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Philosophie und Politik

Konservatismus und Natur

Konservatismus und Natur

Was wollen die Konservativen bewahren? Werte oder Macht? Da gibt es nationale Besonderheiten. Sind amerikanische Republikaner konservativ? Sie wollen jene Macht bewahren, die keinen Stein auf dem andern lässt: sie sind Anhänger des Fortschritts. Methodisch müssen wir jetzt wie Archäologen vorgehen und Schicht um Schicht abtragen.

Fortschritt ist nur in der Geschichte möglich, Geschichte ist Gegenspielerin der Natur, die sich zwar in ungeheuren Zeiträumen entwickelt, aber in den für uns überschaubaren Zeiträumen konstant bleibt. Naturgesetze bleiben gleich, (in schwarzen Löchern sollen sie nicht gelten, das ignorieren wir), nur die Randbedingungen ändern sich. C. F. von Weizsäcker schrieb eine Geschichte der Natur, er meinte die Evolution. Karl Löwith hielt Natur und Geschichte für inkompatibel, Natur stünde für Konstanz, Geschichte für permanenten Wandel. Da Weizsäcker Physik und christliches Dogma mit Ach und Krach vereinbar machen wollte, übergehe ich ihn.

Wenn Löwiths Auffassung stimmt (der ich zustimme), ist Natur die einzige konservative Kraft. Der Mensch als Subjekt der Geschichte (inklusive seinem vorgeschobenen Gott) hingegen ist veränderungswütig oder revolutionär. Stopp, genau gesprochen stimmt auch letzteres nicht. Denn Re-voltieren heißt Umdrehen, Zurückwälzen und meinte ursprünglich den astronomischen Vorgang des ewigen um sich selber Kreisens der Gestirne, die ihre Bewegungen ständig im Zirkel wiederholen. Also das genaue Gegenteil

der heutigen Bedeutung, die erst durch die Französische Revolution aufkam. Heute heißt revoltieren: das Alte nicht wiederholen, sondern permanent zum Verschwinden bringen zugunsten eines ewig Neuen: unendlicher Fortschritt.

In Goethes Fragment über die Natur stehen die dialektischen Sätze: „Die Natur schafft ewig neue Gestalten, was da ist, war noch nie, was war, kommt nicht wieder – alles ist neu, und doch immer das Alte. Sie baut immer und zerstört immer. Es ist ein ewiges Leben, Werden und Bewegen in ihr, und doch rückt sie nicht weiter. Sie verwandelt sich ewig, und ist kein Moment Stillestehen in ihr. Fürs Bleiben hat sie keinen Begriff, und ihren Fluch ans Stillestehen gehängt. Ihr Tritt ist gemessen, ihre Ausnahmen selten, ihre Gesetze unwandelbar. Auch das Unnatürlichste ist Natur. Ihr Schauspiel ist immer neu, weil sie immer neue Zuschauer schafft. Sie setzt alle Augenblicke zum längsten Lauf an, und ist alle Augenblicke am Ziel. Vergangenheit und Zukunft kennt sie nicht. Gegenwart ist ihr Ewigkeit. Sie ist ganz, doch immer unvollendet. Alles ist ihre Schuld, alles ihr Verdienst.“

Ist das griechisch oder christlich, linear oder zirkulär, konservativ oder revolutionär (im modernen Sinn)? Griechisch ist es nicht. Reichlich kokett, fast hegelianisch, badet es sich in Widersprüchen. Doch ohne Widersprüche geht die Chose nicht, wie Kenner der Vorsokratiker wissen. Bei Heraklit fließt alles, ist alles in Bewegung – und dennoch soll Harmonie im Ganzen herrschen. Wie geht das zusammen? Nur durch Klarstellen des Begriffs Widerspruch.

Ihr erinnert euch des Unterschiedes von konträrem und kontradiktorischem Widerspruch. Der letztere gestattet keinerlei Koexistenz und gehorcht dem Entweder-Oder. Der erste ist ein polares Sowohl-als-Auch. Es müssen permanente Spannungen und Reibungen da sein, sonst würde sich gar nichts entwickeln, alles wäre statische Unbeweglichkeit und tote Hose.

