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Freitag, 07. Juni 2013 – Feministische Utopie

Hello, Freunde der Kinder, die nicht gebrochen werden,

wer seine Kinder liebt, der drischt und züchtigt sie. Bei den „Zwölf Stämmen“, einer biblizistischen Kirche, werden Kinder täglich mit Stöcken geschlagen. Nach Meinung der Eltern sind Schläge keine Misshandlungen, sondern Liebesbeweise. „Mindestens dreimal täglich würden die Kleinen auf den nackten Hintern, Rücken, Arme und Beine geschlagen, berichteten sie. «Es ging nicht darum, ob man etwas Schlechtes getan hatte, sondern darum, uns innerlich zu brechen.»“

Das Land Bayern will den liebenden Schlägern die Lizenz entziehen, eine eigene Schule zu unterhalten. Die Zwölf Stämme denken über einen Umzug nach Tschechien nach. Um der Schulpflicht für ihre Kinder zu entgehen. (Beate Wild in der SZ)

Kinder sind schuldig. Sie sind abgrundtief böse, weil sie den ungeheuren Fehler begingen, sich von ihren Eltern in lüsterner Erbsünde zeugen zu lassen. Wenn sie ungetauft sterben, fahren sie direkt in die Hölle. So bis vor kurzem bei den Katholiken. Und wenn sie nicht schuldig sind, werden sie so lange geprügelt, bis ihnen die Schuld aus allen Poren quillt. „Denn ich bin mir nichts bewusst, darum bin ich nicht gerecht gesprochen.“ Damit war das Bewusstsein vom Thron gestoßen, das Unbewusste wurde zum Triebkessel des Bösen.

In selbsterfüllender Prophetie hat die christliche Menschheit solange Verwerfliches erfunden und verdrängt, bis das Unbewusste zum Müllcontainer des Bösen wurde und dem wachen Menschen das Steuer entriss. „Denn sie wissen nicht, was sie tun“, war ein sokratischer Satz, den sich der Heiland zunutze machte, um

die Menschen schuldig zu sprechen.

Bei Sokrates war das Eingeständnis des Nichtwissens die Voraussetzung, um Wissen und Erkenntnis zu finden. Bei Jesus, um für immer auf eigenes Erkennen zu verzichten und die Wahrheit des Erlösers im Glauben zu übernehmen. „Ich glaube, um zu erkennen“. (Anselm von Canterbury)

Das Ich wurde geschwächt, um das Es zum dunklen, unberechenbaren Motor des Menschen zu machen. Freud wollte Paulus auf den Kopf stellen. Sein Dreierschritt „Erinnern, Wiederholen, Durcharbeiten“ begann, das Reich des Unbewussten auszuräuchern. Es gelang nicht.

Die Analytiker-Analysand-Dyade war eine kaum veränderte religiöse Vater-Sohn-Dyade. Beim Durcharbeiten fehlte das Denken, das sich dem kritischen Forum der Polis stellen muss. Nachrichten aus der Erinnerungskammer genügen nicht, sie müssen sich dem Tageslicht aussetzen.

Sokrates verknüpfte Erinnern und Denken und brachte das Streitgespräch aufs Forum, damit die Öffentlichkeit Anteil nehmen konnte. Sokratisches Erinnern (Anamnese) war nicht bloßes Memorieren, sondern Überprüfen des Erinnerten auf Wahrheit. Die Erinnerung des einen wurde mit der Erinnerung des anderen konfrontiert. Die unterschiedlichen Erinnerungen mussten kämpfend-solidarisch herauskriegen, wo sie im kindlichen Zustand übereingestimmt hatten und an welcher Stelle sie durch verschiedene Umwelten, Erziehungsstile auseinander gelaufen waren.

Erinnern der Ursprünge war notwendig, weil alle Menschen wahrheitsfähig auf die Welt kamen. Unterschiedliche und widersprüchliche Traditionen hatten die kindliche Potenz beschädigt und bis zur Unkenntlichkeit deformiert. Erinnern war Rückkehr zum gemeinsamen Menschheitsfond, den die Natur uns mitgegeben hatte.

Psychoanalytisches Erinnern ist eine einsame Tour auf der Suche nach der verdrängten Zeit. Eine verlorene Zeit, wie bei Marcel Proust, gibt es nicht. Keine Zeit geht verloren. Sie taucht nur ab und bestimmt unser Leben umso wirksamer aus dem Untergrund. In der Analyse beurteilt ein Allwissender – ohne sich erkennen zu geben – die Erinnerung eines Anderen. Zum Streit auf gleicher Augenhöhe kann es nicht kommen, denn jede abweichende Meinung des Patienten beruht auf mangelhafter Durcharbeitung der eigenen Biografie. Wer alles zur Genüge durchgearbeitet hat, war im Stadium des Nichtirrens angekommen. Freud warf Andersdenkende wie Wilhelm Reich ohne Debatten aus seiner Tiefblickersekte.

