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Freitag, 28. Dezember 2012 – Neoliberalismus

Hello, Freunde der Superreichen,

wie Hitler Polen angriff, greift Obama die Superreichen an, so denken die Superreichen in Amerika. Reich sein und Wohlstand schaffen, heißt tugendhaft sein. Je reicher, umso tugendhafter. Nur Reiche schaffen Arbeitsplätze, man sollte sie deshalb nicht mit Steuern bestrafen, sondern belohnen. Leute wie Bill Gates sollten für ihre guten Taten vom Staat bezahlt werden.

Wer sind die wahren Opfer der Gesellschaft, nur noch vergleichbar mit verprügelten Ehefrauen? Die Superreichen, die einer bedrohten Minderheit angehören. „Wir werden ähnlich schlecht behandelt wie es bei manchen ethnischen Minderheiten der Fall war“, sagt ein Geprügelter aus Silicon Valley.

Wollen denn die Superreichen nichts für ihre Mitmenschen tun? Natürlich – durch Selbstbesteuerung, wie sie ihre Ablasswerke nennen. In Amerika verteidigt jeder sich selbst, schießt jeder selbst und bestimmt jeder seine Steuern selbst. Es ist ein steuerliches Lynchsystem. Einen Staat brauchen sie nicht. Gebet dem Kaiser, was des Kaisers, also fast nichts, denn er ist ein notwendiges Übel und eine heidnische Erfindung. Wer sich selbst besteuert, bestimmt auch den Zweck seiner Steuergelder.

In Amerika gibt es keinen Willen des Volkes, denn ein Volk gibt es nicht. Es gibt nur Einzelne, die zufälligerweise zusammenklumpen. Ich kenne keine Gesellschaft, sagte die eiserne Maggy Thatcher. Arme Leute schaffen keine Jobs, sie sind schlechte Menschen.

Die Superreichen aus allen Nationen leben in einer eigenen Welt. Sie haben rund um den Globus ihre eigenen Restaurants, schlafen in eigenen Hotels, ihre Kinder

besuchen dieselben Elite-Internate. Von ihren jeweiligen Mittelschichten haben sie sich abgenabelt.

Die Internationale der Proleten hat es nie gegeben, eine Internationale des Mammons gibt es. Geld ist solidarischer, pardon kohäsiver als Not. Mangel trennt die Notleidenden, Luxus führt zusammen.

Jeder, der sich anstrengt, kann reich werden wie sie, denken Superreiche. Sie glauben an die Gleichwertigkeit aller Menschen: jeder kann es schaffen. Schafft er es nicht, hat er seine gleichen Chancen vertan. Superreiche sind keine bösen Egoisten, sie kämpfen für das Wohl ihres Landes. Niedrige Steuern und Anarchie, pardon Deregulierung, tun jedem Land gut.

Zu Protesten in Amerika werde es so schnell nicht kommen, meint Chrystia Freeland in einem SZ-Interview von Matthias Kolb: „Auch wenn es nicht mehr nach oben geht, haben heute viele Amerikaner ein beträchtliches Wohlstandsniveau mit beheizten Wohnungen, Fernsehern und Reisen erreicht. Die meisten fühlen sich noch immer ziemlich wohl.“ Revolution vertagt.

Die SPD ist auf Weltniveau und hat einen Kanzlerkandidaten gewählt, der sich an den Superreichen messen lassen kann. Offen, wie er ist, vertritt er die Interessen – der Leistungswilligen, die man nicht mit ständig neuen Forderungen vergraulen darf:

„Man darf die Starken in ihrer Leistungswilligkeit nicht so provozieren und so verprellen, dass sie den Solidarvertrag aufkündigen.“

Von wegen, die Reichen würden zuwenig zum Wohl des Staates beitragen:

„Das oberste Einkommensfünftel leistet 68 Prozent aller Steuerzahlungen. Die unteren 50 Prozent aller Einkommensteuerpflichtigen tragen hingegen gerade einmal 6,5 Prozent und die untersten 20 Prozent lediglich 0,1 Prozent zum Steueraufkommen bei. Soll man das einen verteilungspolitischen Skandal nennen?“