Das Christentum ist kontradiktorisch mit einer konträren Zwischenphase, die man gemeinhin Heilsgeschichte nennt. Letztlich sind Gott und Natur unverträglich. Nur für die kleine Weile der historischen Zeit wird das Kontradiktorische zum Konträren ermäßigt. Der absolute Dualismus wird zum relativen, ersichtlich an Gottes Verfluchung der gesamten Schöpfung und seiner zwiespältigen, zeitlich begrenzten Zurücknahme der absoluten Verdammung.

Gen. 6, 5: „Als aber der Herr sah, dass der Menschen Bosheit groß war auf Erden, und dass alles Dichten und Trachten ihres Herzens die ganze Zeit nur böse war, da reute es den Herrn, dass er den Menschen geschaffen hatte auf Erden, und es bekümmerte ihn tief. Und der Herr sprach: Ich will die Menschen, die ich geschaffen habe, vom Erdboden vertilgen, die Menschen sowohl als das Vieh, auch die kriechenden Tiere und die Vögel des Himmels; denn es reut mich, dass ich sie gemacht habe.“

Das ist die Selbstzerstörungswut eines allmächtigen Schöpfers, der sein Werk im ersten Überschwang für sehr gut hielt. Note Eins für ein Bankrottunternehmen, das auf den zweiten Blick in eine Note Sechs herabgestuft werden musste. Gilt die schallende Ohrfeige dem Schöpfer – oder seinem Werk? Man sollte meinen, dem Aufschneider, der sich für vollkommen und unfehlbar hielt. Denkste, nicht der Macher, das Gemächte muss dran glauben. An seinem irreparablen Pfusch soll es selber schuld sein.

Verführt von Noahs Grillkünsten – Opfergaben genannt – reut den Herrn seine cholerische Gesamtwut. Gen. 8, 21: „Und der Herr roch den lieblichen Duft und sprach bei sich selbst: Ich will hinfort nicht mehr die Erde um der Menschen willen verfluchen, ist doch das Trachten des menschlichen Herzens böse von Jugend auf. Und ich will hinfort nicht mehr schlagen, was da lebt, wie ich getan habe. Solange die Erde steht, soll nicht aufhören Saat und Ernte, Frost und Hitze, Sommer und Winter, Tag und Nacht.“ So erfahren wir nicht nur, warum säkulare Deutsche so gern grillen. Noch immer opfern sie einem Gott, den sie gnädig zu stimmen gedenken, um wie Abel und nicht wie Kain behandelt zu werden.

Zugleich erfahren wir, warum Gott intermediär aus einem kontradiktorischen Dualismus einen milden streitlustig-verträglichen macht. Doch nur bis ans Ende aller Tage: dann endet die Friedenspflicht, die Natur wird versenkt, Gott ist wieder alles in allem. In Wut auf seine mangelhafte Kreativität will Creator ex nihilo alles zerstören: nicht nur den bösen Menschen, sondern in Sippenhaftung auch die gesamte Natur. Was können Fauna & Flora dafür, dass die allmächtige Firma Mensch & Gott solchen Stuss abliefert. Nun wissen wir auch, warum bei Hegel das Kleinkind seine ersten Kreativitätsversuche am Boden zerstören muss: es erprobt spielerisch seine infantile Gottähnlichkeit.

Die biblischen Schriftsteller mussten die totalitäre Zerstörungswut des Schöpfers über seinen Pfusch am Bau erheblich reduzieren, sonst hätten sie das Bibelschreiben nach den ersten Seiten gleich wieder einstellen können. Sie selbst hätten gar nicht existent sein können. Also musste dem Vernichtungswiderspruch zwischen Himmel und Erde (entspricht dem Geschlechterkampf zwischen Mann und Frau, Vater und Mutter) der tödlich-giftige Stachel gezogen werden. Aber nur für die irdische Zeit, genannt Geschichte oder Heilsgeschichte, die besser Unheilsgeschichte heißen müsste, denn 99, 99 % der Schöpfung geht dem Höllenfeuer entgegen. Heil gibt’s nur für den belanglosen Nano-Rest der Kreaturen.

Doch oberhalb des schaumgebremsten irdischen Kampfes zwischen Gut und Böse wird das Damoklesschwert des letzthinigen Entweder-Oder aufgehängt. „Ist doch das Trachten des menschlichen Herzens böse von Jugend auf“. Das letzte Wort ist noch nicht gesprochen. Die Endabrechnung steht noch aus. Hier unten muss noch geglaubt werden, die Verhältnisse sind nicht sinnenfällig oder aktenreif. Doch am Jüngsten Tag wird aufgeräumt. Absolut. Dann wird das Konträre sich wieder zurückverwandeln ins Kontradiktorische. Kein Zugeständnis mehr, die Geduld des Himmels ist am Ende, die Bücher werden aufgetan, das Endspiel beginnt. Pardon wird im Finale nicht mehr gegeben, Revision nicht mehr zugelassen. Fini la guerre.

