäre Fanfarenklänge jedweder Heilsgeschichte. Von der Marx‘schen Revolution bis zur Hayek‘schen Evolution

k) das Eintreten für die Überzeugung: der autonome Mensch macht sein Schicksal selbst. Was er nicht tut, bleibt ungetan. Es gibt keine übernatürlichen und dämonischen Mächte, die sein Geschick determinieren.

l) Das System der Moderne ist nicht säkular, sondern eschatologisch. Latent eschatologisch im „aufgeklärten“ Europa, offiziell im biblizistischen Amerika.

m) Ein wohlverstandener „Atheismus“ bekämpft nicht den Glauben an sich, sondern den Glauben, welcher die Menschen zu nichtswertigen Kreaturen erniedrigt und die Natur zur Beute eines apokalyptischen Gottes verurteilt.

n) Ein wohlverstandener Atheismus beurteilt alles unter dem Aspekt der Folgen einer Religion. Trägt sie dazu bei, Humanität zu verbreiten oder bewirkt sie Hass und Zwiespalt in der Welt?

o) Es gibt natur- und menschenfreundliche Religionen. Deren Einflüsse müssen gestärkt werden.

p) Dasselbe gilt für alle Ideologien und Philosophien. Wer hilft, die Natur zu retten? Wer verachtet sie zugunsten des überlegenen „Geistes“ des Menschen, der sie nur benutzt, um sie unkorrigierbar zu beschädigen?

q) Jeder Glaube, jede Philosophie ist eine selbsterfüllende Prophezeiung. Was man glaubt, stellt man automatisch her.

r) Die Idolatrie der Zukunft trägt nur zur Wiederholung des schlechten Vergangenen bei.

s) Wer seine Vergangenheit verdrängt, muss sie zwanghaft wiederholen.

t) Wer immer nur in einer imaginären Zukunft lebt, lebt nicht in der Gegenwart. Ein vitales Leben führen kann man nur in der Gegenwart.

u) Der technische Fortschritt ist nur ein Wettbewerb um die Herrschaft der Welt oder ein suizidales Herbeiführen des Endes der Menschheit.

v) Wer die Menschheit in gut und böse einteilt, will eine moralische Lizenz zur Zerstörung seiner Feinde, die er zu Teufeln erklärt.

w) Demokratie und Freiheit sind keine Geschenke des Himmels an die Menschheit, sondern von selbstbewussten Menschen in langwierigen und gefährlichen Auseinandersetzungen mit unfehlbaren Priestern mühsam erkämpft.

x) Die anhaltende Dominanz der Wirtschaft wird den Untergang der Demokratie besiegeln.

y) Wirtschaft ist für den Menschen da, der Mensch nicht für eine Wirtschaft, die sich absolut setzt und die Menschheit in Erwählte und Verworfene teilt.

z) Das Ziel des Menschen muss Einhelligkeit mit der Natur sein. Wenn er zerstört, wovon er lebt, zerstört er sich selbst. Schon so vieles hat die Menschheit gelernt. Warum sollte sie nicht lernen, in der Natur zu überleben, solange es der Natur gefällt?

Medien, die sich am Streit um die Überlebensfragen der Menschheit nicht beteiligen, sind überflüssig und haben sich den Abgang redlich verdient. Der SPIEGEL hat noch nicht bewiesen, dass er die Herausforderungen der Gegenwart begriffen hätte.

Was Rudolf Augstein für seine Zeit geleistet hat, davon hat sich sein Blatt weit entfernt. Die Auswechslung des Führungspersonals wird die Misere nicht beheben.

Dies war ein garantiert ernst gemeintes Bewerbungsschreiben um die vakanten Führungsposten des SPIEGEL. Sokrates an die Macht.