Was ist soziale Gerechtigkeit? Wenn der Staat sich für jene einsetzt, die etwas für Wirtschaft und Staat tun:

„Soziale Gerechtigkeit muss künftig heißen, eine Politik für jene zu machen, die etwas für die Zukunft unseres Landes tun, die lernen und sich qualifizieren, die arbeiten, die Kinder bekommen und erziehen, die etwas unternehmen und Arbeitsplätze schaffen, kurzum, die Leistung für sich und die Gesellschaft erbringen. Um die und nur um sie – muss sich Politik kümmern.“

Nur um die darf es gehen, die etwas leisten und der Gesellschaft etwas bringen. Wer also der Gesellschaft auf der Tasche liegt, der sollte sich selbst überlassen bleiben. Das könnte jeder Superreiche in Amerika mit Herzblut unterschreiben. Auch die SPD ist der Meinung, wir hätten gleiche Startchancen. Wer sie nicht ergreift, muss einen moralischen Defekt haben.

Das macht den diskreten Charme der SPD: sie setzt sich unermüdlich für die Verlierer der Gesellschaft ein, doch wenn sie ehrlich sein will, widert ihre Klientel sie an. Bei dieser missmutigen Solidaritätshaltung der Exproleten kann es häufig zu mürrischen Gesichtsmienenentgleisungen à la Buschkowsky kommen. Wenn er ganz ehrlich ist – und beim Schreiben von Bestsellern ist er es – könnte ihn die moralische Verkommenheit von Verlierern und Ausländern schlicht und einfach ankotzen.

Schon eine anerkennenswerte Haltung, dass der Bürgermeister meistens unterdrückt, was er denkt. Auch er bringt Opfer für die Gesellschaft und niemand bemerkt es, weshalb Gott die Körpersprache erfunden hat.

 

Wer den Neoliberalismus ablehnt, muss illiberal sein. Was sonst, wäre er liberal, müsste er den Neoliberalismus begrüßen. So streng denkt Ulf Poschardt von der WELT, der seinem Kollegen Prantl fremdenfeindlichen Antiliberalismus vorwirft, weil der in der SZ den Herrn Rösler von der FDP mit der vietnamesischen Wasserpest verglich, die in Deutschland nichts zu suchen habe.

Es gibt verwirrende Reaktionsbewegungen in der neugermanischen Seele. Für die Deutsche Bewegung war alles gut, was deutsch und völkisch war. Nach der Niederlage mussten die Deutschen umdenken und stellten alles reaktiv auf den Kopf: alles ist gut, was nicht deutsch, sondern westlich oder amerikanisch ist. Inzwischen sind Jahre ins Land gegangen, die Deutschen sind alle well reeducated und gelegentlich kommt es vor, dass sie ihre Befreier kritisieren dürfen.

Doch es ist wie beim Verhältnis zu Israel, entweder liebt man das Land oder man hasst es. Kritik ist nicht vorgesehen, diesen sehr strapazierten Begriff gibt es unter Freunden nicht. In bibliogenen Kulturen muss man für klare Verhältnisse sorgen. Wer nicht für mich ist, ist gegen mich, formuliert das Neue Testament theologisch korrekt die Politik der Deutschen gegenüber Israel und Amerika.

Der Liberalismus ist liberal zu allem, was ihn liebt, herzt und unterstützt. Doch gegenüber Ablehnung und Kritik ist er vollständig illiberal. Man merkt seiner amerikanischen Version die Abkunft von Jesus an, der auch nicht sonderlich liberal war. Oder doch? Gibt’s nicht den Gegensatz zur Schwarz-Weiß-Einteilung der Welt, nämlich das Markuswort: „Denn wer nicht wider uns, der ist für uns“? ( Neues Testament > Markus 9,38 ff / http://www.way2god.org/de/bibel/markus/9/“ href=“http://www.way2god.org/de/bibel/markus/9/“>9,38 ff)

Wieder einmal einer dieser endlosen Widersprüche, aus denen sich jeder sein Lieblingssträußlein pflücken kann? Nöö. Bei Markus ging es um einen Herrn, der im Namen Jesu Dämonen austrieb, wogegen die bornierten Jünger etwas hatten und es ihm verbieten wollten. Doch Jesus ist schlauer, als er auf den meisten Gemälden auszuschauen pflegt. Ist das nicht ein Verbündeter, wenn er sich auf meinen Namen beruft? fragt er. Er wird sich nicht mehr gegen uns stellen, wenn er unsere Sache theoretisch und praktisch vertritt.

