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Europäische Idee XXIII

Hello, Freunde der europäischen Idee XXIII,

Das sind keine Menschen mehr, das sind Verbrecher, sprach ein sächsischer Ministerpräsident, seines Zeichens Mitglied einer christlichen Volkspartei. Wenn Verbrecher keine Menschen sind, müssen sie Teufel sein. Ins Feuer mit allen Verbrechern dieser Welt. Christen kennen sich aus mit Teufeln. Alle, die ihren Glauben nicht teilen, sind solche. Auf den Scheiterhaufen mit allen Ungläubigen.

Wer solche Sätze mit Bewusstsein sagt, kann kein Mensch, er muss ein Politiker sein. Nicht irgendeiner, sondern ein Erleuchteter, der die Menschen in Engel und Teufel einzuteilen versteht. Prüfet die Geister, ob sie von Gott stammen. Sie stammen von der Welt, wir stammen von Gott. Wer nicht von Gott stammt, hört nicht auf uns. So unterscheiden wir den Geist der Wahrheit – vom Geist des Trugs.

So könnten wir fortfahren, bis wir alle Menschen zu Teufeln erklärt haben – mit Ausnahme der Lieblinge Gottes. Das wäre das Endgericht, das unumkehrbare finale Ranking, dem wir uns in sehnsüchtiger Eile nähern. Die Bücher, endlich werden sie aufgetan.

Was ist schlimmer: die Ereignisse – oder die Reaktionen auf die Ereignisse? Schlimm sind die Ereignisse, schlimmer die Reaktionen auf die Ereignisse. Die Verbrechen der Ereignisse liegen auf der Hand, sie sind sekundäre Echoeffekte. Die Re-aktionen sind die primären, ursprünglichen Aktionen, ausgebrütet in den Machtzentren der Gesellschaft, die ihre Verbrechen nicht auf der Straße, sondern in Gelehrten- und Redaktionsstuben als Theorien entwerfen und mit exquisiten Worten und erlesenen Begriffen zu tarnen verstehen.

Die schlimmen Ereignisse – sie wissen es nicht – sind Folgen noch schlimmerer Theorien, die nicht wissen wollen, welche Ereignisse sie auslösen. Am

Anfang war nicht die Tat, am Anfang war das Wort.

„Der Gedanke will Tat, das Wort will Fleisch werden. Die Welt ist die Signatur des Wortes. Dieses merkt euch, ihr stolzen Männer der Tat. Ihr seid nichts als unbewusste Handlanger der Gedankenmänner, die oft in demütigster Stille euch all eu’r Tun aufs bestimmteste vorgezeichnet haben. Robespierre war nichts als die Hand von Rousseau, die blutige Hand, die aus dem Schoß der Zeit den Leib hervorzog, dessen Seele Rousseau geschaffen.“ (Heinrich Heine)

Das Sein bestimmt das Bewusstsein: ein Satz, der nicht nur die gesamte Aufklärung, sondern den mündigen Menschen in den Staub trat. Bestimmt das Sein unser Tun und Denken, sind wir für immer schuldlos. Überlegen, Reflektieren, Streiten, Debattieren, Analysieren können wir uns fürder sparen.

Freuet euch, ihr Moralverhöhner. Die langweiligen Zeiten sind vorbei, in denen Moral sich von selbst verstand. Nun steigen die Temperaturen amoralischen Kurzweils. Der Kitzel des Grenzenüberschreitens ist kein Vorrecht der Kühnen und Kalten mehr. Es genügt, an Orten zu wohnen, wo Flüchtlinge unterkommen. Wie konnten sie wagen, ihre Angreifer mit Gesten zu verhöhnen? Dafür müssen sie bestraft werden.

Opfer in Deutschland haben duldsam und ergeben zu sein. Merkt es euch, Kölner Frauen. Hättet ihr nicht aufgemuckt, wäre noch immer Frieden im Land und das Barmherzigkeits-Image Deutschlands in der Welt unbeschädigt. Nun steigen die Temperaturen, der Wettlauf des Abscheus ist am Siedepunkt.

