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Freitag, 28. Juni 2013 – Orwell 2013

Hello, Freunde Snowdens,

kann Snowden ein Held sein, wenn er in Länder flüchtet, die auch keine unbefleckten Rechtsstaaten sind? Hat er eine Alternative? Europa hält sich wie immer raus und lässt den Großen Vetter jenseits des Atlantiks gewähren.

Wer Recht aus moralischen Gründen bricht, sollte die Konsequenzen des – unrechten – Rechts auf sich nehmen. Müsste Snowden nicht sofort in seine Heimat zurückkehren und zum demokratischen Märtyrer werden?

Wenn die voraussehbare Strafe verhältnismäßig wäre – Ja! Sagt Strafrechtler Reinhard Merkel in der ZEIT. Wird sie aber nicht sein. Er könnte sogar mit dem Tode bestraft werden. (Interview von David Hugendick mit Reinhard Merkel in der ZEIT)

Der Verrat, so Merkel, sei ein legitimer Akt zivilen Ungehorsams. Das habe schon der Rechtsphilosoph John Rawls in seinem berühmten Buch „Theorie der Gerechtigkeit“ definiert. Was unterscheide einen ordinären Rechtsbruch von einem moralischen Akt zivilen Ungehorsams?

„Ziviler Ungehorsam müsse erstens öffentlich geschehen, also außer einem Gesetzesbruch auch ein Akt der sozialen Kommunikation sein, adressiert an die Regierung und an die Gesellschaft als Ganze. Zweitens dürfe er nicht gewaltsam erfolgen. Drittens müsse das Gesetz aus dringenden Gewissensgründen gebrochen werden.“

Auch die Taten Bradley Mannings hält Merkel für einen Musterfall zivilen Ungehorsams. „Er hat schwere Kriegsverbrechen, gravierende Brüche des humanitären Völkerrechts aufgedeckt, für die andere Leute vor dem

internationalen Strafgerichtshof 30 Jahre oder mehr bekommen würden. Manning hat etwas sehr Bedeutendes und moralisch Hochrangiges getan.“

Letztendlich müsse das Volk entscheiden, ob es solche Überwachungspraktiken mit seinem demokratischen Selbstverständnis für vereinbar hält. Darauf hinzuweisen, dafür seien Akte zivilen Ungehorsams notwendig. Solche Aktionen zielten darauf, „eine große gesellschaftliche Diskussion anzustoßen. Also ein öffentliches Räsonieren über die Frage: Wollen wir so etwas? Und wenn wir das nicht wollen, dann soll es bitteschön eine Änderung der Gesetze geben. Wir sind das Volk, hieß es mal in Deutschland, und das Volk ist der Souverän und damit zuletzt der Gesetzgeber, wie es eben auch in Amerika der Gesetzgeber ist. Das Parlament ist nur sein treuhänderischer Vertreter. Solche Akte des Ungehorsams müssen immer auch eine vorausschauende Perspektive aufweisen, nämlich das erkennbare Ziel: diese Dinge sollen künftig nicht mehr vorkommen.“

Ähnlich argumentiert der amerikanische Rechtsprofessor Michael Ratner in einem TAZ-Interview von Dorothea Hahn:

Wenn Snowden in die USA zurückkehrte, würde er nie mehr die Straße sehen. Fast alle Amerikaner hielten ihn für schuldig. Er wird in ein Spezialgefängnis für Terroristen kommen, aus denen keine Kommunikation mit der Außenwelt möglich wäre.

Wie erklärt Ratner die scharfen Reaktionen der ach so freiheitsbewussten USA? „Die Supermacht fällt zurück in alte Schemen: Drohungen und Übergriffe. Das sind imperialistische Sitten, die eine Reihe von Ländern entfremdet haben.“

Warum gibt es so gut wie keine kritische Reaktion der Medien? „Das zeigt die Schwäche und den Mangel an Rückgrat unserer Medien.“

Was ist der Zweck der ganzen Schnüffelei? Ist es nicht sinnvoll, dass die Regierung die Bevölkerung vor Attentaten schützt? „Es geht nicht darum, Terroristen zu stoppen. Es geht um massive Überwachung. Die Regierung will das Internet überwachen und die Aktionen von jedem Individuum kennen. Sie will vertikal kontrollieren.“ Sollte es in despotischen Ländern zu Aufständen kommen, werde die US-Regierung mit Sicherheit nicht die demokratischen Kräfte stützen.

