Kategorien
Tagesmail

Freitag, 07. Dezember 2012 – Sokrates und sein Schüler

Hello, Freunde der Demokratie,

wie kann man sich gegen demokratiefeindliches Denken wehren? Indem man es verbietet. So denken komplexitätsreduzierte deutsche Minister. Sie zwingen die sichtbaren Eiterbeulen in den Untergrund, über die Ursachen des Eiters wird nicht gesprochen.

Dabei sind Polizei und Justiz nicht mal in der Lage, eine Serie von Morden als Untaten der Neonazis zu erkennen und zu ahnden. Bis heute ist nicht geklärt, ob dies auf heimlicher Sympathie mit den Tätern beruht oder auf kriminalistischer Inkompetenz.

Wenn man die besten Verfassungsschützer dazu verpflichtet, gewählte Linke per Zeitungslektüre zu überprüfen, kann man Totschläger und Mörder nicht dingfest machen.

Die NPD erhält schon seit Monaten kostenlose Dauerpropaganda, indem sie im Mittelpunkt des Interesses steht. Man sollte den Hitlerfans das Bundesverdienstkreuz verleihen, sie haben es geschafft, die Republik durch gemeinsame Feindbildung zu einigen. Macht hoch die Tür, die Zeit nationaler Harmonie unter dem Weihnachtsbaum naht. Das geht nicht ohne das geballte Böse draußen vor der Tür.

Vermutlich werden die Rechtsextremen am innigsten das deutsche Jesulein feiern. Bei seinem Geschichtslehrer Dr. Poetsch lernte der junge Hitler, dass Geschichte und Heilsgeschichte identisch sind. Heilsgeschichte ist Unheilsgeschichte für die Feinde des Heils. Die Nibelungen betrachtete der junge Adolf als Kreuzzügler, Jesus mit der Geissel gegen jüdische Tempelschänder als germanischen Helden, der

die Bösewichter aus dem Osten besiegt.

„Im „Fall Barbarossa“ (Tarnname für den Ostfeldzug 1941) verschmelzen Kreuzzug, Feldzüge der heiligen Kaiser des Heiligen Römischen Reiches mit den Zügen der Nibelungen“ (Friedrich Heer). Deutsche Klerikalhistoriker verweisen noch immer auf die Germanophilie der Nationalsozialisten, um deren antichristliche Einstellung zu beweisen.

Der Kampf gegen die Extremrechten müsste damit beginnen, deutsche Geschichtsbücher auszumisten, die Lügen über die Widerstands-Kirchen zu beenden und den Messianismus der blonden Bestien zu entlarven. Würde das tatsächlich geschehen, wäre das Wunder des heiligen Rocks eine armselige Lumperei dagegen.

Christian Rath hat in der TAZ das Notwendige gesagt über den geballten Exorzismus der Politeliten gegen die Eiterbeulen. (Eiter ist ein „typischerweise braunes Exsudat, das im Rahmen einer völkischen Entzündungsreaktion im Körper deutsch-hirnloser Wirbeltiere entsteht. Meist entsteht diese Form einer nationalen Entzündung als Reaktion auf eine erlösungsopiate Infektion.“ (so Wiki unter Eiter)

Die McCarthy-Ära in den USA der 50er Jahre war für viele Amerikaner eine faschistische Reaktion auf den Untergang des Faschismus. Auch in Gottes eigenem Land hatte es bekennende Nazis gegeben, die nicht spurenlos aus den Akten der Geschichte verschwinden wollten.

In Israel gibt’s eine Neuauflage der Kommunistenhatz in Form einer Kritikerhatz. Eine Gegnerin der Netanjahu-Politik wurde von dem israelischen Chef des nationalen Sicherheitsrats höchstpersönlich von einem geplanten Gespräch über das deutsch-israelische Verhältnis wieder ausgeladen.

„Es hieß, ich sei zu kritisch gegenüber der Regierungspolitik“, sagte die Historikerin Rivka Feldhay in einem TAZ-Interview. „Ich denke, wir befinden uns an einem gefährlichen Punkt für die israelische Demokratie. Ich glaube aber, dass die demokratischen Kräfte in Israel stärker sind“.

Zum Trost schickte ihr Merkel einen persönlichen Gruß, der – Verschwörung, Verschwörung! – vom Mossad abgefangen und an die subversive Absenderin zurückgeschickt wurde. Die gesamte philosemitische Springer-Presse rief zu einer Unterstützung der Rivka Feldhay auf.