„Fieber – in den Straßen steigt das Fieber
Fieber – auf die höchsten Temperaturen
Fieber – und der Virus greift über
Fieber – in den Straßen steigt das
Fieber – bis das Thermometer platzt.“ (Udo Lindenberg)

Wer kann die Schlimmen mit noch gewaltigeren Worten in die Hölle verfluchen? Analysen, Erklärungen – keine! Als ob über Nacht die Hölle in Deutschland ausgebrochen wäre.

Bis vor kurzem: alles in bester neoliberaler Ordnung. Die Schwachen wurden zuverlässig schwächer, die Reichen berechenbar und berechtigt reicher. Alles in Ordnung – dank göttlicher Ungleichheit, der Zofe des Fortschritts – so Rainer Hank, FAZ-Lobredner amoralischer Ungerechtigkeit – wenn sie nur von mächtigen Nutznießern als Gesetz ausgewiesen wurde.

Nicht nur Gott ist mit den Mächtigen, sondern die Gesetze des Fortschritts und der Moral. Wer auf der Strecke geblieben ist: alles in Ordnung, in bester Ordnung, Hauptsache, der Fortschritt wird nicht behindert. Merket, ihr Überflüssigen und Abgehängten: der Fortschritt, der Rainer Hank an die Spitze des deutschen Weltgeistes – in die FAZ-Redaktion – gestoßen und getrieben hat, braucht eure zertretenen Knochen als Triebmittel seiner Beschleunigung.

Frank Schirrmacher ortete das Zentrum des Fortschritts mit prophetischem Blick in Gottes Computerland, sein Nachfolger Hank wandelt auf den Spuren seines Landsmannes Hegel: wo Ich bin, in der FAZ-Redaktion, ist der Weltgeist niedergekommen. Der Ex-Theologe hat Hegel und Hayek miteinander versöhnt. Nicht Berlin, der Frankfurter Börsenplatz ist der Landeplatz des Objektiven Geistes. Gewiss, die wenigen Milliardäre raffen die Reichtümer der Welt, doch alles in bester Ordnung, wenn nur der Sohn des Hausmeisters Karriere macht.

„Die Akzeptanz ungleich verteilter Einkommen erhöht sich, wenn die Aussichten gut sind, dass es den eigenen Kindern später besser geht. So hat das der Nobelpreisträger Angus Deaton erlebt. So hat das auch der Hausmeistersohn aus Stuttgart erlebt, der Wirtschaftsredakteur wurde. Ungleichheit bleibt die „Zofe des Fortschritts“. Wer Ungleichheit abschaffen wollte, müsste auf den Fortschritt verzichten. So war das in der DDR (und selbst dort wurden nicht alle Ungleichheiten planiert). Aber, um im Bild zu bleiben, die Zofe ist inzwischen ganz schön machtbewusst. Und sehr präsent.“ (Rainer Hank in FAZ.NET)

Legt euch nicht mit der Ungleichheit an, sie wird euch sonst alle Knochen brechen.

Rainer Hank predigt in aller Unverfrorenheit die Vorzüge ökonomischer Amoral. Somit gehört er zu den ideellen Vätern der Pegadisten, die in aggressiver Dummheit die ungerechten Verhältnisse in der Welt anklagen – zu Lasten jener, die angeblich mehr von den Früchten der Ungerechtigkeit profitieren als sie, die Allerletzten in der Reihe. Die Absegnung inhumaner Verhältnisse trifft auf eine katastrophale Attacke gegen noch schwächere Opfer der Verhältnisse, die von den Angreifern – in verzerrter Geschwisterrivalität – als grundlos Bevorzugte eingestuft werden.

Eben noch waren die Gazetten voller Hohn über Gutmenschen und moralische Traumtänzer. Plötzlich outen sie sich als Übermoralisten, die keinen Tag länger randalierende Amoralisten im Lande dulden werden.

In zurückliegenden Zeiten, als Moral sich noch von selbst verstand, lechzten die Moralübersättigten nach dem Kitzel virtueller Amoral. Philosophie und Literatur im Dienste der Moral – welch abscheulicher Verstoß gegen alle Regeln deutscher Ästhetik.

