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Freitag, 26. April 2013 – Tafel-Kapitalismus

Hello, Freunde des Tafel-Kapitalismus,

Tafel ist der gedeckte Tisch der Reichen, der Strenge und Üppigkeit zu einem Gesamtkunstwerk verbindet. Tafel ist der Inbegriff wohlgemuten Feierns bei denen, die auf der schönen Seite des Lebens stehen.

Bei denen auf der anderen Seite ist Tafel eine funktionelle Platte, an der sie abgefüttert werden, damit sie in einem reichen Land nicht verhungern. Bedient von prominenten Politikern und Kirchenfürsten, die sich beim Dienst am Nächsten gern ablichten lassen, um ihre überfließende Liebe zu den Schwachen der Welt kund zu tun.

Anstatt ihre Pflicht zu tun und für gerechte Gesetze zu sorgen, lassen sie Ungerechtigkeit übers Land kommen, damit sie sich als Liebes-Giganten präsentieren können.

Im Tafel-Kapitalismus nehmen die Reichen 99% des Gesamtwohlstands und geben 1% zurück. In beiden Disziplinen wollen sie Weltmeister sein: im Geben und im Nehmen. Die Herren haben gegeben, die Herren haben genommen, die Namen der Herren seien gepriesen. (Peter Grottian in der TAZ)

Die Politiker werden alles unterlassen, um die Existenz der Tafeln überflüssig zu machen. Gewiss sind sie für soziale Absicherung der Zukurzgekommenen. Nein, Neoliberale sind sie nicht. Sie sind Vertreter der sozialen Marktwirtschaft und reden gern über katholische Soziallehre, ohne die es keine soziale Marktwirtschaft gäbe.

Gesunde bedürfen des Arztes nicht, also müssen die Ärzte dafür sorgen, dass

es Kranke gibt, die die Ärzte benötigen. Arme habt ihr allezeit. Und wenn nicht, sorgt dafür, dass ihr allezeit Arme habt. Der Staat ist kein Arzt, sondern eine kalte Einrichtung, die nur soviel Gutes tun soll, damit kein Heide dem christlichen Staat Unmenschlichkeit vorwerfen kann. Aber nicht so viel Gutes, dass die Ärzte nicht mehr gebraucht werden.

Der Geist heilt die Wunde, die er zuvor selbst geschlagen hat. Das war Hegel, der noch an die komplette Heilung der Wunde glaubte. Ein christlicher Sozialpolitiker glaubt an keine Heilung der Wunde – die dem himmlischen Arzt vorbehalten bleibt. Ein sozialer Staat soll die Wunde nur notdürftig verbinden, dann aber die Kranken an den himmlischen Arzt verweisen: das ist katholische Soziallehre oder evangelische Sozialethik.

Man will die Übel nicht beheben, sondern notdürftig eindämmen. Irdische Übel seien irreparabel. Hier hülfe nur eine übernatürliche Totaloperation: der Glaube an den übernatürlichen Heiland. Wer die Krankheiten der Menschen total ausheilen wolle, sei ein totalitärer gottvergessener Moralist.

Würden die Menschen ihre Übel so gründlich heilen, dass sie den Eindruck hätten, ihnen für immer entkommen zu sein, hätten sie das Dogma der Erbsünde widerlegt. Erbsünde ist die Wunde der Menschen, die nie verheilen darf. Man kann sie verbinden, überschminken und kaschieren. Man kann sie aber nicht kurieren. Christliche Soziallehre ist Verbinden der Wunde, Überschminken und Kaschieren.

Am Anfang des Christentums stürzten sich die Neubekehrten auf die schwärenden Wunden des heidnischen römischen Staates, um zu zeigen, dass sie eine bessere Moral hätten als die civitas diaboli, der Staat des Teufels. Schaut, wie sie sich lieben, das war die primäre PR-Agape der Frommen, um die Menschen für sich zu gewinnen. Das gelang ihnen vortrefflich.

Es war gar nicht schwer, denn die besten Tage der heidnischen Vorzeigestaaten waren lange vorbei. Die griechische Polis war verschollen, die ursprüngliche res publica der Römer zu einer Willkürherrschaft unermesslich reicher neoliberaler Eliten verkommen.

Vorsicht: moderne Begriffe darf man nicht benutzen, um historische Verhältnisse zu kennzeichnen. Pöhlmann und Rostovzeff, zwei herausragende Althistoriker, wurden von ihren Kollegen ernsthaft ermahnt, nicht solche Modernismen wie Kapitalismus zu verwenden. Sonst bestünde die Gefahr, dass der Mensch aus der Geschichte lerne. So weit käme es noch.