Ist Religion eine Privatsache fragt sich die ZEIT und sagt Ja und Nein, in blasphemischem Widerspruch zum Herrn, der ausdrücklich sagte: Eure Rede sei Jaja und Neinnein. Spaemann und Mosebach, übernehmen Sie.

Ja sagt Elisabeth von Thadden, nein Patrik Schwarz.

Solange der Glaubende die Gesetze achtet, kann er glauben, was er will, schreibt die Ja-Stimme. Wenn aber nicht, sei Schluss mit privatem Glauben.

Um Gottes willen nein, gnädige Frau. In jeder Demokratie ist privater Glaube unantastbar. Das Private hat sich nur nicht über das Gesetz zu stellen und den Versuch zu unternehmen, das Öffentliche zu dominieren.

Ob jemand an das Abraham-Gebot der Beschneidung glaubt, ist sein privates Problem. Da mische sich niemand ein. Er darf nur nicht die popenhafte Verwegenheit aufbringen, seinen privaten Glauben zur Grundlage der öffentlichen Rechtsprechung zu erheben. Sein Glaube darf alles – nur nicht mit Taten gegen das Gesetz verstoßen.

Märtyrer für seinen dreisten Glauben, der sich nicht mit Glauben bescheiden will, darf er allerdings werden – hinter schwedischen Gardinen.

Die Gegenstimme von Patrik Schwarz hat das Problem gar nicht verstanden und besteht darauf, auch weiterhin und immer mehr – wes das Herz voll ist, des läuft der Mund über – öffentlich Zeugnis über seinen bergeversetzenden Glauben abzulegen. Solange er gegen keine Gesetze verstößt: freies Rederecht allen Missionaren dieser Welt, um das gottlose deutsche Volk unter die Fittiche guter Hirten zurück zu bringen.

Was ist das für ein lauer Glaube an die Qualität einer Polis, dass emphatisches Stammeln über Göttliches die Feste einer Demokratie erschüttern könnte? Ob seine Monstranz zur Dominanz unter seinen Freunden wird, hat nur ihn und seine Freunde zu interessieren – solange die hitzige Debatte nicht gegen das Gebot der Ruhestörung ab 22 Uhr verstößt. Dominiere deine Freunde, Patrik, bis sie dich aus der Wohnung werfen. Dann solltest du aber nicht die Polizei rufen, unter dem Vorwand, du hättest ein Recht auf unbegrenzte Öffentlichkeitswirkung deiner nervigen Privatwahrheiten.

Privat ist nicht das Gegenteil von gesetzlich. Das Gesetz waltet auch über dem Privaten. Seine Kinder verprügeln oder die Gattin sexuell nötigen ist auch privat – aber ungesetzlich. Es ist das universelle Gesetz, das die subjektive Privatheit schützt. Es ist das universelle Gesetz, das den partiellen Glauben schützt – solange der partielle Glaube nicht beginnt, sich an die Stelle des universellen Gesetzes zu setzen und das Subjektive zum verpflichtenden Objektiven zu machen.

Wer an Erlösung glaubt, macht sich nicht strafbar. Wer aber seine Mitmenschen zwangserlösen will, betätigt sich als Faschist. Faschismus ist Zwangserlösung oder Zwangsbeglückung.

Das verstehen die Deutschen bis zum heutigen Tage nicht. Für sie ist Faschismus ein Ausbund an Zynismus. Machtgierige würden das Volk mit einer verlockenden Ideologie betäuben, an die sie selbst nicht glaubten.

Faschisten sind das Gegenteil von Zynikern, sie sind gläubige Fanatiker, die es nicht aushalten, dass es a) Menschen gibt, die ihren Glauben nicht teilen und b) dass die Welt, das Volk, die Nation zugrunde gehen könnten, weil sie das wahre Heil nicht kennen.

Faschisten oder Totalitäre – prinzipiell gibt’s keine Unterschiede zwischen ihnen, das Ausmaß ihrer Brutalität und die Wahl ihrer Folter- und Vernichtungsmittel hat mit dem Kern ihrer Zwangsbeglückung nichts zu tun – wollen sofort und auf der Stelle den absoluten Glückszustand der Welt oder das Paradies auf Erden.