Was ist Ratners politisches Ziel? „Die Überwachung der Bürger en gros muss aufhören. Wenn es einen Verdacht gibt, muss ein Gericht entscheiden.“

Wäre es nicht hilfreich, wenn Europa sich kritisch äußerte? „Das würde großen Eindruck machen. Solange Europa nicht aufsteht, wird sich nichts ändern.“

Europa braucht kein technisches Überwachungsprogramm. Es hat ein wirtschaftliches. Das hat den Ruch ökonomischer Legitimität. Ökonomen sind effektiver als jede gigantische NSA. Zudem kosten sie weniger und erzeugen weniger Misstrauen. Schließlich sind sie seriöse Wissenschaftler und können bis auf den Pfennig genau beweisen, dass es dem Staat gut geht, wenn’s den meisten seiner Untertanen schlecht geht.

Wer bei uns nicht funktioniert, wird austerisiert. Die gewollte Dauerkrise Europas verhindert den Weg zur demokratischen Weiterentwicklung der Völkergemeinschaft. Haltet die Menschen lohnmäßig knapp, dann sind sie mit Überlebensproblemen beschäftigt und pfuschen den Politikern nicht ins Handwerk.

Warum ist der deutsche Innenminister noch nicht zurückgetreten? Er weiß nichts über die Überwachungspraxis Amerikas und Englands hält aber alle Maßnahmen für koscher. Wer solche Minister hat, braucht keine terroristischen Feinde.

Apropos Überwachung. Haben wir die Schreckensvisionen Orwells schon erreicht? Übertrumpft?

Äußerlich wächst das demokratische Bewusstsein in der Welt. Die Völker lassen sich immer weniger gefallen. Unruhen in der Türkei, Brasilien, Bulgarien, Frankreich, Spanien, Griechenland, Italien, noch immer in den arabischen Ländern. Was die meisten früher klaglos und apathisch hingenommen hätten, schwirrt in Sekundenschnelle rund um den Globus und steigert die Empörungsbereitschaft von immer mehr Menschen, die ihre Mündigkeit einfordern. Sodass man mit Kant stolz sagen könnte: Zwar leben wir nicht in aufgeklärten Zeiten, aber doch in Zeiten der Aufklärung.

Ein Mann stellt sich unbeweglich und schweigsam auf einen Platz in Istanbul und trotzt dem Regime und schon stehen viele Menschen in anderen Ländern unbeweglich und schweigsam und trotzen ihren Regimes. Freiheit und Autonomie sind die wirksamsten weltumkreisenden Stimulantien, worauf die Menschheit stolz sein könnte.

Doch das betrifft nur die Unterschichten und ein Teil der Mittelschichten der Völker. Die Oberschichten haben keine Probleme mit nichts, warum auch? Höchstens mit den unteren Schichten, die gegen sie aufmucken. Ein Prozent der Weltbevölkerung beherrscht in vernetzter Kooperation die Welt. Sollten sie gegen sich selbst rebellieren?

Eliten beherrschen mit technischen, militärischen, wirtschaftlichen Mitteln den unrühmlichen Rest der Welt. Vor allem aber mit geistigen. Das ist der schwache Punkt bei Orwell, dessen hochintelligentes Buch einen totalitären Überwachungsstaat konstruieren musste, um das Phänomen der drohenden Totalisierung zu verdeutlichen.

Nie wäre ihm in den Sinn gekommen, dass sich mitten in intakt wirkenden Demokratien das Gespenst des Denk- und Wahrnehmungsverbotes breit machen könnte. Ohne jede äußerliche Zwangsmaßnahme. Nur mit harmlos und freiheitlich daher kommenden Gedanken und attraktiven Ideengebäuden. Also mit Philosophien und glücksverheißenden Religionen. Auch wenn das Glück nicht in dieser Welt, sondern am Sankt Nimmerleinstag eintreten werde.