Der Spießer wird zum Weltmann, wenn er auf der Bühne Hurerei, Mord und Totschlag erlebt. Da wallt das behütete Herzchen, wenn es in deutscher Innerlichkeit die virtuellen Versuchungen mit Bravour besteht. Jeder deutsche Faust in Pantoffeln braucht seinen Mephisto, um sich das Böse der Welt im Heimkino präsentieren zu lassen. Bildung ist, wenn die Welt in Stücke gehauen wird – und man ungestört sein Bier trinken kann.

Nun kriegen sie Angst, die Zauberlehrlinge des virtuellen Bösen. Die Frucht ihres amoralischen Ästhetizismus ist endlich aufgegangen – als Pöbelecho in Clausnitz und Bautzen. Wenn sie schon Mist bauen, die Deutschen, muss es wenigstens Ästhetik sein. Als sie sich von der politischen Moral abwandten – wegen der Gräuel der Französischen Revolution –, übersetzten sie die Gräuel in Kunst und hohe Kultur, um das Böse der Welt heroisch auf der Bühne zu besiegen.

Seitdem sind die Deutschen gespalten: moralisch für ihre Kinder, wehe, die Kleinen klauen im Supermarkt einen Kaugummi – und amoralisch in der eigenen verwegenen Phantasie. Das war der Landeplatz der abendländisch-antinomischen Doppelmoral bei den Untertanen. Gott und die Fürsten konnten die Sau rauslassen, der Klerus drillte den Massen die Zehn Gebote ein.

Sachsen ist für BILD-Wagner nicht länger die Heimat seines bewunderten Nietzsche.

Nietzsche, Bach, Karl May – sie alle würden sich im Grab umdrehen, wenn sie diese Sachsen sähen. Dieses Sachsen ist nicht mehr das Sachsen von Bach und Nietzsche.“ (BILD.de)

Hätte Nietzsche sich an der Randale seiner Landsleute beteiligt? Iwo, vor Aufregung hätte das Pastorensöhnchen sich in die Hosen gemacht. Aus der zweiten Reihe aber hätte er zarathustramäßig skandiert: was fällt, das soll man noch stoßen. Die Schwachen sollen zugrunde gehen.

Den deutschen Übermenschen erkennt man an der Gelassenheit, mit der er, über Leichen gehend, seinen Willen zur Macht feiert. Doch Nietzsche gehört in die Heiligenabteilung der deutschen Hochkultur. Da darf niemand mit Dreck werfen.

Safranski besitzt einen Pinsel, mit dem er alle Geistesrecken der letzten Jahrhunderte mit blendend weißer Farbe übertüncht. Über die politischen Äußerungen des Hofbiografen und die seines Freundes Sloterdijk hätte man sich nicht wundern dürfen, wenn man ihre Bücher gelesen hätte. „– so wie den Erfolglosen oft nur eine terminologische Entscheidung hilft zu behaupten, sie seien Ausgegrenzte und Ausgebeutete.“ (Sloterdijk, Sphären III, Schäume) Alles nur Geschwall, dieses Gerede von Opfern des Kapitalismus. Zuerst wird alles hochgejubelt, dann plumpst man in Entsetzen: wenn wir das gewusst hätten!

Überbietungswettbewerb in Abscheu: das ist die Reaktion der Medien und noch mehr der Politik. Wer am meisten schäumt, ist der Beste, Schönste – und Strengste, wenn er den hugenottischen Namen de Maiziere trägt. Kein einziges Mal – ich wiederhole: kein einziges Mal – wird die Frage gestellt: woher? Was sind die Ursachen des nationalen Rechtsrucks, der kein Ruck ins Recht, sondern ins Unrecht ist.

(Links und rechts sind nichtssagende Begriffe. Wer gegen Recht und Humanität verstößt, ist Feind des Rechts und der Humanität, ob links, rechts, oben oder unten.)

Ursachen und Analysieren der Ursachen sind ausgemustert, seit Verstehen zum Billigen wurde und Absegnen sich als Verstehen aufplusterte. Die Romantiker warfen der Aufklärung vor, sie hätte den armen christlichen Glauben nur abgewertet, verstanden hätte sie nichts. Also verstanden und anempfanden sie alles auf der Welt – um es unterschiedslos zu billigen und abzusegnen. Nichts auf der Welt, was sie nicht an ihr alles-verstehendes Herz gedrückt hätten.