Aus der Geschichte kann der Mensch nichts lernen. Keine Epoche ist mit keiner Epoche vergleichbar, der Mensch von früher hat keine Ähnlichkeiten mit dem modernen. Mit seinem Mund konnte er nicht essen, mit seinen Augen nicht sehen. Nicht nur jeder Mensch, jede Epoche ist einmalig und mit keiner zu vergleichen. Das geschichtliche Lernverbot nennen Fachleute Historismus.

Historismus ist Individualismus der Epochen. Alles auf der Welt ist besonders und einzigartig. Niemand kann von niemandem lernen. Wenn ein Amerikaner seinen besonderen Weg geht, will er sagen, dass er lernunwillig ist. Pardon, dass er von niemandem lernen kann und seine Besonderheit jeden Schwachsinn der anderen wiederholen muss.

Jede Einzigartigkeit ist mit sich allein. Leibniz sprach von Monaden. Menschen sind psychische Kugeln, die vollständig in sich geschlossen sind, keine Fensterlein besitzen, durch die sie ins Freie schauen können, um mit dem Nachbarn zu plaudern, sich mit ihm auszutauschen und vielleicht sogar von ihm zu lernen.

Amerikaner sind Leibniz’sche Monaden – und wissen nicht mal, dass ein deutscher Professor ihr unerhört fortgeschrittenes Leben geprägt hat. Wüssten das die Amerikaner, sie würden sofort eine Armada von Drohnen schicken, um den Professor im Grabe zu eliminieren. Denn Amerikaner lieben es nicht, sich von Alteuropäern bestimmen zu lassen. Sie haben alles neu erfunden. Sogar Freiheit und Menschenrechte haben sie sich ganz frisch von ihrem himmlischen Vater herunterreichen lassen.

Die Tschechen zittern bereits ob der Lernunfähigkeit der Amerikaner, die schon gedroht haben, mit ihren Fernraketen ganz Tschechien in Staub zu verwandeln. Warum? Weil zwei Tschechen das Attentat in Boston verübt haben sollen. Dass Tschetschenien nicht Tschechien ist, erklärt in flehendem Ton der tschechische Botschafter in jeder amerikanischen Talkshow, um das Schlimmste für sein Land zu verhindern.

Möglicherweise liegt dem Krieg gegen den Irak auch eine Verwechslung zugrunde. Vermutlich wollte man den Ajatollastaat Iran heimsuchen. Dass sie im Irak gefährliche Massenvernichtungswaffen gefunden haben wollten, lag sicher daran, dass sie alte Ölfässer fanden, auf die Saddam mit frischer Farbe hatte schreiben lassen: „Gefährliche Massenvernichtungswaffen!“

Kurz und gut: amerikanische Leibnizkugeln sind lernresistent, Lernen haben sie nicht nötig. Laut Leibniz sind Monaden allwissend. Bei Leibniz wussten die vollkommenen Kugeln nicht, dass sie allwissend sind. Ihre Allwissenheit mussten sie erst aus dem Dunkel ihres Unbewussten ans Licht bringen. Bei Amerikanern ist der Bewusstseinsprozess ans Ziel gelangt: sie wissen, dass sie allwissend sind.

Wenn Obama auf einem Foto eine Menschenmenge sieht, weiß er sofort, wer in seinem Herzen Böses gegen die Amerikaner hegt. Den kreuzt er an, dann ist‘s um ihn geschehen. Ähnlich in Guantanamo. Dort sitzen Menschen, die hartnäckig ihre Unschuld beteuern, selbst mit Foltermethoden kann man ihnen nichts nachweisen. Das interessiert die allwissende amerikanische Politelite nicht. Sie weiß untrüglich, dass es sich um schwere Verbrecher und Attaqueure gegen Gottes eigenes Land handelt.

Als die Urchristen noch nicht an der Macht waren, haben sie die Macht der Welt madig gemacht. Als sie vom Staat anerkannt waren, unternahmen sie alles, um ihn zu unterwerfen. Schaut, sagten sie, was für lieb- und trostlose Horden, diese irdischen Staaten. Menschen verrecken und niemand kümmert sich um sie. Hatten sie Recht?

Unbedingt. Der römische Staat war in einer ungeheuren Weise verrottet. Die römischen Massen waren zu einem Lumpenproletariat herabgesunken. 1% der Eliten besaß 99% des römischen Reichtums. Hat jemand schon ein Deja vue?