Alle Machtmechanismen, die Orwell eindrucksvoll beschrieb beobachtet und extrahiert aus den Regimes von Hitler, Stalin, Mussolini und Franco gibt es heute in allen westlichen Demokratien. Und niemand bemerkt sie.

Natürlich werden sie bemerkt, sie werden für den neusten Schrei gehalten, für das Optimum der Inspiration und zukunftsweisender Einfallskraft. Man wähnt sich progressiv, auf der Höhe der Zeit, wettbewerbstüchtig, modern, en vogue, auf der obersten Welle der flutenden Zeit. Oder in rechter Zeit.

Theologen reden von Kairos, Kierkegaard spricht vom Augenblick. Dem Augenblick, in dem sich das Außergewöhnliche ereignet. Hic Rhodus, hic salta. Jetzt ist der Augenblick, jetzt springe. Jetzt ist die Gelegenheit, jetzt schlägt deine Stunde, pack sie am Schopf. Einen zweiten Augenblick wird es nicht geben. Wer den Kairos verpasst, hat sein Leben verpfuscht.

Das Buch des Predigers fasst die Philosophie der Zeit, eine Ablegerin der Heilsgeschichte, in die weltberühmten Worte: Alles hat seine Zeit. Nicht nur Geborenwerden und Sterben, Schweigen und Reden, Lieben und Lachen, sondern auch Töten, Kriege führen, Steine werfen, Einreißen, Klagen und Hassen.

Es gibt den Kairos der Natur und den Kairos der Übernatur. In der ewig wiederkehrenden Natur haben Pflanzen und Ernten ihre bestimmte Zeit. Nicht alles ist jederzeit möglich. Doch die rechte Zeit wiederholt sich im Rhythmus der Jahreszeiten in unveränderlicher Natur.

Die rechte Zeit der Geschichte hingegen markiert die einmaligen naturwidrigen Eingriffe Gottes, die als unberechenbare Ereignisreihe die Heilsgeschichte prägen. Was sich als Natur wiederholt, ist minderwertig und wird als „Altes“ untergehen. Das Einmalige als das Neue entscheidet über Mensch und Natur: „Denn der erste Himmel und die erste Erde sind verschwunden, und ich sah das neue Jerusalem von Gott her aus dem Himmel herabkommen, gerüstet wie eine Braut. Denn das Erste ist vergangen.“

Das Erste ist das Natürliche, das Alte. Das Neue erscheint als Geschenk des Himmels im rechten Augenblick des Herrn der Heerscharen. Der Individualismus der Neoliberalen ist Abklatsch der einmaligen und unvergleichlichen Heilsereignisse.

Individuell heißt unteilbar, aber nicht unvergleichlich. Jedes Individuum ist einmalig, aber die Grundelemente seiner körperlichen und geistigen Verfassung sind in allen Menschen vorhanden. Es sind generelle Elemente in einmaligen Ausprägungen. Deshalb können Menschen sich verstehen, weil sie aus dem gleichen Stoffe gemacht sind. Deshalb müssen Menschen sich verstehen lernen, weil ihre jeweilige Komposition der Elemente einmalig ist.

Der Mensch ist eine Mischung aus Einmaligkeit und genereller Vergleichbarkeit. Man ahnt, versteht und akzeptiert das Einmalige jedes Menschen, wenn man ihn als vergleichbaren Menschen, als Schwester und Bruder verstanden hat.

Im Kapitalismus bezieht sich die Vergleichbarkeit auf die wirtschaftliche Qualität des Menschen. Wirtschaft ist die Sphäre, in der sich alle Menschen als gleiche begegnen. Quantitativ hingegen ist jeder Mensch ein individuum ineffabile, ein unvergleichliches Wesen. Unvergleichlich, was den nach oben offenen Reichtum des Einzelnen und unvergleichlich, was seine konsumierende Unermesslichkeit betrifft.

Die Reichen legen viel Wert darauf, dass ihre Unvergleichlichkeit verglichen und wahrgenommen wird, damit ihre Einmaligkeit auf dem Kontrast vergleichbarer menschlicher Durchschnittsware erst zum Leuchten komme.

