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Europäische Idee XX

Hello, Freunde der europäischen Idee XX,

Stell dir vor, Europa zerbricht – und alle folgen dem Deutschen mit dem Vorschlaghammer:

Oh Schwestern, bin ich denn grausam? Aber ich sage: was fällt, das soll man auch noch stoßen. Der Europäer ist etwas, was überwunden werden muss. Nein, der Mann ist etwas, was überwunden werden muss. Nein, der Mann ist schon tot, er merkt es nur noch nicht.

Stell dir vor, abendländische Werte entpuppen sich als Müll – und alle folgen Zarathustra, dem Entsorger des abendländischen Mülls, dem Erfinder des deutschen Silicon Valley – lange vor seinen amerikanischen Nachahmern:

Als ich zu den Europäern kam, da fand ich sie sitzen auf einem alten Dünkel: Alle dünkten sich lange schon zu wissen, was dem Menschen gut und böse sei. Dieses Gutmenschen-Getue störte ich auf, als ich lehrte: was gut und böse ist, das weiss noch Niemand: – es sei denn der Schaffende, der sich täglich neu erfindet! – Das aber ist Der, welcher des Menschen Ziel algorithmisch schafft, der Erde einen digitalen Sinn giebt und eine voll technisierte Zukunft: Die geniale Maschine erst kreiert und bestimmt, dass Etwas gut und böse ist. Abendländische Werte sind von gestern. Sie müssen überwunden werden – schlagt Europa in Stücke.

Der Westen – ein Stein und Maschine gewordener Heuchel- und Gewaltblock. In welchem Maß muss die Doppelmoral bis zum Himmel schreien, dass die cholerische Wut eines amerikanischen Trampel-Kandidaten von vielen Amerikanern als befreiender Ausbund der Ehrlichkeit empfunden wird?

Shit-Stürme sind El Niños aus dem marianischen Tiefseegraben des abendländischen Unbewussten. Messt die Intensität der alles nieder reißenden Gefühlseruption und ihr könnt erahnen, wie ungehemmt im christlichen Westen geheuchelt wurde, dass

die Schwarte kracht.

Europa, dein Name ist Bigotterie. Was ist von einer Religion zu halten, die unheuchelnd als Heuchelei auftritt? Ihr Programm ist Heucheln, daraus aber macht sie kein Hehl. Müsste man nicht von ehrlicher Lüge oder ungeheuchelter Doppelmoral sprechen?

„Aber Jesus rief sie zu sich und sprach: Ihr wisset, daß die weltlichen Fürsten herrschen und die Obersten haben Gewalt. So soll es nicht sein unter euch. Sondern, so jemand will unter euch gewaltig sein, der sei euer Diener und wer da will der Vornehmste sein, der sei euer Knecht, gleichwie des Menschen Sohn ist nicht gekommen, daß er sich dienen lasse, sondern daß er diene und gebe sein Leben zu einer Erlösung für viele.“

Das ist eine Anleitung zur Maskierung, zur Schauspielerei, die für weltliche Gemüter nicht erkennbar ist – es sei, sie kennen den religiösen Imperativ zur Verstellung. Hier versteht man, warum Luther Schauspielerei mit Heuchelei übersetzt. Dass er den Befehl seines Herrn als hypokrisie bezeichnet, ist eine Fehlleistung, die das Richtige trifft: wer andere beherrschen will, muss den Demütigen mimen.

Die Demütigen, die sich von anderen absichtlich unterschätzen lassen, um aus der Tiefe des Raums als hinterlistige Herrenmenschen aufzutauchen, sind Schauspieler der Selbst-Verzwergung, die am Ende aller Dinge Sieger sein wollen. Seid Letzte, um Erste zu werden. Die Knechte erhöht Gott zu Herren.

Die weltlichen Rollen werden auf den Kopf gestellt, damit die Welt kopflos werde. Gebet dem Kaiser, was des Kaisers ist – also nichts – und Gott, was Gottes ist – also alles. Zum Nichts gehören Steuern bezahlen und sonstige Belanglosigkeiten.

Aber: ist Schauspielern überhaupt Heucheln? Auf keinen Fall – solange niemand leugnet, dass er eine Rolle spielt. Jeder Zuschauer, jeder Schauspieler, der die Bühne nicht mit dem Leben verwechselt, kann zwischen Rolle und Wirklichkeit unterscheiden.