Durch unendliche Kriege waren die selbständigen Bauern, die ständig zu den Waffen gerufen wurden, in tiefste Armut gestürzt. Auch im antiken Italien begann der Kapitalismus mit Bauernlegen. Es sollte keine stolzen und autarken Bürger geben. Also verwandelte man das Dasein in einen immerwährenden Krieg, um alle stabilen Normalitäten zu zerbrechen.

Der römische Bürger musste sein Leben lang mobil und flexibel sein – im Waffengang weit weg von seiner Heimat. Während seiner Abwesenheit verfiel sein Hof, seine Schulden stiegen ins Unermessliche: er wurde enteignet. Als die römische Mehrheit sich nicht mehr ernähren konnte, erfand der Kaiser mit seinen Schranzen eine Art BGE auf Weizenbasis. Riesige „Sozial“-Flotten mussten täglich Weizen aus allen Regionen der pax romana in der ewigen Stadt anliefern, um die vielen hungrigen Mäuler notdürftig zu stopfen. Eine logistische Meisterleistung.

Man sieht, schon die Römer haben die Tafeln erfunden. Enteignet das Volk, um es mit Brosamen über Wasser zu halten. Es war ja nicht so, dass die römischen Eliten von Anfang an hartherzig ihre Untertanen behandelten. Das ergab sich erst durch Verrohung und Verwilderung der pax romana. Am Ende des Niedergangs wurden die Volksmassen mit dem Gröbsten versorgt – damit sie keinen Aufstand machten. Das kam nicht selten vor und steckte den Machthabern in den Knochen. Der Spartakus-Aufstand war eine der heftigsten und gefährlichsten.

Wie Bismarck die Sozialgesetze erfand, um marxistisch aufgeheizte Proleten zu besänftigen, so erfanden die Römer Brot und Spiele. Brot war die tägliche Weizenration, Spiele waren das damalige öffentlich-rechtliche Unterhaltungsgewerbe im Circus Maximus, wo „Dschungelcamp“ in echt gezeigt wurde: wilde Tiere gegen Gladiatoren, Gladiatoren gegen Gladiatoren. Wenn das Blut nicht in Strömen floss, war das Publikum schlecht gelaunt. Grausamer konnte es nicht zugehen.

Der spätere Kirchenvater Tertullian verglich die Hölle mit diesen Szenerien im Circus Maximus – an denen er sich hoch erfreute, weil er von seiner himmlischen Loge aus die Wahnsinnstaten beobachten konnte.

Als der römische Staat immer mehr zerfiel – nicht aus mysteriösen Gründen, sondern weil es keine Macht der Bürger gab, um die Eliten an die Kette zu legen –, verfielen die täglichen Massenspeisungen. Die Kritik der Christen an unmenschlichen Zuständen in Rom bestand zu Recht.

Es waren nicht die Christen, die Rom zugrunde richteten, es waren die Römer selbst, die es zuließen, dass die alte demokratische res publica, Volk und Senat von Rom, sich in eine wüste Oligarchie verwandelte.

Wenn Demokratien zerfallen, tragen allein die Demokraten Schuld. Jede Gesellschaft hat die Regierung, die sie verdient. Im Dritten Reich war es nicht eine kleine Clique, die sich der maroden Weimarer Regierung bemächtigte, sondern die deutsche Gesellschaft, die sich diese Clique gefallen ließ. Ja, mehr, sie herbei sehnte – um Ordnung mit eisernem Besen zu schaffen. Die Deutschen fühlten sich nicht mehr imstande, ihren Staat ins Reine zu bringen. Ihr Pessimismus, ihre apokalyptischen Ängste wurden schuldig, weil sie einen Messias nötig machten, der mit ihnen Schlitten fuhr.

Wenn Europa zerfällt die Zustimmung der Europäer zu ihrem Kontinent fällt zurzeit ins Bodenlose – dann sind nicht nur einige Elite-Hanseln dran schuld. Sondern alle Europäer. Das Gefasel von der Politverdrossenheit ist kaum noch zu ertragen. Politikverdrossenheit ist ein ander Wort für Hoffnungslosigkeit. Wo die Menschen sich nichts mehr zutrauen, stehen die Totengräber vor der Tür – oder die Heilande und Führer.

Es sind nicht nur die Medien, die ihren demokratischen Geist an der Garderobe abgegeben haben. Es sind Ich, Du, Er, Sie, Es, Wir, Ihr und Sie. Passive Verdrossenheit in Demokratien ist gefährlicher als Terrorismus. Wer in dekadenter Blasiertheit abseits steht und sich nicht ins Gemenge stützt, der hat die Demokratie für einen Literaturpreis verraten.