In Orwells Buch erscheint die Philosophie der Zeit oder die Heilsgeschichte

a) in der Weise systematischer Umdeutung und Verdrängung der Vergangenheit,

b) im Zwiedenken und Neusprech

c) in der Hasswoche

d) in der erzwungenen Liebe zum Großen Bruder, der natürlich der Große Vater im Himmel ist.

Wie die ambivalente Vaterfigur wirklich aussieht, weiß niemand. Das entspricht dem biblischen Namen- und Bilderverbot: Mach dir kein Bildnis, noch Gleichnis. Ich bin, der ich bin. Einen konkreten Namen, mit dem man Macht über Ihn erringen könnte, lehnt Er ab. Wie bei Rumpelstilzchen hat jener Macht über den anderen, der dessen Namen zu nennen weiß.

Wohl gibt es ein omnipräsentes Plakat des Großen Bruders, dennoch weiß niemand, ob das gezeigte Bild dem Original gleicht. Gibt’s Ihn überhaupt, den Großen Bruder, den unbekannten Gott oder ist er nur nützliche Projektionsfigur in der Hand der Eliten?

Die Kirche war seit jeher das wirksamste Instrument, um die Massen im Dienst der Gewaltigen zu domestizieren. In den ersten Zeiten, als die Kirche noch ohnmächtig war, zeigte sie den Mächtigen in fanatischer Gesinnung, welch unmissverständlichen und alles Feindliche aus dem Wege räumenden Anspruch auf das Weltregiment sie von Anfang an hatte. „Alles hat er seinen Füßen unterworfen über jede Gewalt und Macht und Kraft und Hoheit.“

Das kleine ohnmächtige Jesulein beanspruchte bereits in der Krippe, dass die kommende Epoche nach Ihm benannt, von Ihm geprägt werde und nicht von dem aufgeblasenen Augustus, dem Kaiser der Römer, dessen Zeit bereits gezählet ward.

Es wäre interessant zu erfahren, ob Orwell die christliche Doktrin bewusst vor Augen hatte, als er seinen theokratischen Monsterstaat im Gewand eines säkularen Totalitarismus entwarf.

In seinem heute verdrängten Buch „Weltgeschichte und Heilsgeschehen“ hat Karl Löwith die Wesensähnlichkeiten der Philosophien der Heilsgeschichte von der Bibel über Orosius, Augustin, Joachim di Fiore bis Hegel, Marx und Burckhardt präzis herausgearbeitet. Wer das Büchlein liest, müsste Tomaten auf den Augen haben, wenn er nicht unsere Gegenwart erkennen würde.

c) Der regelmäßigen Hasswoche im Zukunftsstaat Ozeaniens entspricht gegenwärtig die westliche, vor allem amerikanische Politik, die Welt nach wechselnden Reichen des Bösen abzusuchen und alle wirtschaftliche und militärische Macht darauf zu verwenden, den Teufelsstaat an die Kette zu legen. Vor Dezennien war es die Sowjetuntion. Danach wechselte die Fahne des Bösen in den islamischen Orient, der die Frechheit besaß, sich dem Überlegenheitsanspruch der Christianer zu widersetzen.

Der Überwachungswahn der amerikanischen Regierung muss das verborgene Böse der eigenen Bevölkerung aufspüren und die Umtriebe zombiehafter Terroristen aufdecken. Die Guten können sich ohne Gegenbild der Verworfenen nicht als Gute und Erwählte erweisen. Amerikanische Weltpolitik ist dualistische Scheidung der Menschheit in Spreu und Weizen.

b) Zwiedenken ist Denken im permanenten Widerspruch. Krieg ist Friede, Liebe Hass, Lüge ist Wahrheit. Dem Wahrheits- und Liebesministerium bei Orwell entsprechen die heutigen Kirchen, die noch nie Probleme hatten, ihre Widersprüche als biblische Botschaften abzusegnen. Christliche Moral ist nie eindeutig, sie schließt keinen Widerspruch aus.