Rahner würde von einem Noch-nicht-Christen sprechen, der schon auf dem richtigen Weg ist. Wie kann einer gegen Jesus sein, der nicht gegen ihn ist? Es bleibt dabei, wer gegen Jesus ist, wird verdammt, wer nicht, wird selig gesprochen.

So ist es auch mit den Kritikern des Liberalismus, die alle die Freiheit hassen, vor allem die aus Amerika und Vietnam. Man muss nur mal nachlesen, in welchen Umständen die Wasserpest am besten gedeiht, da kann kein Mann von Welt auf den extrem dynamischen Wirtschaftsminister Rösler kommen.

„Die Wasserpest-Arten gedeihen besonders in sommerwarmen, nährstoffreichen, aber nicht übermäßig belasteten, stehenden oder langsam fließenden Gewässern (Weiher, Teiche, Stau- und Baggerseen, Gräben, Flüsse etc.) mit sandig-schlammigem Grund.“

Was hat diese Beschreibung mit der reißend dahin schießenden, alle Rivalen überflutenden, effektivsten Wirtschaft der Welt zu tun? Was kann das für ein schreckliches Gewächs sein, wenn schon der Dichter Hermann Löns apokalyptische Visionen hatte, ohne dass sie inzwischen eingetreten wären? „Inzwischen ist Elodea canadensis aber wieder zurückgegangen und bildet kaum noch Massenbestände.“

Prantl, für genaues Recherchieren bekannt, hätte sich niemals für die Wasserpest entschieden, wenn er die reale biologische Art gemeint hätte. Also konnte er nur metaphorisch die biblische Pestilenz gemeint haben, mit der der Herr der Heerscharen seine Feinde auszurotten pflegte. Auch kein netter Akt, wenngleich von jedem bayrischen Fluch gedeckt, der weder Himmel noch Hölle scheut, um vorwitzige Preußen zur Raison zu rufen: Himmelherrgottsakramentkruzitürken noch mal.

Das Planschen der beiden Herren im Wasserbecken zeigt die Fallhöhe deutscher Auseinandersetzungen in Lebensfragen. Argumente und Sachkenntnisse gibt’s keine, aber scharfe Lagereinteilungen. Natürlich ist nicht alles falsch, was aus dem angelsächsischen Bereich kommt. Wahrheit hat es – außer im Falle Bethlehem – nicht mit Orts- und Zeitverankerungen zu tun. Was im Umkehrschluss bedeutet, dass auch nicht alles automatisch richtig sein muss, was unsere großen Befreier uns an Sensationen beschert haben.

Poschardt reagiert wie der Papst, der sich über die gottlosen Horden beschwert, die es wagen, das Heilige anzuzweifeln. Wird eine totalitäre Unfehlbarkeit angegriffen, kann es nur durch eine totalitäre Vernunft sein, befinden die Apologeten der Unfehlbarkeit.

Was der Neoliberalismus mit „antiautoritärem Freiheitsgift“ zu tun haben soll, muss ein Gentleman wie Poschardt nicht belegen. Wie viel ist über dieses Thema geschrieben worden? Doch ein anglophiler Gazettenmacher gibt sich mit lästigen Erkenntnissen nicht ab. In regelmäßigen Abständen liest man hierzulande immer dieselbe Gardinenpredigt über die deutschen Feinde der Freiheit. Lieber wären sie gleich und abgesichert, als frei den Stürmen des ewig neuen Risikos ausgesetzt.