Das Christentum fordert zum bewussten Verstellen auf. Da nach 2000 Jahren gepredigter Vermummung jeder Abendländer wissen könnte, dass christliche Himmelssucher sich demütig geben, um am Ende zur Rechten Gottes zu sitzen, kann die Lehre keine Heuchelei sein. Einerseits. Da dieselben Menschen sich aber als Christen ausgeben, obgleich sie keine sind, sich zudem dumm stellen, was christliche Lehre angeht, ergibt sich das seltsame Bild einer Heuchelpolitik, die ihr Heucheln gar nicht leugnet – und dennoch Heucheln ist, weil die Schafe nichts mehr wissen wollen von absichtlichem Rollenspiel ihres Glaubens. Andererseits. Sie könnten alles wissen, stecken aber den Kopf in den Sand, um nicht den Segen von Oben zu verlieren, auch wenn sie von der Kirche nichts mehr wissen wollen.

Deutsche nennen ihr verzwicktes Spiel Einheit von Vernunft und Glauben. Amerikaner sind hier ehrlicher. Aufklärung ist für sie ein Teufelsgesang. Sie folgen ohne Wenn und Aber dem rollenverkehrten Kommando: wer euer aller Herr sein will, sei euer aller Knecht. Hoppla, und schon stolpern wir wieder über die dialektische Rennstrecke der Welteroberer, die die Rollenspiele der Welt ins Gegenteil verkehren. Ein Amerikaner und Knechtsein? Das passt zusammen wie Colt und Gebetbuch.

Was ist passiert? Als Europäer wanderten sie als Knechte ein, die als Letzte die Ersten sein wollten. Doch in Gods own country hatten sie das verkehrte Spiel nicht mehr nötig. Im Neuen Kanaan hat die sündige Welt nichts mehr zu sagen. Im neuen Reich ist das äffische Rollenspiel der Welt für immer vorbei. Die Letzten sind zu Ersten geworden, die es nicht mehr nötig haben, die Letzten zu mimen. Was auf dem Kopf stand, steht im irdischen Paradies wieder auf den Füßen – wenngleich auf wiedergeborenen. Man muss die alte verworfene Welt nicht mehr mit der List des Glaubens besiegen. In der neuen Welt ist sie bereits besiegt. Hegels List der „Vernunft“ war ein Abkömmling seines altschwäbischen Pietismus, aufgemotzt zur Vernunft der Welt, die aber dem Weltgeist, dem lutherischen Herrn der Heilsgeschichte, völlig untertan war.

Fromme Amerikaner kennen nicht den mittelalterlichen Mönch Joachim di Fiore. Dennoch kennen sie sein Drittes Reich auf Erden: es ist ihr neuer Kontinent. Das Dritte Reich, welches die Deutschen mit Feuer und Schwert erobern mussten, ist für Amerikaner das Geschenk ihres Gottes an seine Auserwählten – wenngleich die Indianer auch dran glauben mussten. Die Auserwählten: das sind sie, die Weißen aus Europa. Schon hienieden dürfen die Prädestinierten den Vorschein des jenseitigen Paradieses erleben.

Nicht, dass der irdische Garten Eden schon der endgültige im Himmel wäre. Noch gibt es viele Heiden und Ungläubige auf der Welt, mit denen die Kinder Gottes sich herumplagen müssen. Dem Reich des Guten stehen noch immer diverse Reiche des Bösen gegenüber. Früher der gottlose Sozialismus. Heute sein russisch-orthodoxer Nachfolger.

Ohne Kalten Krieg gegen das Böse in der Welt können die Amerikaner nicht ruhig schlafen. Und wenn Moskau endgültig besiegt sein wird, stehen die kapitalistischen Sozialisten aus China vor der Türe und fletschen das teuflische Gebiss. Mit denen wird es den endgültigen Endkampf geben, wenn Putin in der Taiga längst verschollen sein wird.