Vom nüchternen Beurteilen hielten sie nichts mehr. Alles war gut, denn alles ruhte in Gottes Hand. Wenn alles gut war, konnte es nichts Böses mehr in der Welt geben. Himmel und Erde wurden zur hegelianischen Synthese. Ab jetzt gab es nur Gutes in der deutschen Geschichte, denn das Böse wurde zur Zofe des Guten, wie Rainer Hank seinen Landsmann ins Anschauliche übersetzt.

Welch dämliche Frage: wie konnte das absolute Böse im 1000-jährigen Reich geschehen? Welches Böse? Die Deutschen hatten das Böse in den Dienst des Guten, den Teufel in den Dienst Gottes gestellt.

„Des Menschen Tätigkeit kann allzu leicht erschlaffen,
Er liebt sich bald die unbedingte Ruh;
Drum geb ich gern ihm den Gesellen zu,
Der reizt und wirkt und muß als Teufel schaffen.“

150 Jahre nach diesen Knittelversen war‘s soweit: die Teufel wirkten und schufen das Gute, um die Erde von bösen Bazillen zu befreien. Soweit ging die Adelung des Teufels nicht, dass man die Juden als teuflische Werkzeuge des Guten hätte gelten lassen. Alles war gut – mit Ausnahme der Juden.

An ihrem völkischen Elend waren die Deutschen nie schuldig. Ursachenerforschung – überflüssig. Sie kannten ja die Dauerursachen ihrer Misere: die Juden. Hunderte von Jahren mussten die Juden die „heiligen Henker“ spielen, wie Haym Maccoby eindringlich analysierte. Sie waren die Entsorger der deutschen Schuld. Das schützte sie auch vor der totalen Vertreibung oder Ermordung. Man brauchte sie in ihrer Opferrolle – bis zum Ausbruch des eschatologischen Dritten Reichs.

Wie die Amerikaner in Gods own country keine Demut mehr benötigten, um auf paradoxe Weise die Macht zu erringen, brauchten die Deutschen die Schuldentsorgungsrolle der Juden nicht mehr. Das war deren Todesurteil.

Seltsamerweise wollten die Täter ebenfalls Opfer sein: sie mussten den Schein auf sich nehmen, als exekutierten sie das Böse. Die bornierte Welt wusste nicht, dass das scheinbare Böse das wirkliche Gute war. Den Schein der Schuld mussten die Täter auf sich nehmen, obgleich sie die Welt vor den wirklichen Bösen erretteten.

Das Urgebrüll der Pegadisten muss in Reinschrift übersetzt werden. Der unausgesprochene Text lautet: hört, ihr Mächtigen, eure Welt ist nicht so, wie ihr sie uns vermittelt. Sie ist weder moralisch, noch demokratisch, weder gerecht, noch friedlich. Das wisst ihr genau. Aber ihr heuchelt, dass sich die Balgen biegen. Diese Heuchelei brüllen wir nieder, diese Bigotterie klagen wir an. Ein zusätzlicher Ossi-Effekt kommt hinzu. „Glaubt ihr Wessi-Angeber tatsächlich, dass unser Ossi-Sozialismus schlechter gewesen ist als euer Ausbeuterkapitalismus?“

Wer sich von abstoßenden Hassgefühlen nicht ins Bockshorn jagen lässt, erkennt, dass die Kritik durchaus ins Schwarze trifft. Lassen wir den Neoliberalismus beiseite, der sich einen Jux draus macht, den demokratischen Staat vor sich her zu treiben. In den letzten Tagen veröffentlichte der SPIEGEL zwei Artikel, die demokratische Grundregeln mit leichter Hand abservieren.