Theologen bezeichnen ihre Moral als antinomische (antinomos = gegen das Gesetz). Zwar gibt es Gesetze und Gebote zuhauf im Alten und Neuen Testament. Doch die widersprechen sich nach Belieben, sodass es keiner großen Deutungskunst bedarf, um das jeweilig Opportune als Wille Gottes zu verkünden.

Der ökologische Spruch: Wir töten, was wir lieben, bringt es frappant auf den Punkt. Kein Folteropfer der Inquisition, dem man durch Quälen keine Liebestat erwiesen hätte: „Denn es ist besser für dich, dass du verstümmelt oder lahm in das Leben eingehst, als dass du zwei Hände oder zwei Füße hast und in das ewige Feuer geworfen bist.“ Jede Gräueltat der Christen, die sie als Liebeserweis deklarieren, soll dem Menschen schreckliche Höllenqualen ersparen und ihm eine letzte Chance geben.

Dem Akt der Liebe sind ins Humane und Inhumane keine Grenzen gesetzt. Liebe und mach, was du willst, sprach Augustin. Sündige tapfer nur glaube, sprach sein großer Schüler Luther.

Das biblische Denken in Widersprüchen hat seine säkulare Variante. Dass Politik sich durch Widersprüche in ihrer ganzen Haltlosigkeit entlarvt, hat sich in Deutschland noch nicht herumgesprochen. Die Deutschen lieben Widersprüche. Als Schüler Hegels zeigt sich ihnen die Wahrheit in Antithesen.

Bei Hegel müssen sich die Antithesen eines Tages in synthetisches Wohlgefallen auflösen. Doch darauf wollen ambitionierte Feuilletonisten nicht warten. In spätromantischem Hass gegen die Logik der Aufklärung nehmen sie Widersprüche als Signum höherer Wahrheit. Dass Vernunft darin besteht, durch Widerspruchslosigkeit mit sich in Einklang zu kommen, betrachten die Wirrköpfe als Diktatur der Vernunft.

a) Es bedarf heute keiner aufwendigen Umschreibung und Veränderung der Archive, um das Vergangene zu negieren, das im Widerspruch zur jeweils neuen Gegenwart steht. Dieses mühselige Korrigieren des Verflossenen, um es mit der Gegenwart zu harmonisieren wie es Winston Smith, der Protagonist, als tägliche Pflicht absolvieren musste ist heute als geheimer Akt überflüssig. Theologen als staatliche Wahrheitsbeamte üben diesen Job als hochgeachtete Hermeneutiker im hellen Licht der Öffentlichkeit aus. Was sie einst als absolute Wahrheit des Himmels verkündeten, wird heute mit exegetischer Delikatesse umgedeutet und modernen Zeitgeistbedürfnissen angepasst. Die Veränderung ist keine Verfälschung, sondern eine geistgewirkte neue Deutung.

Orwell nennt die veränderte Redeweise Neusprech. So ändert sich die Frohe Botschaft im Takt des stets neuen Zeitgeistes. Ununterbrochen werden neue korrekte Übersetzungen herausgegeben, mit denen bewiesen wird, dass Gott eine Frau, pazifistisch, demokratisch und menschenrechtlich war, die Ökologie und neuerdings auch die Homoehe und die Patchworkfamilie erfunden hat.

(Jan Fleischhauer wies neulich auf die unbegrenzte Anpassungsfähigkeit der Evangelen in einem SPIEGEL-Kommentar hin. Bascha Mika kritisierte Fleischhauer, weil er die übermäßige Biegsamkeit der Frommen kritisiert hatte. Beide Edelschreiber erkannten nicht, dass die Kirchen wie in 1984 – nach Belieben die Wahrheit verändern können, obgleich sie sich unverändert auf die gleichen Texte der Schrift beziehen. Eine abrupte Distanzierung von der Schrift ist ausgeschlossen. Der verlorene Sohn will sich lösen, indem er stets zum Vater zurückkehrt. Mit dem alten Kram wollen zeitbewusste Christen nichts zu tun haben, indem sie sich wie Schiffbrüchige am alten Kram festklammern.)