Freuds Erinnern war eine auf den Kopf gestellte jüdische Geschichtstheologie. Ein gläubiger Jude erinnert sich der wundersamen Taten des Herrn, um sich Mut für die Zukunft zu schaffen. Ein Patient erinnert sich der verbotenen Gedanken seiner Kindheit. Wenn Gott in der Vergangenheit das erwählte Volk nicht im Stich gelassen hat, wird er es in Zukunft mit hoher Wahrscheinlichkeit auch nicht fallen lassen. Die Vergegenwärtigung der Vergangenheit war die Grundlage der Prognose für die kommenden Zeiten.

Geschichtswahrheiten sind Gegenstand des jüdisch-christlichen Glaubens. Zeitlose Wahrheiten waren die Erinnerungsinhalte des sokratischen Hebammengesprächs. Geschichtliche Vorgänge – ob tatsächlich geschehen oder durch priesterliche Schriftsteller visionär erfunden – trennen die Völker. Denn jedes Volk hat seine eigene Geschichte. Nur zeitlose oder allgemeine Erinnerungen können Völker und Menschen zusammenbringen. Sie gehören der ganzen Menschheit.

Wäre Wahrheit die Geschichte eines auserwählten Volkes, müssten alle Völker sich dieser Heilsgeschichte bemächtigen und dem ursprünglich auserwählten Volk die Priorität streitig machen. Das ist die Geschichte des Abendlands. Alle europäischen Staaten wollten die Juden vertreiben oder eliminieren, um an ihrer Stelle die privilegierten Verheißungen des Gottes für sich zu reklamieren. Welches Volk ist das wahre auserwählte Volk?

Zufällige Abstammungsfragen sind bei zeitlosen Erinnerungen belanglos. Wahrheit ist kein Besitz edler und separierter Nachkommen, sondern allgemeine Wahrheit, die sich jedem erschließt, der seinen Denkapparat in Bewegung setzt.

Die Auseinandersetzung zwischen zeitloser Vernunft und geschichtlichem Glauben begann bei Lessing – genau genommen bei Leibniz –, der in seiner Schrift „Die Erziehung des Menschengeschlechts“ die Vernunft der Heilsgeschichte gegenüberstellte. Noch nicht in ausschließendem Sinn, denn geschichtliche Offenbarung war am Anfang aus pädagogischen Gründen notwendig, solange die Vernunft nicht auf eigenen Beinen laufen konnte.

Lessing vertrat ein Christentum auf Vernunft. Wenn Vernunft flügge geworden ist, kann sie auf die Krücken der Offenbarung verzichten. Was voraussetzt, dass die Inhalte beider Wahrheiten im Grunde kompatibel sind. Diese Vertäglichkeitsformel beherrschte die ganze deutsche Aufklärung bis zu Hegel. Erst die Romantiker entflohen der Harmonieformel und fielen „zurück“ in die Position der Unverträglichkeit von Vernunft und Offenbarung.

Wenn Huber und Benedikt die Verträglichkeit von ratio und revelatio (Vernunft und Offenbarung) behaupten, haben sie historisch Recht wenn sie sich auf die deutsche Aufklärung beziehen. Sie könnten sich auch auf die englische Aufklärung beziehen, die der deutschen ähnlicher ist als der französischen, die keine Verträglichkeit zwischen Selbstbestimmung und himmlischer Fremdbestimmung kennt.

Sie haben aber nicht Recht, wenn sie sich auf Paulus und Luther beziehen (Augustin war in seiner heidnischen Jugend Vernünftler, ab seiner Bekehrung ein Antivernünftler, dementsprechend seine Widersprüche), Luther übernahm von Augustin den Hass auf die heidnische Vernunft. Vernunft ist eine Hure.

In der heutigen Hurendiskussion ist man sich nicht einig, in welchem Maß die Huren vernünftig – also selbstbestimmt – oder sexuell, wirtschaftlich und psychisch hörig und damit unvernünftig sind. Huren sind Frauen und folgen ihren Trieben, vornehmlich denen des brünstigen Fleisches. Männer müssen ihre Triebe kontrollieren und ihren Sinnen misstrauen, damit sie die Überlegenheit ihrer Vernunft demonstrieren können.

