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Mittwoch, 08. Mai 2013 – Richterstuhl der Vernunft

Hello, Freunde des Parlaments,

der Bundestag billigte das Beschneidungsgesetz, weil es einer amerikanischen Ärztestudie folgte, die die gesundheitlichen Gefahren der Beschneidung bestritt. Vertreter aus 19 europäischen Kinderärzteverbänden haben nun ihren amerikanischen Kollegen widersprochen.

„Bis auf eine Ausnahme würden die von den US-Ärzten angegebenen Vorteile einer kritischen Prüfung nicht standhalten. Zu ihrer Empfehlung seien die Amerikaner gekommen, indem sie sich gezielt auf Studien berufen hätten, die für eine Beschneidung als Vorsorgemaßnahme sprachen, sagte Volker von Loewenich von der Ethikkommission der Deutschen Akademie für Kinder- und Jugendmedizin der Zeit. Studien, die ein gegenteiliges Ergebnis hatten, seien nicht berücksichtigt worden.“ (Markus C. Schulte von Drach in der SZ)

Der Bundestag ist belogen worden. Oder: er hat sich gern belügen lassen. Schon vor der Bundestagsdebatte bestanden Zweifel an der wissenschaftlichen Seriosität der Untersuchung. Sind Abgeordnete nicht in der Lage, eine wissenschaftliche Studie zu beurteilen?

 

Bis zur letzten Patronenkugel wollte er die Einwanderung aus bestimmten Kulturkreisen bekämpfen, sagte vor kurzem CSU-Chef Seehofer. Für Innenminister Friedrich ist der Islam vor allem ein Gefahrenherd. Dass der Islam

zu Deutschland gehört, bringt er nicht über die Lippen. (Daniel Bax in der TAZ)

Die Gerichtsverhandlung gegen die NSU wird unter dem Zeichen des Kreuzes geführt. Über dem Eingang zum Gerichtssaal hängt ein „schlichtes Holzkreuz“. Ein türkischer Politiker fordert die Entfernung des Kreuzes. Ein CSU-Mann verteidigt das Zeichen des Gekreuzigten als Symbol der Nächstenliebe und Toleranz und „Ausdruck unserer christlich-abendländischen Wurzeln“. (BILD)

In der Frage der Sitzverlosung hat man dem Gericht mangelndes Fingerspitzengefühl vorgeworfen. In der Frage des Kreuzes, in dessen Namen viele Muslime im heiligen Land getötet wurden, hat niemand dem Gericht mangelndes Fingerspitzengefühl vorgeworfen. Zur ausgleichenden Gerechtigkeit könnte man neben das Kreuz den Begriff Scharia in schönen arabischen Buchstaben eingravieren lassen. Das Kreuz toleriert alles. Selbst die Ermordung Andersgläubiger.

 

Gehört der Islam nach Deutschland? Natürlich nicht – so wenig wie Christentum und Judentum. Sofern man die Frage nicht historisch betrachtet, sondern normativ. Historisch ist nicht zu bestreiten, dass die drei Erlöserreligionen – ja, auch der Islam, der im MA die aufgeklärteste aller drei Religionen war und griechische Vernunftgedanken nach Europa brachte – in den letzten 2000 Jahren das Abendland geprägt haben. Zum Teil geprägt haben, der andere Teil wurde vom Griechentum geprägt.

Nicht alles, was ist, sollte auch so sein. Das wäre ein naturalistischer Fehlschluss. Es gibt viel Verbrechen auf der Welt, dennoch sollte es keine Verbrechen geben.

Was zu Deutschland gehört, entscheiden die Deutschen stets neu – ohne sich von ihrer Tradition etwas vorschreiben zu lassen. Aufklärung besteht in kritischer Sichtung der Tradition. Alles prüfet, das Beste behaltet.

Auch der Nationalsozialismus ist Teil der deutschen Geschichte. Ist er deshalb abgesegnet? Vor den Zeiten christlicher Missionierung waren germanische Göttermythen Bestandteile der deutschen Geschichte. Mit wesentlich längerer Tradition als die Frohe Botschaft. Zur europäischen Geschichte gehört auch griechische Philosophie, die zu Kant und der Aufklärung führte.

Bekanntlich hatten die Freunde des Lichts kleinere Probleme mit dem vorgeschriebenen Glauben an die Erlösung. Die Aufklärung wäre verboten worden, wenn im 17. und 18. Jahrhundert bayrische CSU-Politiker allein das Sagen gehabt hätten. Vor wenigen Jahren hieß es noch, wir stünden auf griechisch-christlichem Boden. Inzwischen ist der griechische Boden vom christlichen kannibalistisch verschluckt worden.