Es gibt einen riesigen Unterschied zwischen Weltverbesserern und Welterlösern. In hiesigen Gazetten werden Weltverbesserer gern in die Nähe totalitärer Zwangsbeglücker gerückt, so viel hat man aus der jüngsten Geschichte gelernt.

Jeder moralische und verantwortlich denkende Mensch hat die Pflicht, die Welt zu verbessern. Wer die Welt nicht verbessert, macht sie schlechter, ja, übergibt sie bei überhand nehmender Schlechtigkeit dem Verderben. Wer die Welt nicht verbessern will, hasst sich, seine Mitmenschen und die Welt.

Weltverbesserer unterbreiten ihre Verbesserungsideen der Polis und überlassen es der Mehrheit, sich mit diesen Ideen zu befassen, sie zu realisieren oder nicht. Weltverbesserer sind Reformdemokraten.

Welterlöser misstrauen der demokratischen Methode und glauben nicht, dass durch kollektives Lernen und Abstimmen Besserungen eintreten können. Vielleicht einige marginale Reformen, aber keine grundsätzliche Vervollkommnung.

Welterlöser wollen Alles oder Nichts. Weltverbesserer glauben an die Lernfähigkeit und die Selbstbestimmung der Menschen. Für Welterlöser sind Menschen inkompetente und lernunfähige Kreaturen, die man zu ihrem eigenen Besten hart anpacken muss.

Perikles und Sokrates waren Weltverbesserer. Sie machten ihre Lernangebote und überließen es der Freiheit der Athener, ihren Ideen zuzuhören, der Volksversammlung vorzulegen und darüber abzustimmen. „Wir fühlen uns nicht berufen“, sagte Perikles, „unseren Nachbarn auszuschelten, wenn er es vorzieht, seine eigenen Wege zu gehen.“

Natürlich gibt’s Probleme, wenn der subjektive Weg den Weg der Demokratie zerstören würde. Hier endete die Toleranz des demokratischen Wegs gegenüber dem beliebigen Weg des Einzelnen. Alle subjektiven Wege dürfen den allgemeinen Weg der Demokratie nicht unterminieren, sondern müssen ihn bestärken und unterstützen, sonst gefährden sie sich selbst.

Ihre Subjektivität darf in keine prinzipielle Opposition gegen das demokratisch Objektive münden. Ist Demokratie abgeschafft, gibt’s keine subjektiven Wege mehr.

Platon hingegen hat die demokratischen Wege seines Lehrers verlassen. Sein vollendeter Staat bringe, wie er selbst sagt, „nicht Menschen hervor, um einen jeden nach Belieben handeln und wandeln zu lassen.“ Platon hätte nie wie sein Lehrer – den er ein Leben lang bewunderte – den Satz der Bescheidenheit gesagt: Ich weiß, dass ich nichts weiß. Ab der Mitte seines Lebens fühlte er sich wie vom Blitz der Erkenntnis getroffen, dass er nur noch stammeln konnte: Ich weiß, dass ich alles weiß.

Der Blitz der Erkenntnis ist wie eine religiöse Erleuchtung, weshalb Platon für die Theologen der liebste heidnische Philosoph war. Seine Erfahrungen ähnelten der Erleuchtung und Bekehrung des Saulus zum Paulus aufs Äußerste.

Nach Platons Worten lässt sich das Erlebnis plötzlicher Einsicht „nicht in Worte fassen, sondern aus lange Zeit fortgesetztem, dem Gegenstande gewidmetem wissenschaftlichen Verkehr und aus entsprechender Lebensgemeinschaft tritt es plötzlich in der Seele hervor wie ein durch einen abspringenden Funken entzündetes Licht und nährt sich dann durch sich selbst.“

Diesen Zusatz: nährt sich dann durch selbst, hätte allerdings kein Paulus mehr unterschreiben können. Denn in religiöser Sicht wird alles Gute fortlaufend von Gott ernährt und nicht durch die Fähigkeiten des Menschen.