Ekel am Leben, kandiert in Verse, ist nicht preiswürdig in einer Demokratie, die man für einen Bestseller verrät. Iris Radisch ist mal wieder entzückt über einen Laureaten des Ekels. Der moderne Ekel am Leben war in früheren Zeiten die perverse Verliebtheit verzückter Nonnen in die Wundausscheidungen ihres Herrn und Heiland.

Wie ein Demokrat zu seiner Motivation kommt, ist allein sein Problem. Wie hatte er sie denn verloren? Gibt es verantwortliche Eltern, die aus pädagogischer Verdrossenheit ihr Kind sich selbst überließen? Sie überlassen es aber sich selbst, wenn sie die Demokratie sich selbst überlassen. Kein Kind hat eine Zukunft, wenn seine Umgebung verschütt geht.

Wenn das Ganze versagt, muss das Teil versagen. Das Teil ist vom Ganzen abhängig: das ist die ganze Wahrheit von Gemeinnutz und Eigennutz. Der Einzelne ist verloren, wenn die Gemeinschaft ihn im Stich lässt. Die Gemeinschaft ist verloren, wenn der Einzelne sie im Stich lässt.

Solche Trivialitäten werden von Neoliberalen unterminiert, von Politologen und Soziologen nicht verstanden und von Medialen verhöhnt. Doch wehe, wenn die erwählten Herren morgens aus dem Haus gehen und in der U-Bahn die Fresse poliert kriegen. Dann ist der Untergang des Abendlandes angesagt.

Die Christen haben das stolze Rom nicht unterminiert. Das hätten sie nie geschafft. In Hochzeiten der athenischen Polis und der römischen Republik hätten die Jenseitsgucker und Lazarettisten keine Chance gehabt. Christen leben davon, dass die Kinder der Erde darben. Das junge Christentum hat von den tödlichen Wunden profitiert, die sich Rom selbst zufügte.

Was aber taten die Frommen, um den Menschen zu helfen? Sie reparierten nicht den Staat, sie halfen nicht bei der Wiederherstellung einer stabilen Volksherrschaft. Im Gegenteil: sie errichteten einen Staat im Staate – die Kirche –, der dem irdischen Staat den letzten Blutstropfen aussaugte und sich wie Gewürm in den Wunden der Sterbenden einnistete. Sie nannten sich den göttlichen Staat – civitas dei –, um die Menschen mit Verheißungen unter ihre Fittiche zu locken.

Dies gelang ihnen bravourös, denn die Bevölkerung lag im Exitus. Die Miserablen konnten den himmlischen Versprechungen nicht widerstehen. Der Mensch im Delirium glaubt jeder Fata Morgana. Die Frohe Botschaft war die Fata Morgana einer politischen Welt, die sich selbst zugrunde richtete. Die civitas dei dachte nicht daran, die civitas terrena (den irdischen Staat) zu revitalisieren. Ihre Kraft empfing sie aus dem Bewusstsein des endgültigen Endes und eines wunderhaften Neuanfangs. Es waren apokalyptische Zeiten. Die Menschheit war ausgelaugt. Sie wollte nur noch den Großen Sprung machen, den Abflug ins Nirwana.

Noch immer kein Deja vue? Dann bist du, oh Freund, nicht mehr zu retten. Pardon, du bist Anhänger des Historismus und meinst: Nichts wiederholt sich, alles ist immer völlig neu. Aus der Geschichte könne man nicht lernen. Doch wozu lernen die Kinder den ganzen Schrott, wenn sie nichts lernen dürfen? Antwort: sie sollen ihre Väter und Vorväter nicht mit unziemlicher Kritik überziehen. Die Geschichte sollen sie anbeten, aber nicht verstehen.

Vor allem sollen sie die Gegenwart mit nichts vergleichen. Sonst kämen sie von der Schule nach Hause und würden ihre Eltern fragen: warum macht ihr Erwachsenen eigentlich immer denselben SCHEISS?

Mach Dir kein Bildnis noch Gleichnis, weder dessen, was einst passiert, noch dessen, was ununterbrochen passiert. Stell keine Vergleiche an, denn nichts gleicht dem andern. Leb dem blinden und tauben Augenblick. Schau nicht zurück, sondern schau vorwärts, Engel: ins Himmelreich.

Dort freit man nicht und wird nicht gefreit. Dort gibt’s keine lästige Demokratie und der Herr der Heerscharen entscheidet alles. Der himmlische Vater weiß besser, wessen du bedarfst und wonach du dich sehnst: nach der Großen Ruhe. Friede deiner Asche.