Meisterhaft versteht es die Kirche mit ihren domestizierten Hauspolitikern, das abendländische Gelände retrospektiv zurückzuerobern. Waren sie früher gegen alles, was nach Vernunft, Demokratie und Menschenrechten klang, haben sie die Gebietsverluste längst wieder wett gemacht und ihrem Hoheitsgebiet einverleibt. Schon sind sie die Erfinder der Lust. Die Sexualfeindschaft käme von den Kynikern. Ökologie und Naturbewahrung haben sie aus dem Boden gestampft und den Grünen unter die Weste gejubelt. Die soziale Frage, die höchste Moral aller Zeiten: alles entstammt der kreativsten Küche aller Zeiten.

Sogar das Universum wollen sie mit Hilfe eines erfundenen Schöpfers erfunden haben. Den Untergang desselben haben sie auch schon im Köcher. Siehe die Offenbarung des Johannes. Die Christen haben‘s gegeben, die Christen haben‘s genommen. Ihr Name sei gepriesen in Ewigkeit.

Sollten christliche Allerfinder noch die geringste Ahnung von Aufklärung haben, werden sie wissen, dass alles vor den Richterstuhl der Vernunft geladen werden muss. Der Ausdruck Kants ist eine Kampfansage gegen den Richterstuhl Gottes, der im Jüngsten Gericht mit dem Daumen nach links und rechts deutet. „Denn wir alle werden vor den Richterstuhl Gottes treten müssen. Also wird jeder von uns für sich selbst Gott Rechenschaft geben müssen.“

Für sich selbst Rechenschaft ablegen! Hier ist die Wurzel des modernen Heilsliberalismus. Der Einzelne steht allein vor Gott. Kein zoon politicon. Keine Gemeinschaft, keine fromme Familie, die sich gegenseitig unterstützen könnte. Die geringste Solidarität mit anderen Menschen ist ausgeschlossen. Der Herr wird nicht fragen: Warst du ein guter Demokrat? Hast du Zärtlichkeit, Freude und Lust unter den Menschen verbreitet? Hast du Menschenrechte verteidigt? Hast du Vernunft eingesetzt, um Frieden zu schaffen?

Es gibt viele widersprüchliche Sätze des Neuen Testaments zum Thema Richten. Wer sich selbst richtet, wird nicht gerichtet werden. Aber auch: „Lasset uns nun nicht mehr einander richten.“ Wenn Richten Kritisieren sein sollte, dann sollten wir uns in Zuckerwatte packen – und das finale Kritisieren dem Jüngsten Gericht überlassen. An diesem Gericht kommt niemand vorbei, ob er sich nun selbst gerichtet hat oder nicht. Das letzte Wort hat immer der oberste Richter. Das bestätigt Paulus: „denn wir alle müssen vor dem Richterstuhl Christi offenbar werden, damit jeder empfange, je nachdem er im Leibe gehandelt hat, es sei gut oder böse.“

Der Gerichtshof der Vernunft war eine absolute Kampfansage der Aufklärer an den Richterstuhl Christi. Wer soll oberste Instanz sein? Das oberste Kriterium? Gott oder die menschliche Vernunft? Der biblische Gott hält nichts von der menschlichen Vernunft, die er als heidnische Torheit disqualifiziert. „Vernichten werde ich die Weisheit (= Sophia) der Weisen und die Einsicht der Einsichtigen werde ich verwerfen.“

In der Entwicklung der modernen Philosophie wurde Vernunft gelegentlich mit Gott gleichgesetzt. Das ist nicht verboten, wenn man die eigene Vernunft benutzt, um die göttliche zu überprüfen. Doch der Gott der Vernunft – bei Spinoza auch Gott der Natur – hat mit dem biblischen Gott nicht die Bohne zu tun. Er muss sich der menschlichen Vernunft stellen, während der biblische Gott die oberste Instanz bleibt, die selbstherrlich und einspruchslos über Wahrheit entscheidet.