Noch haben sie zu tun, die Ausgesonderten und Erwählten, um die alte verruchte Erde endgültig zu besiegen und zu plündern, damit das Neue an ihre Stelle treten kann. Das ganz Neue – die Zukunft der Erwählten, die mit gottähnlichen Erfindungen die alte Welt zerschmettern wird: das ist Silicon Valley, die bethlehemitische Wiege des lang ersehnten Messias, der in trans-humaner Form als sich selbst erschaffende Intelligenzbestie das Alte endgültig begraben wird.

In Kalifornien wird die Verheißung zur Erfüllung: und das Wort ward algorithmische Maschine und schien in die Finsternis – doch die Finsternis hat es nicht begriffen. Also muss man sie zwangsbeglücken wie die arabischen Völker oder in eine Ruinenlandschaft verwandeln.

„Und ich sah einen neuen Himmel und eine neue Erde; denn der erste Himmel und die erste Erde sind verschwunden und das Meer ist nicht mehr.“

Was wurde aus dem Meer? Zuerst eine riesige Pfütze aus Plastikabfällen, die sich per finalem Wunder in einen „Strom des Wassers des Lebens“, klar wie Kristall, transsubsantiieren wird.

„Und er zeigte mir einen lautern Strom des lebendigen Wassers, klar wie ein Kristall; der ging aus von dem Stuhl Gottes und des Lammes. Mitten auf ihrer Gasse auf beiden Seiten des Stroms stand Holz des Lebens, das trug zwölfmal Früchte und brachte seine Früchte alle Monate; und die Blätter des Holzes dienen zu Heilung der Völker. Und es wird kein Verbanntes mehr geben. Und der Stuhl Gottes und des Lammes wird darin sein; und seine Knechte werden ihm dienen und sehen sein Angesicht; und sein Name wird an ihren Stirnen sein. Und wird keine Nacht da sein, und sie werden nicht bedürfen einer Leuchte oder des Lichts der Sonne; denn Gott der HERR wird sie erleuchten, und sie werden regieren von Ewigkeit zu Ewigkeit.“

Die Nacht, das Reich des Dunkels, ist besiegt. Alles wird gleißend hell werden. Nicht durch die minderwertige, naturwüchsige Sonne, sondern durch Gott persönlich, der von seinen Geschöpfen als Kunstlicht erschaffen werden wird. Die Natur muss ausgerottet werden, damit das Reich des Geistes seine ewige Herrschaft antreten kann.

Das Reich des Geistes ist das Reich der Technik, das durch selbsterfüllende Prophezeiung das ewige Kunstlicht erfinden wird. Da jeder Glaube nichts anderes ist als das Thomas-Theorem – was du für real hältst, wird durch dein selbsterfüllendes Tun real – ist die Heilsgeschichte für Amerikaner das phantastische Drehbuch für phantastische Zukunftsvisionen.

Warum sind in der Moderne säkulare Utopien verboten? Weil sie die heilige Utopie der Johannes-Offenbarung stören würden. Es darf nur eine Vision geben: was die Wiedergeborenen als technische Erfüllung ihrer johanneischen Projektionen als ihre Vision betrachten.

Ron Nail von der Singularity-Universität (Singularität ist jener unumkehrbare Zeitpunkt in der Zukunft, wo die Maschine den Menschen endgültig übertreffen und überflüssig machen wird) ist der festen Meinung, dass in 29 Jahren alle Probleme der Welt gelöst sein werden. Innerhalb der Lebensspanne Jesu wird die IQ-Maschine als jesuanischer Roboter ausgereift sein.

„Die Macher der Singularity University glauben, dass Technik die Probleme der Welt lösen wird. Ihr Chef sieht langfristig rosige Zeiten für die Menschheit. Für die Zeit bis dahin sieht er aber schwarz. Heute forscht hier Google an den Robotern der Zukunft. Der Nasa-Forschungspark ist genau das richtige Umfeld für die Singularity University, deren Chef Nail ist. Hier verbindet sich der alte Traum vom Griff nach den Sternen mit einer neuen Art von technologischer Utopie: die Lösung der Menschheitsprobleme mittels Technologie.“ (WELT.de)

Das Christentum hat keine Hemmungen, seine Immoralität als absolute Moral in die Welt zu posaunen. Seine heiligen Schriften haben nichts zu verbergen. Von Heuchelei ist die Bibel weit entfernt. Und dennoch wird die himmlische Botschaft zur Heuchelei – durch den Kontrast der einfachen Moral der Völker, deren gesunder Menschenverstand die Umkehr aller Methoden nicht verstehen kann und sie nach dem Muster ihrer Geradlinigkeit beurteilt.