Die alten Griechen müssen kognitiv beschränkt gewesen sein, dass sie den Antagonismus von Gerechtigkeit und Freiheit nicht bemerkt haben. Übrigens wäre dasselbe Argument auch gegen die Frohe Botschaft zu wenden. Gottes Gerechtigkeit will die Menschen zur rechten Freiheit führen. Das sollten bibelfeste Amerikaner doch begreifen können.

Wer sozial denke, so Poschardt, habe sich der „Zivilreligion des Sozialen“ unterworfen. Auch linksliberale Ideen hätten mit Liberalismus nichts, aber auch gar nichts zu tun. Das sei reine Gesinnungsethik, die „überraschend intolerant auf andere Weltanschauungen reagiert.“

Auch da könnte man, wenn man nicht gar zu fein wäre, einige schüchterne Fragen stellen: Ist Gesinnung intolerant? Oder nur reine Gesinnungsethik, die sich mit anderen Gesinnungen nicht bekleckern will, und also totalitär werden muss, um sich rein durchzusetzen? Dann wäre sie doch bekleckert! Warum nennt Poschardt das Ekelhafteste dieser Welt rein?

Poschardt will den „drallen Sozialstaat“ abspecken, der nicht mehr zu finanzieren wäre. Ob dies der Schreiber bei der Finanzierung der bankrotten Banken auch geschrieben hat?

Woran bemerkt man, dass jemand sich zur Elite zählt? (Alle hübsch aufgepasst, die noch einige Stufen nach oben vor sich haben.) Er muss den Eindruck erwecken, als müsste er alle Sozialausgaben aus eigenem Säckel berappen. Dabei stöhnt er wie ein genervter Patriarch, der seinen Bälgern schon wieder das Taschengeld erhöhen muss.

(Man höre sich mal die Stimmen der halbstaatlichen Kanäle an: schon wieder muss der Staat Milliiiiaaarden für die Hartz4-Erhöhungen aufbringen, spricht Frau Gerster im ZDF mit besorgter Stimme und schon wieder weiß sie nicht, wo der geplagte Papa das Geld hernehmen soll.) Da zuckt doch jeder Loser zusammen, der sich den Vorwurf machen muss: wie kann dieser gütige Staat mich nur dulden und ertragen, wo ich ihm nur Kummer und Sorgen bereite?

Diese Sozialgläubigen, sie wollten sich’s nur schön machen, ihnen ginge es nur um einen „Wohlfühl-Überbau“. Überbau heißt, die armen Leistungsträger – oder der geplagte Unterbau – müssen die arbeitscheuen Paschas in der sozialen Sänfte herumtragen und werden zum Dank von diesen intolerant angeblafft.

Auch hier sind die Reichen und Werteschöpfer die Dummen. Im Gegensatz zu ihren Kritikern aus der Wohlfühlschaukel können sie sich nicht den Luxus erlauben, ihre „gottgefällige Seelenlandschaft“ mit „Sonntagsreden und Urteilen des Bundesverfassungsrichts“ zu pflegen.

Und überhaupt die deutschen „Gemütlichkeitsbedürfnisse“, die mit Burn-out simulieren und über Hektik lamentieren, dass die Schwarte kracht. Die globalen Herausforderungen nähmen halt zu wenig Rücksicht auf deutsche Faulbettbedürfnisse.

Freiheit wirke ansteckend und gefährde jenes statische Gleichgewicht, von dem die Kapitalismuskritiker so gerne träumten, um Freiheit und Flexibilität für immer zu fixieren.

In Deutschland werde Freiheit als Bedrohung wahrgenommen, es könnten ja Leute auf die Idee kommen, das Gemeinsame und Soziale neu zu bewerten und zu durchdenken. Gerade Deutschland bräuchte die Stimme der Freiheit am meisten.

Womit wir nun alle Vorurteile der Amerikaner gegen die Deutschen abgearbeitet hätten.