Der Kinderpsychologe Jesper Juul wird mit Beispielen zitiert, die mit Verständigung und Demokratie nichts zu tun haben: „Kind, ich weiß, dass du keine Lust hast, deine Fingernägel schneiden zu lassen – gerade deshalb tu ich es jetzt.“

Geht es noch wilhelminischer? Woher sollen überzeugte Demokraten kommen, wenn Kinder nicht demokratisch erzogen werden? Offensichtlich halten Pädagogen ihre eigenen Methoden für derart autoritär, dass sie alle Erziehung ablehnen – indem sie, ohne zu Erröten, zu Methoden der schwarzen Pädagogik übergehen. Keine einzige Frage, was schief gelaufen sein muss, wenn Kinder nur noch als vernunftfeindliche kleine Bestien empfunden werden und ihre Freiheit dazu benutzen würden, den Eltern auf dem Kopf herum zu tanzen. Erziehen heißt für Juul, in platonischer Weisheit autoritär zu entscheiden, was richtig ist für das Kind:

„Einen anderen ernst zu nehmen heißt nicht automatisch, dieser Person alles zu geben, was sie sich wünscht. Führung ist an die Verpflichtung geknüpft, zuzuhören, zu verstehen und die Wünsche des anderen in einen Entscheidungsprozess einzubeziehen, der das Beste aller in der Familie zum Ziel haben muss. Das ist nicht romantisierend und hat sehr wenig mit Demokratie zu tun.“ (FAZ.NET)

Was ist das für eine Demokratie, wenn Erziehung im Elternhaus, in Kitas und in Schulen mit Demokratie nichts zu tun haben darf?

Der Herausgeber des „European“ darf ohne Begründung behaupten, die Lehre des Christentums sei mit Nazi-Ideologie unvereinbar. Die unübersehbaren Gegenbeweise nimmt er nicht mal zur Kenntnis. In beispielloser Heuchelei wird die Rolle der Kirchen im Dritten Reich verfälscht und als fleckenlose Widerstandsbewegung dargestellt.

Die Lehre des Christentums ist mit keiner völkischen und rassistischen Bewegung vereinbar. Sie war nicht mit der Nazi-Ideologie vereinbar, sie ist es auch heute nicht mit der AfD und ihrem Gedankengut.“ (SPIEGEL.de)

Wenn die katholische Kirche sich weigert, mit der AfD zu sprechen, soll der Anschein erweckt werden, als sei die neue Partei christentumsfeindlich. Das Gegenteil ist der Fall. Viele Mitglieder sind tief katholisch oder fundamental protestantisch. Auf welcher Seite liegt das wahre Christentum, auf der Seite der listigen Bischöfe oder der naiven Laien?

Das Credo gestattet sich alle Gegensätze und tut dennoch, als gebe es nur eine einzige selig machende Lehre. Wenn die herrschende Religion mit allen moralischen und amoralischen Überzeugungen verträglich ist, was soll die Bevölkerung denken? Die abendländischen Werte muss sie für einen Ausbund an Heuchelei halten.

Das sind keine Menschen mehr, das sind Verbrecher: weiß Tillich, dass dieser Satz vor kurzem über Juden gesprochen wurde? Heute sind Juden per Staatsraison sakrosankt, also muss die gepeinigte deutsche Seele sich Ersatzventile suchen. Da bietet sich der Auswurf der Gesellschaft an, wozu Muslime gehören – und demnächst verbrecherische Flüchtlinge. Darf man solche Ereignisse miteinander vergleichen? Man muss. Vergleichen heißt nicht – dies für Hornochsen – gleich stellen. Wer die Wiederholung des Grauens vermeiden will, muss sich erinnern und vergleichen. Wehret den Anfängen.

Der Kern der deutschen Heuchelei betrifft die politischen Schlussfolgerungen aus dem Holocaust. Was sonst eherne Grundlegen der Demokratien sind: die peinliche Einhaltung von Völker- und Menschenrecht, soll in der Freundschaft zu Israel keine Rolle spielen. Die besondere Freundschaft zu Israel soll notwendige Kritik an den israelischen Menschenrechtsverletzungen gegenüber den Palästinensern vermeiden und unterdrücken. Wer dennoch kritisiert, wird in beispiellosem Zynismus zum Antisemiten erklärt. Doppelmoral wird per staatlicher Doktrin zur moralischen Pflicht für jeden Demokraten.

Uri Avnery wird nicht müde, gegen die menschenfeindliche Praxis der israelischen Besatzungspolitik anzukämpfen. Wie alle „Selbsthasser“ steht er auf verlorenem Boden.