Moderne Frauen folgen den Männern in die kapitalistische Welt, um sich ihre Emanzipation zu beweisen. Ihren eigenen Impulsen müssen sie misstrauen, um rational zu erscheinen. Eine grundsätzliche Kritik an der „vernünftigen“ Männerwelt schließen sie zurzeit aus. Frauen müssen ihrem Misstrauen gegen die Männerwelt entsagen, um sich ihre männlich orientierte Vernunft zu beweisen.

Gibt es überhaupt Männliches und Weibliches von Natur aus? Oder gilt Simone de Beauvoirs berühmter Satz: Man (!) wird nicht als Frau geboren, man (!) wird es? Träfe das zu, müsste für den Mann genau so gelten: Man wird nicht als Mann geboren, man wird es. Wäre der Mann erst durch männliche Kultur gemacht, wäre er von Natur aus noch kein He-Man. Was wäre er dann? Eine Frau? Ein androgynes Wesen?

Wäre er androgyn, hätte er von Natur aus weibliche und männliche Anteile. Die weiblichen müsste er in einer Männerkultur unterdrücken, die männlichen überbetonen. Dasselbe gälte für Frauen. Auch sie hätten Anlagen für beide Geschlechter. In einer männlich beherrschten Kultur müssen sie ihre männlichen Eigenschaften unterdrücken, um ihre antagonistischen Mutterinstinkte hervorzuheben.

Der Feminismus krankt daran, dass er keine Theorie über die Männer hat. Wenn Männer zu Männern gemacht werden, können sie von Natur aus keine Machos sein. Wenn Frauen zu Frauen gemacht werden, können sie von Natur aus keine heulsusigen Feindinnen der Vernunft sein. Alles hinge davon ab, Frauen und Männer als komplette Wesen von Natur aus zu betrachten. Als potentiell komplette. Denn ihre Anlagen müssten sie – auch gegen Widerstand – erst entwickeln.

Die heutige Männerwelt würde innerhalb einer einzigen Generation zusammenkrachen. Es gäbe keine Notwendigkeit für die Frauen, sich der Männerwelt zu unterwerfen. Die Frauen könnten überprüfen, ob ihre Emotionen tatsächlich natürlichen Instinkten folgen oder ob sie ihnen von den Männern nur aufgeschwatzt wurden, damit sie sich zu Hause dem Nachwuchs widmen.

Sind beide Geschlechter von ihrer Umgebung gemacht, müssen sie von Natur aus nicht gemachte, nicht festgelegte Menschen gewesen sein. In der Lage, die Pflichten des Tages in vernünftiger Absprache zu regeln. Ja, es wäre nicht ausgeschlossen, dass Frauen und Männer zusammenarbeiteten und sich nicht in gegnerische Welten aufspalten ließen. Warum auch muss die Männerwelt die Frauenwelt ex contrario dominieren?

In seligen Zeiten, als unsere Vorfahren noch Bauern am Busen der Natur waren, gab es keine rigide geschlechterbestimmte Arbeits- und Herrschaftsteilung. Männlein und Weiblein konnten nach Belieben die Arbeit des anderen übernehmen.

Gegen Arbeitsteilung in gewisser Hinsicht wäre nichts einzuwenden, wenn sie nicht mit asymmetrischer Macht verbunden wäre. Sind Menschen verschieden, weil sie unentrinnbar differenten Zwängen unterliegen – oder sind sie von Natur aus gleiche androgyne Wesen?

Natur kennt weder Geschichte noch Heilsgeschichte. (Die Geschichte der Evolution verläuft in so ungeheuren Zeitdimensionen, dass wir sie ignorieren können.)

Die moderne Welt ist eine männerdominierte Welt. Sie könnte erst reformiert werden, wenn nicht nur Frauen die Männerwelt, sondern Männer die Frauenwelt erobern müssten. Symmetrische Forderungen zu stellen, traut sich der Feminismus nicht. Wie so oft, will er zuerst in Vorleistung gehen und die Männerwelt unterstützen, weil die Frauen – bei aller Unterlegenheit – die Männer für schwach halten. Dass Männer die Welt der Frauen erobern müssten, davon hört man kein Sterbenswörtchen.

Sind Frauen und Männer von Natur aus androgyne Wesen, muss jede Veränderung achsensymmetrisch durchgeführt werden. Ohne Migration der Männer in die Frauenwelt keine Migration der Frauen in die Männerwelt. Wir brauchen keine Frauenquote in der Männerwelt, wir brauchen eine hälftige Männerquote in der Frauenwelt. Dann wäre für die hälftige Frauenquote gesorgt. Diese muss nicht starr hälftig sein. Wenn jeder Mensch seinen „eigenen Weg gehen“ könnte – wie in amerikanischen Filmen ständig gefordert, als ob man in uniformen Wirtschaftsdiktaturen seinen Weg gehen könnte – wäre die leidige Epoche zwanghafter Quoten vorbei.