Was man nicht in Worte fassen kann, wird schnell zur esoterischen Illumination, die andere ausschließt. Im Erweckungserlebnis des Paulus kommt auch ein plötzlich vor: „… und plötzlich umstrahlte ihn ein Licht vom Himmel her.“ ( Neues Testament > Apostelgeschichte 9,3 / http://www.way2god.org/de/bibel/apostelgeschichte/9/“ href=“http://www.way2god.org/de/bibel/apostelgeschichte/9/“>Apg. 9,3)

Das plötzlich spielt auch eine entscheidende Rolle bei der Wiederauferstehung der Toten: „Siehe, ich sage euch ein Geheimnis: wir werden nicht alle entschlafen, wir werden aber alle verwandelt werden plötzlich und in einem Augenblick bei der letzten Posaune.“ ( Neues Testament > 1. Korinther 15,51 f / http://www.way2god.org/de/bibel/1_korinther/15/“ href=“http://www.way2god.org/de/bibel/1_korinther/15/“>1.Kor. 15,51 f)

„Plötzlich und in einem Augenblick“ wurde zur Philosophie Kierkegaards, Heideggers und aller postmodernen Vertreter des unablässig Neuen auf der Zeitachse.

Gleichwohl gibt es einen großen Unterschied zwischen Platon und den christogenen Zeitdenkern. Bei Platon enthüllte der Blitz der Erkenntnis die zeitlose Wahrheit. Es war ein Aha-Effekt, der im Nu wusste, dass er angelangt war und die unveränderliche Wahrheit geschaut hatte. Im christlichen Glauben hingegen muss der Fromme sich durch Gebet und Versenkung ständig auf neue Himmelsdekrete gefasst machen.

Zeitlose Wahrheiten gibt‘s bei Gott nicht. Ständig ändert er seine Meinungen, widerruft, was er gestern sagte, es reut ihn dies und das und er will alles neu machen, um seine vergangenen Fehlversuche vergessen zu machen.

Das blitzartige Erkennen ließ das Selbstbewusstsein Platons mächtig anwachsen: „Was könnte ich dann für ein schöneres Werk aufweisen in meinem Leben als der Menschheit durch solche Schrift ein großes Heil zu bescheren und das Wesen der Dinge für alle ans Licht gezogen zu haben?“

Das Wesen der Dinge ist bei Paulus nur Gott vorbehalten und eine Erkenntnis für alle gibt’s in Selektionsreligionen nicht. Was Erwählten geziemt, geziemt nicht Verworfenen. Die Wahrheit der einen ist Torheit der Anderen.

Und dennoch selektiert auch Platon. Seine Unterteilung aber führt nicht zum totalen Ausschluss wie in der biblischen Religion, sondern zur Schichtenbildung. Er hatte die Erfahrung gemacht, mit seiner Wahrheit könnte höchstens eine elitäre Minderheit etwas anfangen, die anderen würden mit solchen Einsichten nur zur Verachtung der Philosophie oder zu eingebildeter Hybris kommen. Das ist der Grund, warum er in einem perfekten Staat die Herrschaft den wenigen Weisen (= Königen) anvertrauen will. Alle andern sollen sich dieser Weisheit fügen, damit sie nicht überfordert werden.

Es genügt, wenn die Wahrheit regiert, nicht alle müssen sie bewusst erfassen. Die zeitlose Wahrheit ist für alle da, nicht alle aber müssen sie selbst durchdacht und abgesegnet haben.

Hier stehen wir am Ursprung des Faschismus. Die Wahrheit soll herrschen, damit alle von ihrem Glückspotential profitieren. Aber nicht alle müssen mit ihrem eigenen Kopf diese Wahrheit begriffen haben. So wird freie sokratische Wahrheit zur unfreien Beglückungsdespotie.

Der Unterschied zwischen dem Meister und seinem genialen, aber ungeduldigen Schüler war die diametrale Einschätzung der Menschen. Sokrates belästigte jedermann mit seinen Fragen: He du, weißt du eigentlich, was du da tust? Weißt du überhaupt, wovon du redest? Oder passt du dich nur dem an, was hier in Athen allgemein als wahr gilt? Bist du nur ein Mitläufer der Tradition oder bist du ein selbst denkender Mensch? Wenn du letzteres sein willst, dann trau dich und geh mit mir in den Clinch (= agon). Ich überprüfe dich und du überprüfst mich, wer von uns beiden Hübschen der Wahrheit näher kommt und die besseren Argumente hat.