„In der Westbank, die von Israel beherrscht wird, leben etwa 2,5 Millionen Menschen, die ohne zivile und ohne Menschenrechte sind.“ (Uri Avnery)

Die deutsche Presse ignoriert fast vollständig die Selbstkritik einer linken Minderheit in Israel. Vorneweg die deutsche SPRINGER-Presse, die sich nicht schämt, sich in einer Reihe mit Netanjahu und Merkel ablichten zu lassen, als sei sie Bestandteil der Regierung. (BILD.de)

Korrupter und heuchlerischer kann Presse nicht sein. Dagegen war die Affäre Lachmann ein Nichts. Ausgerechnet in der WELT, die sich als hochmoralisch-philosemitischen Kern der Republik darstellt, erscheinen regelmäßig die heftigsten Schmähartikel gegen Gutmenschen und moralisierende Traumtänzer. Sind sie moralisch, ist es exquisite Polittugend, sind es andere, muss es bornierte Selbstüberschätzung sein.

Aussichtslos, dem Eindruck zu entgehen, die überwiegende Atmosphäre des Landes sei von Heuchelei durchtränkt. Wohin das Auge schaut, es erblickt verhärtete Schichten von Bigotterie über Politik, Schulen, Universitäten, über Regierung, staatstragende Institutionen und ökonomische Eliteklassen. Was bislang unter der Decke des Wohlstands vergraben war, dringt nun ans Licht.

Die Not bringt es an den Tag. Die vergifteten Dämpfe der Vergangenheit kontaminieren das Tagesgeschäft der Politik. Es wird Zeit, dass die Zustände einer vollendet sündigen Gegenwart vom Herrn der Geschichte bereinigt werden. Der himmlische Vater der Deutschen muss herniederfahren und für geordnete Verhältnisse sorgen.

Die Menschen gehen mit Dauerängsten hausieren, um eine Berechtigung zu haben, sich aufzugeben. Alles wächst ihnen über den Kopf, alles ist zu komplex geworden. Der lange Frieden hat sie leichtsinnig und überheblich gemacht. In Zufriedenheit und verbotener Selbstzufriedenheit begannen sie sich zu langeweilen. Ach Herr, habe ein Einsehen und schlage du darein. Deutschlands apokryphe religiöse Kollektivseele nähert sich der Befindlichkeit ihres himmlischen Vaters, als er aus Zorn über das verdorbene Menschengeschlecht beschloss, die ganze Sippschaft dem Erdboden gleich zu machen.

„Da aber der HERR sah, daß der Menschen Bosheit groß war auf Erden und alles Dichten und Trachten ihres Herzens nur böse war immerdar, da reute es ihn, daß er die Menschen gemacht hatte auf Erden, und es bekümmerte ihn in seinem Herzen, und er sprach: Ich will die Menschen, die ich gemacht habe, vertilgen von der Erde, vom Menschen an bis auf das Vieh und bis auf das Gewürm und bis auf die Vögel unter dem Himmel; denn es reut mich, daß ich sie gemacht habe.“

Das Bedürfnis nach kollektiver Tiefenreinigung führte in unregelmäßigen Abständen zu Kriegen und Verwüstungen. Wie oft feierten sie den Krieg als Befreiung vom unerträglichen Alltag. Nicht nur die Frömmsten sahen apokalyptische Wetterzeichen am Horizont, die sie durch Kreuzzüge, Weltkriege, Judenpogrome, Hexenprozesse, Ketzerverfolgungen, Scheiterhaufen und Inquisition in schreckenerregende Realität verwandeln mussten.

Nur in tiefer Not kann sich die Nation Luthers erneuern. Glaubt sie. Noch ist die Lernfähigkeit der Vernunft zu ihr nicht durchgedrungen. Noch kommt das Heil von Oben.

„Ich sehe die Zeit kommen, wo Gott keine Freude mehr an der Menschheit hat und er abermals alles zusammenschlagen muss zu einer verjüngten Schöpfung.“ Sprach Goethe zu Eckermann im Jahre 1828.

 

Fortsetzung folgt.