Was ist Aufklärung bei den Griechen? „Glaube, Recht und Sitte werden in allen ihren Auswirkungen vor den Richterstuhl der Vernunft geladen zur Prüfung auf ihre Wahrheit und Rechtmäßigkeit. Nichts Überliefertes und Gewohnheitsmäßiges hat als solches einen Anspruch auf Fortbestand und alles Instinktive wird in die Helle des Bewussten erhoben.“ (Wilhelm Nestle, Vom Mythos zum Logos)

Haben nur Oberschichten Vernunft? Ist Aufklärung die Sache einer Elite? Nestle: „Die Wirkung dieser Veränderung ging ebenso in die Tiefe wie in die Breite. Bei der Öffentlichkeit des antiken Lebens beschränkte sie sich keineswegs auf die oberste und vermöglichste Schicht des Volkes, sondern durch alle möglichen Rinnsale und Kanäle nach unten sickernd, ergriff sie einen großen Teil der Bevölkerung der griechischen Städte.“

Wirkungen der Aufklärung können verheerend sein, wenn durch Zerbrechen der Tradition unterdrückte Kräfte und Mächte frei werden, die sich für ihre Unterdrückung rächen. Solche destruktiven Phänomene sind nicht die Kinder der Vernunft, sondern einer despotischen Tradition, die sich den Folgen ihrer Pressionen stellen muss. Im Bewusstsein einer neuen Freiheit muss sich der Mensch neu koordinieren, was nicht von heute auf morgen geht.

Das sieht man an der Französischen Revolution, wo das Unterste zuoberst gespült wurde und die neuen Machthaber nicht sogleich Toleranz und Souveränität gegen ihre bisherigen Unterdrücker üben konnten. Deshalb der Rückschlag der Revolution und die terroristischen Neigungen bei Menschen, die selbst jahrhundertelang terroristisch malträtiert worden waren. Das steckt gepeinigten Menschen in den Knochen und kann nicht mit der Lektüre eines Kant-Aufsatzes aus den Rippen geschwitzt werden.

Die deutschen Intellektuellen wie Schiller hatten keine Ahnung von der Prozesslogik einer Revolution und verwandelten sich aus glühenden Anhängern der Revolution zu enttäuschten Gegnern. Man kann nicht Despoten zum Teufel jagen und ihnen sogleich den vaterländischen Orden ans Revers heften.

Seit der konstantinischen Wende haben alle offiziellen Kirchen stets die jeweiligen Obrigkeiten unterstützt. Und wenn es die schrecklichsten Systeme waren: „Seid untertan der Obrigkeit. Es gibt keine Obrigkeit, die nicht von Gott wäre.“ Selbst die übelsten Schlächter waren von Gott eingesetzt und besaßen das von Gott verbürgte Recht auf blinden Gehorsam.

Kritische Christen wurden zu glaubensvergessenen Sekten deklariert, die von ihren eigenen Bischöfen an die Obrigkeiten verraten wurden. Solche von Gott eingesetzten Obrigkeiten waren keiner menschlichen Vernunft untertan. Wie kann hier jemand – und wenn es ein deutscher Papst wäre – die Chuzpe haben, Vernunft und Glaube gleich zu setzen? Selbst wenn der Glaube das rationalste System auf Erden wäre, wie vereinbarte sich autonome Vernunft mit jenen Obrigkeiten, die man nicht vor den Richterstuhl der Vernunft ziehen darf?

So gut wie nie wird die Frage gestellt: wie verhält sich Vernunft zur gottgegebenen Obrigkeit? Hier sieht man, dass politische Themen bei der Kirche nicht die geringste Rolle spielen. Sie verfahren nach dem Prinzip des Götz von Berlichingen, der jeder Obrigkeit den Mittelfinger zeigte: LMA. Was auf biblisch heißt: gebet dem Kaiser, was des Kaisers – also schnöden Mammon – und Gott, was Gottes ist: also nur deine kostbare unsterbliche Seele.

Äußerlich respektieren die Kirchen die Staaten. Innerlich verachten sie sie als Räuberhorden, die zu nichts nütze sind, als das schlimmste Chaos zu vermeiden. Im Jenseits wird‘s keine Staaten geben, sondern nur den Alleinherrscher. Staaten kommen und gehen, sie sind nützliche Werkzeuge zur Vermeidung der Anarchie. Wenn aber der Messias kommt, ist Schluss mit Demokratie und Menschenrechten. Polis und Agora kommen auf den Misthaufen der Geschichte.