Diese Trivialitäten klingen für moderne Ohren wie eine Einladung zum Jüngsten Gericht, wo jeder ultimativ die Hosen runter lassen muss. Welcher eingebildete Vernünftler dürfte es wagen, unfehlbaren Augenblicksdenkern die Hammelbeine lang zu ziehen? Ein einfaches Streitgespräch ist für die Anbeter des „Plötzlich“ totalitärer als die Unterwerfung unter die unfehlbaren Stellvertreter Gottes.

Durch die vielen Enttäuschungen in seinem Leben – in Süditalien wollte er mit Hilfe des Diktators Dionysios seine Utopie errichten, doch vergeblich –, hatte sich das optimistische Menschenbild seines Meisters bei Platon verdüstert. Im siebten Brief (aus dem alle bisherigen Zitate stammen) schreibt er: „Schließlich aber kam ich zur Überzeugung, dass alle jetzigen Staaten samt und sonders politisch verwahrlost sind, denn das ganze Gebiet der Gesetzgebung liegt in einem Zustand darnieder, der ohne eine ans Wunderbare grenzende Veranstaltung im Bunde mit einem glücklichen Zufall geradezu heillos ist.“

Wenn man zum Wunderbaren Zuflucht nehmen muss, ist der Weg des normalen Lernens vorbei. Der normale Mensch ist keine Wundermaschine. Wunder sind die Privilegien jener Eingeweihten und Eliten, die dem Himmel näher sind als gewöhnliche Sterbliche. Wunder ist Ausnahme und wer die Ausnahme bestimmt, der ist faschistischer Herrscher über die gewöhnliche Spezies Mensch.

Carl Schmitts Definition des Faschismus ist bekannt: „Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand bestimmt.“ In den abendländischen Priesterfaschismen, die den platonischen Faschismus perfektionierten, wird die Ausnahme zum himmlischen Wunder, das allein durch Hierarchen vermittelt werden kann. Das Menschenbild Platons hatte sich der biblischen Sündhaftigkeit und Verkommenheit angenähert. Mit diesem Geschlecht ist nichts mehr anzufangen.

Wer heute genau hinhört, vernimmt die Stimmen derer, die „besorgt“ fragen: Wird Demokratie nicht überschätzt? Sehen wir am totalitären China nicht eindrucksvoll, dass Ökonomie nicht in Demokratien – wie wir bisher dachten –, sondern unter der autoritären Knute am besten gedeiht? Das fragen ausgerechnet jene, die die neoliberale Freiheit nicht genug rühmen können.

Das berühmte Fazit Platons hat schon jeder mal gehört: „Es wird also die Menschheit, so erklärte ich, nicht eher von ihren Leiden erlöst werden, bis entweder die berufsmäßigen Vertreter der echten und wahren Philosophie zur Herrschaft im Staate gelangen oder bis die Inhaber der Regierungsgewalt in den Staaten infolge einer göttlichen Fügung sich zur ernstlichen Beschäftigung mit der echten Philosophie entschließen.“ Also bis die Weisen an die Macht kommen oder die Mächtigen weise werden.

Hier hat Platon die Grenze zum Christentum überschritten. Nicht mehr der autonome Mensch löst seine Probleme, die Menschheit wird von selbsternannten Heilern von ihren Leiden erlöst.

Warum es in unserem Parlament so wenig professionelle Weise gibt – die sich jedenfalls dafür halten –, liegt an der kränkungsbereiten Arroganz der Profidenker. Sie trauen dem Urteil der Menge nicht, dass sie die Weisen erkennt und lieber den Geschäftsführer der IHK wählt als den überaus tiefsinnigen Peter Sloterdijk.

Von vorneherein war Platon kein Faschist. Es wäre ihm lieber gewesen, die Menge hätte seiner Weisheit vertraut und wäre ihm freiwillig gefolgt. Als er merkte, dass die Stimmung des Pöbels immer philosophiefeindlicher wurde, dass er selbst von seinen eigenen Denkerkollegen immer mehr verhöhnt und abgelehnt wurde, war‘s aus mit seiner Geduld. Und bist du nicht willig, so brauch ich Gewalt. Aus der verschmähten Zwangsbeglückung wurde das erzwungene Kollektivglück.

Je älter und misanthropischer Platon wurde, je menschenfeindlicher wurde seine Utopie, bis er schließlich in seinem letzten Werk, den Gesetzen, den totalitären Perfektionsstaat entwarf. Ein Gebilde, in dem sein Lehrer Sokrates keinen Tag hätte überleben können. Wegen Freigeisterei wäre er verhaftet worden, ins Gefängnis geflogen. Dort hätte er eine letzte Chance zum Kotau, pardon, zur Einsicht erhalten. Hätte er diese zurückgewiesen, wäre er getötet worden.