(Ulf Poschardt in der WELT über deutschen Antiliberalismus)

Man fragt sich, in welcher tief gepolsterten Lounge-Abteilung dieser Gesellschaft der Verfasser seinen abendlichen Long-Drink zu nehmen pflegt. Deutschland ist seit Erhard ein Wirtschaftswunderland und ist es mit einem Körnchen Salz bis heute geblieben. Eine der stärksten Exportnationen der Welt, mit Sicherheit die stärkste Wirtschaftslokomotive Europas. Wie schaffen dies die Gemütlichkeitsfanatiker nur, obgleich sie ihr Lotterleben am liebsten in der Hollywoodschaukel auf Kosten des Staates verbringen?

Mit dem Trick des Katastrophismus – in jeder Talkshow stand das Land einen Meter vor dem Abgrund – wurde hierzulande die soziale Marktwirtschaft attackiert und der Neoliberalismus mit allen Listen der Massenbeeinflussung in den Köpfen des Volkes verankert. Das überflüssige Wort Demokratie kommt bei Poschardt kein einziges Mal vor.

Die Gesellschaft wird nur durch Erwerbsarbeit zusammengehalten. Der ganze Bereich sozialer Beziehungen von der Geburt bis um Tod – mit keinem Wort erwähnenswert. Eine moderne Gesellschaft lebt allein von Ökonomie. Die gesamte biologische und psychologische Basis allen Lebens und Wirkens ist von der Freiheit des Profitemachens absorbiert. Gebären, erziehen, spielen, feiern, betreuen, lernen, krank sein und sterben: alles schwarze Löcher in Poschardts supraliberaler Leistungsgesellschaft.

Besteht die Grundfreiheit einer Volksherrschaft nicht darin, selbst zu entscheiden, wie es arbeiten und leben will? Auch wenn es sich mit weniger Wohlstand begnügen wollte? Wäre das nicht Ermessenssache des Volkes? Besteht Freiheit darin, den Freiheitsbegriff ökonomischer Raubritter zu übernehmen?

Von einem guten Leben ist überhaupt keine Rede. So wenig wie von den ökologischen Kosten einer Turbowirtschaft. Ist Freiheit nicht das Recht, Urfragen zu stellen und sie selbst zu beantworten? Ist globalisierte Wirtschaft nicht der schlimmste Zwang, die Wirtschaftsform des Westens zu übernehmen – oder aus der Geschichte abzusteigen?

Haben in früheren nichtkapitalistischen Zeiten die Menschen nicht gelebt? Vermutlich wesentlich zufriedener – auch bei weniger BIP – als unter den Zwängen des rasenden Wettbewerbs? Wo steht geschrieben, dass alles unter Bedingungen destruktiver Rivalität ablaufen muss?

Ist Zwang zu einer sogenannten Freiheit – Freiheit oder Zwang? Zwang zu Wachstum, Zwang zur Dauermaloche, Zwang zu einer unendlichen Wohlstandshöhe, Zwang zur zwanghaften Technisierung des Lebens? Sollen alle diese Zwänge der Inbegriff von Freiheit sein?

Der Westen – halten zu Gnaden, vor allem Amerika – hat seine natur- und menschenfressende Ökonomie der Welt mit wirtschaftlichen Erpressungen, mit Kanonen und Mörsern aufgezwungen. Freiheit? Nicht mal Hayek spricht von Entscheidungsfreiheit, sondern von Gesetzen der Evolution, denen die Menschheit gehorchen muss. Kein Volk kann sich aus diesem globalen Verhängnis heraushalten – es sei, es will in der Bedeutungslosigkeit untergehen.

Wenn in China ein Schmetterling zu fliegen beginnt, wackeln in New York die Wände der Wallstreet. Freiheit? Wenn in Fukushima ein Atommeiler in die Luft geht, ist die ganze Welt betroffen. Freiheit? Wenn Silicon Valley, die diktatorische Kreativschmiede der Welt, einen Furz lässt, hastet die Welt hinterher, um nicht abgehängt zu werden. Freiheit? Wenn Republikaner und Demokraten in Washington sich in Fiskalfragen nicht einigen können, drohen ökonomische Welterschütterungen. Freiheit? Wenn eine Riesenbank der babylonischen Marke Too big to fail zu kippen droht, hasten die Finanzminister der wichtigsten Staaten, um ein Notprogramm zusammenzuschustern. Freiheit?