Kommen die Biblizisten von der extremen Disharmonieseite, um sich ein geschichtsfähig-pragmatisches Durchwursteln zu genehmigen, kommen die Griechen von der anderen Seite: der Harmonie, die so harmonisch nicht bleiben kann, sonst könnt’s weder Konflikte, Spannungen oder Fressen und Gefressenwerden in dieser Welt geben. Also muss das Paradies durchzogen werden mit Elementen polaren Streits. Der spannungslose Monismus wird mit Agon (= Wettstreit) angereichert, auf dass aus Satz und Gegensatz eine dialektische Entwicklung entstehen kann, die aber niemals ausufern darf und immer wieder im Kreis herum ins Gleichgewicht gebracht werden muss.

Das Naturdenken der Griechen pendelt in gewissen Abweichungsgraden um ein unwandelbares Äquivalent herum. Was einseitig dominant wird, muss sich wieder zurücknehmen; was sich unterbuttern lässt, gestärkt werden, auf dass sich eine langfristige Balance der Kräfte herausbilden kann. Die demokratische Gewaltenteilung ist unmittelbarer Abdruck derselben Gewaltenteilung in der Natur. Die Polis ist die mikrokosmische Kopie des ausbalancierten, bewegten und doch in sich ruhenden Makrokosmos.

Bewegen sich die Hebräer vom strikten Dualismus in Richtung eines gemilderten Dualismus, müssen die Griechen umgekehrt den Weg von einem allzu problem- und konfliktfreien Monismus zu einem agonalen Monismus durchlaufen. Das Ergebnis sehen wir bei Platon und seinem großen Schüler. Während der erste eine doppelte Welt aus perfekten Ideen und sinnlichen Unvollkommenheiten entwirft, konkretisiert Aristoteles – trotz Kritik an Platons unnötiger Verdoppelung der Welt – dessen gespaltenen Monismus in Form eines gespaltenen Kosmos. Die vollendete Welt oberhalb des Mondes (der supralunar-vollendete Sternenhimmel, der Bereich des Äthers) auf der einen Seite, die nicht perfekte Welt unterhalb des Mondes (die sublunare, nicht völlig kausale, nicht vollständig berechenbare Natur der sinnlichen Materie) auf der andern Seite. (Ein wichtiger Grund übrigens, warum die Griechen keine moderne Naturwissenschaft entwickelten.

Die Spaltung der Welt, die keine allgemein geltenden Naturgesetze zulässt – wurde zuerst von Galilei aufgehoben: überall im Universum gelten die gleichen Gesetze. Sodann die Überzeugung, dass die sinnliche Welt rational nicht völlig berechenbar ist: stets bleibt ein Hauch von Zufälligkeit und Unerklärbarkeit.

Die Natur ist störanfällig, doch jede Störung muss wieder ins Gleichgewicht zurückbeordert werden. Diese im Grunde unzerstörbare Äquivalenz des Kosmos beschreibt Anaximander in seinem berühmten Spruch, den er in juristischen Schuld- und Sühnevokabeln formulierte: „Woraus die Dinge entstehen, darin findet auch ihr Untergang statt, gemäß der Schuldigkeit. Denn sie leisten einander Sühne und Buße für ihre Ungerechtigkeit, gemäß der Ordnung der Zeit.“ Die Zeit ist das hohe Gericht, welches für ständigen Ausgleich der streitenden Polaritäten zu sorgen hat. Der Fundamentalsatz jeder Ökologie, die ihr Tun und Wirken verstehen will.

In diesem Sinn kann kein moderner Konservatismus bewahrend sein. Sofern er sich von Geschichte und Fortschritt nicht grundsätzlich abseilt, wird er im Banne eines Wandels um des Wandel willens immer nur das Alte zerstören. Um eines Neuen willen, das sich anmaßt, als Neues auch schon das Bessere zu sein. Das wäre der Urteilsspruch über die Natur, die bei aller Wandlungsfähigkeit dieselbe bleiben wird – in alle Ewigkeit.