Popper beschreibt diesen KZ-Entwurf: „So fordert Platon in seinen „Gesetzen“, auch für ehrliche und ehrenhafte Leute die strengsten Strafen, wenn ihre Ansichten abweichen. Ihre Seelen sind von einem nächtlichen Rat von Inquisitoren zu behandeln; und wenn sie nicht widerrufen, oder wenn sie ihr Vergehen wiederholen, dann bedeutet die Anklage der Gottlosigkeit den Tod. Hat Platon vergessen, dass Sokrates als ein Opfer gerade dieser Anklage gestorben ist?

Von der Zwangsbeglückung zum inquisitorischen Tod ist nur ein winziger Schritt, ja beides ist identisch. Aus diesem Umstand zogen Popper und Hayek die Schlussfolgerung – die sie auch bei Hölderlin gelesen hatten –, dass Utopien gefährliche Versuche sind, die früher oder später in totalitären Gebilden enden.

Konservative bringen alles Weltverbessern in die Nähe platonischer Faschismen, um alle Kritik am Bestehenden zu ächten. Wie so oft schaut man in deutschen Intellektuellenzirkeln nicht aufs Großgedruckte. Der Popper‘sche Satz lautet: „Wer den Himmel auf Erden errichten will, schafft die Hölle.“ Eine rationale Utopie will keinen Himmel auf Erden errichten, weil sie keinen Himmel kennt und die Menschheit nicht erlösen, sondern sie zum eigenständigen Denken anregen will. Gibt’s keinen Himmel, kann er auch nicht in Hölle umschlagen.

Popper, der scharfsichtigste Kritiker Platons, dessen Einsichten in Deutschland längst untergepflügt worden sind, ist am Ende dem Christentum in die Falle getappt. Das widersprach seinen eigenen Absichten, wenn er eines seiner Bücher mit dem Titel versah: Auf der Suche nach einer besseren Welt. Oder wenn er Philosophieren nur durch Problemlösen gerechtfertigt sah. Oder wenn er das Piecemeal-engineering, die Stückwerktechnologie, als unablässiges Reformieren und Verbessern der Gesellschaft pries. Nicht als Realisierung von Wundern, sondern in Versuch und Irrtum. Man könnte auch von sokratischem Lernen sprechen.

Eine Garantie, dass dieser nüchterne Weg in einer Demokratie erfolgreich ist, gibt es nicht. Am Ende wurde Sokrates von der damaligen athenischen Demokratie zum Tode verurteilt. Er hätte fliehen können. Das Volksgericht muss ein ziemlich schlechtes Gewissen ob des absurden Urteils gehabt haben. Doch der Verurteilte wollte vor einem demokratischen Beschluss nicht flüchten und dem Urteil seinen Respekt nicht verweigern.

Sein Märtyrertod im Dienste der Demokratie machte ihn nicht nur unsterblich, er trug auch nicht unwesentlich dazu bei, uns Nachgeborenen das beste politische Gemeinwesen zu überliefern, das die Menschheit bislang entdeckte.

Die Deutschen allerdings scherten sich nicht um den satyrähnlichen Gesellen. Bei Klassikern, Dichtern und Denkern kam Sokrates nicht vor. Nietzsche degradierte ihn zum decadent.

Deutsche Gelehrte ließen sich in der Verehrung des Faschismuserfinders Platon von niemandem übertreffen. Hatte der doch ein ganzes philosophisches System gebaut, während Sokrates immer nur Fragen stellte.

Obrigkeitsdenken und Faschismus der Weisen verschmolzen bei deutschen Eliten ab der Romantik zu pränazistischen Strukturen. Viele sahen in Sokrates gar einen Verächter der Demokratie, weil er sich allzu sehr mit elitären Jüngelchen umgab.

Nur in England erkannte man die demokratischen Qualitäten des Sokrates und seiner Freunde. George Grote schrieb seine Geschichte der athenischen Demokratie – die hier so gut wie unbekannt ist – in Würdigung des ungewöhnlichen Mannes.

In Deutschland wurde Sokrates zu einem Anonymus, den jedermann zu kennen glaubt – und den doch niemand kennt.