Die Emanzipation der Frau erfordert schlüssig die Utopie jener freien Gesellschaft, die heute von niemandem gefordert werden darf, wenn er nicht als Traumtänzer diskriminiert werden will. Solange die Frauen – zusammen mit verständigen Männern – nicht die androgyne Utopie fordern, verraten sie ihre eigene Emanzipation.

Humane Utopien sind keine platonischen Zwangsbeglückungen. Die Probleme der Menschheit sind so flagrant, dass nur eine Utopie sie noch einfangen kann. Nicht im Sinne einer gewalttätig auferzwungenen Er-Lösung, sondern einer gemeinsam durchdachten und behutsamen Lösung der Probleme, die von allen erkenntniswilligen Menschen erarbeitet wird.

Wir müssen wissen, wohin wir wollen. Erst dann können wir uns auf den Weg machen. Das wird nur gelingen, wenn wir uns als natürlich gleiche Wesen betrachten, die ihre geschichtlichen Unterschiede ablegen. Geschichtliche Unterschiede sind „göttlich verordnete“ Differenzen religiöser Heilsgeschichten.

Lassen wir uns nicht länger von Göttern trennen. Niemand ist von Natur aus erwählt und verworfen. Erkennen wir uns als Menschen im Spiegel unserer Brüder und Schwestern.

In Athen waren die Frauen unterdrückte Wesen – bis die Philosophen die Teilung der Menschheit in Bevorzugte und Benachteiligte in Frage stellten. Hier entstand der Gedanke der gleichen Menschenrechte, der Frau als gleichberechtigtes Wesen. Hier entwickelte Sokrates die Grundlage des anamnestischen Gesprächs, in dem jeder Gesprächspartner dem andern die gleiche rationale Basis zuerkannte, wie er sie für sich selbst forderte.

Von Natur aus sind wir alle gleich vernünftig. Im Akt der Erinnerung können wir religiös erzwungene Unterschiede abwerfen und die allgemeine Vernunftbasis der Menschheit suchen. Die Gleichberechtigung der Frau begann in Athen. Amerikanische Feministen haben die starken Frauen der antiken Tragödien und Komödien als Phantasiegestalten abgetan.

Jede utopische Veränderung beginnt mit utopischen Phantasien, die ohne empirische Basis nicht möglich wären. Lysistrata in Aristophanes’ gleichnamiger Komödie organisierte den Sexualstreik aller Frauen, um die Männer von kriegerischen Gelüsten abzuhalten. In den „Ekklesiazusen“ ( Frauen in der Volksversammlung) wurde dem weiblichen Geschlecht die politische Führerrolle übertragen. Antigone widerstand der Macht des Kleon, um ihrer weiblichen Pietät nachzukommen. Aspasia, Gefährtin des Perikles, war eine bewunderte Philosophin, möglicherweise das Vorbild für Diotima, die Sokrates als seine Lehrmeisterin in der Suche nach der Wahrheit bezeichnete.

Vergleichen wir diese kessen und aufmüpfigen Damen aus dem alten Athen mit heutigen Frontfrauen der Emanzipation, müssen wir sagen: wir hinken weit hinter dem klassischen Griechenland hinterher. Sibylle Lewitscharoff, Büchner-Preisträgerin, streitbare und wortmächtige Apologetin der gleichberechtigten Frau, wird in der TAZ mit folgenden Sätzen zitiert:

Erlösung heißt das Zauberwort. Der Stil muss den Gnadenschatz bergen, der Erlösung vom Bann des Alltäglichen verspricht, Erlösung von Schmutz und Schuld, die wir alle, schwache, böse, schutzbedürftige Wesen, die wir sind, unablässig in uns und um uns anhäufen.“ (Dirk Knipphals in der TAZ)

Das sind allesamt Begriffe aus dem Wörterbuch männlicher Erlöser. Wer sich so schwach, schmutzig, schuldig, böse und schutzbedürftig fühlt, wartet insgeheim auf den, der da kommen soll: den männlichen Messias.

Als die zehn Jungfrauen auf den Messias warteten, schliefen die törichten ein, die klugen feierten mit dem Erlöser fröhliche Kohabitation. Als die törichten verspätet dazu kamen, um Einlass zu begehren, antwortete der Herr des heiligen Harems: „Wahrlich, ich kenne euch nicht.“

In Wirklichkeit waren alle Jungfrauen töricht. Ihr Heil erwarteten sie von einem Mann oder von einem Mann.