Im Reich des Himmels gibt’s kein Parlament, keine Wahlen, keine Mitsprache und keine Gewaltenteilung. Im Namen eines totalitären Reichs der Himmel erkühnen sich die Kirchen, die irdischen Belange der Menschen ihrer Alleingewalt zu unterstellen. Wenn Obrigkeiten – obgleich morgen zu Staub zerfallen – immer Recht hätten, weil sie ihre Unfehlbarkeit in politischen Dingen von Gott erhielten, wozu bräuchten wir noch einen Richterstuhl der Vernunft, der ihnen aufs Maul schaute?

Paulus’ Rechtfertigung des irdischen Staates in Römer 13 ist die Rechtfertigung aller totalitären Staaten, die es je in der Geschichte der Menschheit gab. Hitler, Stalin, Mao, Tamerlan: alle sind sie restlos von Gott. Und alle christlichen Untertanen haben ihre Vernunft einzustellen und diese feinen Herren kritiklos gewähren zu lassen. Das ist christliche Ethik! Und auf diesem Fundament will Europa, will Deutschland stehen? Das ist Verrat der Demokratie durch totalitäre Heiligkeit.

Es wird immer so getan, als ob Römer 13 nur ein protestantisches Problem wäre und die Katholiken davon nicht berührt wären. Sind doch die Katholen einem anderen Stellvertreter Gottes untertan, der in geistlichen Dingen – somit in allen wesentlichen Dingen – unfehlbar ist. Das ist Fortschritt vom Regen in die Traufe.

Auch wenn der Papst als geistliches Schwert dem weltlichen weisungsbefugt wäre, an der totalen Subordination eines katholischen Untertanen unter das weltliche Schwert würde sich nichts ändern. Im Zweifelsfall – wenn beide Schwerter sich stritten – müsste er dem geistlichen Schwert folgen, das hier an die Stelle des weltlichen tritt. Auch hier hätte kein Richterstuhl der Vernunft das geringste Wörtlein mitzusprechen. Im Übrigen kann sich der irdische Untertan ohnehin kein Urteil erlauben, welche Unfehlbarkeit unfehlbarer ist: der Staat als weltliches oder der Papst als geistliches Schwert.

Wird in Bayern christliches Recht gesprochen oder deutsches? Ist deutsches Recht nicht universellen Menschenrechten verpflichtet? Auch in Rechtsfragen gab es eine Deutsche Bewegung, die in der Romantik begann und für ein anti-universelles deutsches Recht eintrat. Es war Friedrich Carl von Savigny, Rechtsgelehrter in Berlin, der die Historische Rechtsschule gründete, eine Schule, die das Recht auf den jeweiligen Volksgeist gründete.

Das Recht sollte kein „abstraktes und mit kalter Vernunft ausgedachtes Gebilde“ sein, sondern in den lebendigen Überzeugungen des Volksbewusstseins wurzeln, ähnlich der Sprache oder den Sitten des Volkes. Jedes Recht habe auf der Tradition des jeweiligen Volkes zu ruhen. Ein generelles Recht für alle Völker sei ein Unding. Womit klar ist, auch hier hat keine Vernunft ein Mitspracherecht.

Die Romantiker haben mit der Aufklärung gebrochen und sind in den unfehlbaren Grund und Boden völkischer Besonderheiten regrediert. Das Unvergleichliche als nationale Unberührbarkeit: auf diesem Fundament erbauten sich die Deutschen binnen anderthalb Jahrhunderten den Blut & Boden-Geist der einmaligen deutschen Erlösernation.

Gehört der Islam auf deutschen Boden? Natürlich nicht. Als Doktrin ist er mit keiner Demokratie vereinbar. Nicht anders als Christentum, Judentum oder andere intolerante und unfehlbare Erlöserreligionen.

Sehr wohl aber gehören Muslime, Christen, Juden, Buddhisten, Hindus, Bahai und andere Menschen auf deutschen Boden, die glauben können, was sie zum Zwecke ihrer privaten Seligkeit nicht lassen können solange sie ihr Tun demokratischen und universellen Gesetzen unterwerfen und sich keine Sonderprivilegien anmaßen, um sich Macht über Kinder, Abhängige, öffentlich-rechtliche TV-Anstalten, Kitas, Privatschulen, staatliche Subventionen, Mitspracherechte bei der Besetzung von Professorenstellen undundund unter den Nagel zu reißen.

Was immer sie propagieren und predigen: es muss vor den Richterstuhl der Vernunft und sich dem Mehrheitswillen des Demos beugen. Was sie in ihrem privaten Kämmerlein ausbrüten, muss nur das Kämmerlein ertragen.

Das Gericht ist kein Kämmerlein. Das Kreuz muss weg.