Christliche Gottesgelehrtheit besitzt die geistbegabte Kontrolle über die gesamte Vergangenheit des Abendlands. Was nicht zu ihrer dandyhaften Modernität passt, muss retrospektiv bis auf die Grundmauern abgerissen und neu aufgebaut werden. Der regelmäßige Modernitätsschub hievt die frommen Abendländer auf die allerneuste Schaumwelle des Zeitgeistes.

Was sie früher mit Feuer und Schwert verfolgten: damit haben sie heute ihren Frieden gemacht. Ja, die Kirche hat alles selbst erfunden, was sie früher als Allotria des Teufels mit Stumpf und Stiel ausrotten wollte. Nichts, was heute gut und teuer wäre, das sie nicht aus der Gottebenbildlichkeit der Gläubigen abgeleitet hätte.

Die säkulare Tochter der theologischen Vergangenheitsbewältiger ist die Postmoderne, die gar nichts mehr ändern muss, da es ohnehin keine zeitlosen Wahrheiten gibt. Der Fluss der Zeit lässt kein verstehbares Kontinuum der Geschichte zu. Was gestern war, versinkt von selbst. Das Neue des zukünftigen Tages ereignet sich. Wir schauen nicht mehr in die Vergangenheit, wir schauen stets nach vorn. Fortschrittswahn und grenzenlose Wirtschaft tun ein Übriges, um das Gestrige regelmäßig auf den Müll des Vergessens zu werfen.

In Orwells Worten: „Nicht genug, dass die Vergangenheit sich änderte, ihre Veränderung war fortlaufend und unaufhörlich. Mit dem Gefühl des Alptraums bedrückte ihn am meisten, dass er nie begriffen hatte, warum der ganze riesige Schwindel überhaupt vollzogen wurde Es hatte eine Zeit gegeben, in der es als Zeichen von Wahnsinn galt, zu glauben, die Erde drehe sich um die Sonne; heute war es Wahnsinn zu glauben, die Vergangenheit stünde ein für alle mal fest Die Partei lehrte einen, der Erkenntnis seiner Augen und Ohren nicht zu trauen. Das war ihr wichtigstes entscheidendes Gebot. Denn wie können wir schon wissen, ob zwei und zwei wirklich vier ist?“

In biblischen Worten klingen die Botschaften des Großen Bruders so: „Im Dienste Gottes nehmen wir alle Vernunft gefangen, indem wir rationale Erwägungen zerstören, und jeden hohen Bau des menschlichen Verstandes, der sich wider die Erkenntnis Gottes erhebt, und jeden irrigen Gedanken gefangenführen in den Gehorsam gegen Christus.

Bei Gott sind alle Dinge möglich, die dem Menschen nicht möglich sind. Er kann beweisen, dass zwei und zwei gleich fünf, die Kirche die Menschen liebt und seine Offenbarung die reine Vernunft ist.

Trotz aller Übermacht des theokratischen Regimes hatte Winston einen lichten Moment, bevor er durch Gehirnwäsche umgedreht wurde, um den Gott der Macht – pardon, der Liebe – anzubeten. Es ist eine der ergreifendsten Stellen im ganzen Buch:

„Und dennoch war er im Recht. Sie hatten unrecht und er hatte recht. Das Handgreifliche, das Einfache und Wahre mussten verteidigt werden. Binsenwahrheiten sind wahr, daran wollte er festhalten! Die stoffliche Welt ist vorhanden, ihre Gesetze ändern sich nicht. Steine sind hart, Wasser ist naß, jeder Gegenstand, den man loslässt, fällt dem Erdmittelpunkt zu. Mit dem Gefühl, einen wichtigen Grundsatz aufzustellen, schrieb er:

Freiheit ist die Freiheit, zu sagen, dass zwei und zwei gleich vier ist. Sobald das gewährleistet ist, ergibt sich alles andere von selbst.“

Mit dieser Kinderphilosophie würde Winston Smith heute keinen Schreiberjob erhalten. Weder in kirchlichen Liebesministerien, noch in medialen Wahrheits-Redaktionen. Im Verdrehen der Wahrheit haben wir Orwell um Längen geschlagen. Mit einwandfreien, legalen und demokratischen Methoden.