Das sei nun mal der Gang der Ereignisse? Da könne man nicht herumklügeln, um dem besten Leben nachzuschwärmen? Das seien harte Fakten? Indeed! Zwangsfakten! Aber keine Freiheit.

Man kann die Leistungsträger nicht darstellen, als müssten sie die größten Lasten des Seins unter dem Diktat des Realitätsprinzips schultern, sie gleichzeitig aber als die Freiesten der gesamten Weltgeschichte preisen. Der Neoliberalismus ist das despotischste System, das die Welt je erfunden hat – knapp unter den diktatorischen und totalitären Staatserfindungen.

Die verhängnisvollsten Zwangssysteme sind nicht die offensichtlich schrecklichsten – gegen die kann man sich wehren, die kann man bekämpfen –, sondern jene, die unter dem Mantel der Freiheit die ganze Welt nach ihrer Pfeife tanzen lassen. Sollte die Menschheit sich, was Gott verhüten mag, allmählich ihr kollektives Grab schaufeln, wird es kein Faschismus gewesen sein, der ihr den letzten Rest gegeben hat, sondern der freieste calvinistische Virus, den die Heilsgeschichte je kannte – um die doppelte Vorherbestimmung der Freien zu verschleiern.

Die mächtigste Nation der Welt, die sich einem Gott der Geschichte unterwirft der selbst die Haare auf dem Kopf seiner Jünger zählt, will gleichwohl die freieste sein? Das erinnert an das zauberhafte deutsche Lied: Die Gedanken sind frei, wer kann sie erraten?

In Gedanken ist der deutsche Phantast immer frei – auch wenn er im finsteren Kerker sitzt, denn seine Gedanken zerreißen die Schranken. Er kann sagen, was er will – doch alles in der Still und wie es sich schicket. Sein Wunsch und Begehren kann niemand verwehren – von realer Erfüllung der Wünsche und Begehren hat niemand gesprochen. Die Gedanken sind frei, kein Jäger mit Pulver und Blei kann sie erschießen. Die Gedanken nicht, aber den, der sie hat. Vielleicht nicht mit Pulver und Blei, zur Not tut‘s auch ein Sturmgewehr. Poschardts Artikel ist ein Amoklauf – gegen alles, was sich mit Fug und Recht Freiheit nennen kann.

Alexander von Rüstow, der genialste deutsche Wirtschaftler – den zu kennen mediale Schreiber nicht nötig haben – nannte den heutigen Neo-Liberalismus einen Paläo-Liberalismus: einen Steinzeitliberalismus.

Was vermuten Sie, warum, Herr Poschardt? Weil er identisch war mit dem ältesten Naturrecht der Starken, die sich der demokratischen Macht der Majorität und der Mitsprache der Überflüssigen elegant entledigen wollten.

Noch eine markante Schlussbemerkung von Rüstow. Der heutige Neoliberalismus, behauptet er, entstamme der Theologie und habe einen religiösen Missionierungs-Charakter:

„Dieser theologisch-metaphysische Ursprungscharakter als Erlösungswissen – statt als Leistungswissen – gab dem Liberalismus in einer noch theologiebeherrschten Welt eine ungeheure Missionierungskraft und einen unwiderstehlichen Schwung: die Jünger fühlten sich getragen von der Überzeugung: Gott will es.“

Deus lo volt, war die fanatische Fanfare des Mittelalters, die zu den Kreuzzügen aufrief. Der Papst unterschrieb höchstpersönlich das Verdammungsurteil in die Hölle, wenn einer es wagte, dem Befehl Gottes seine persönliche Freiheit entgegenzustellen.

Der amerikanische Liberalismus ist der verzweifelte Versuch, eine deterministische Himmel- und Höllenreligion mit grellsten Farben berserkerischen Wütens in Freiheit umzuschminken und als Gipfel der Moderne anzupreisen. „Somit kommt es nun nicht auf den an, der will, noch den, der läuft, sondern auf Gott, der erbarmt.“