Der Demütige soll Herr, der Letzte der Erste sein? Solche Gedankenkünste sind einer intakten Menschenvernunft fremd. Sie beurteilt einen Menschen nach dem, was er sagt – und was er tut. Tun und Sagen müssen für ihn übereinstimmen.

In der Christenmoral ist scheinbar alles auf den Kopf gestellt – in Wirklichkeit bleiben Herrschafts- und Gehorsamsverhältnisse unverändert. Nur, dass die Ohnmächtigen zu Herrschern und die Gewaltigen vom Thron gestürzt werden. Marxens Revolution ist nach diesem Muster gebildet. Nach dem Umsturz werden die Proletarier die Mächtigen, die Ausbeuter werden ausradiert. Herren- und Dienerklassen bleiben unverändert. Nur das Personal wurde ausgetauscht.

Jesu‘ Kriterium des Heuchelns ist die sokratische Übereinstimmung zwischen Reden und Tun. Seine Weherufe über die heuchelnden Pharisäer beginnen mit der Diagnose: „Sie sagen es und tun es nicht“.

Über Sokrates schreibt ein Kenner: „Die sichtbare Übereinstimmung von Denken und Handeln, die schlichte Rechtschaffenheit ohne alles Pathos, die Bedürfnislosigkeit ohne die Eitelkeit des Asketen, die ruhige Sicherheit und Festigkeit in allen Lebenslagen, die dem Toben der Menge ebenso standhielt wie der drohenden Zumutung eines Gewaltherrschers, und nicht zuletzt die heitere Gelassenheit im Tode: das war es, was an diesem einzigartigen Manne bei Mit- und Nachwelt einen unauslöschlichen Eindruck hinterließ.“

Den Pharisäern wirft Jesus vor, sie redeten anders als sie handelten. Sie würden peinliche Einhaltung endloser Vorschriften verlangen, doch die Lehre von der Barmherzigkeit, dem Recht und der Treue würden sie vernachlässigen. Sie seihen Mücken und verschlucken Kamele. „Ihr Schlangen, ihr Natterngezücht! Wie wollt ihr dem Gericht der Hölle entrinnen? Auswendig erscheint ihr den Menschen als gerecht, inwendig aber seid ihr voll von Heuchelei und Gesetzesverachtung.“

Wie will er selbst dem Vorwurf der Doppelmoral entrinnen, wenn er seinen Jüngern Feindesliebe predigt, aber seine eigenen Feinde in die Hölle schickt? Jesus misst seine Gegner mit dem Maßstab sokratischer Wahrhaftigkeit – dem er selbst nicht genügt. Wenn Pharisäer gute Werke tun, machen sie es wie die Modernen: Tu Gutes – und sprich drüber. Bill Gates und alle Charity-Giganten wären, mit Jesu Augen gesehen, blanke Angeber und Heuchler.

„Alle ihre Werke aber tun sie, um von den Menschen gesehen zu werden“.

Gute Werke tun sie nicht um der Werke willen, sondern um bei Menschen Ansehen zu gewinnen. Das gesamte Image-Gebaren heutiger ZeitgenossInnen wäre nichts als fluchwürdige Eitelkeit.

Der Pharisäer ist stolz auf seine Frömmigkeit, der Zöllner schlägt an seine Brust: Gott, sei mir Sünder gnädig. „Denn jeder, der sich selbst erhöht, wird erniedrigt werden, wer sich aber selbst erniedrigt, wird erhöht werden.“

Was aus solchen Paradoxien geworden ist, wissen wir nach 2000 Jahren Demutsheuchelei. Die sich selbst erniedrigenden Zöllner sind zu Superfrommen geworden, die bei Gott die Ersten sein wollen. Wer sich selbst erhöht, indem er sich erniedrigt, der wird von Gott angenommen.

Warum soll man auf seine Leistungen nicht stolz sein? Gott hasst jeden, der sich seiner Fähigkeiten rühmt. Selbstrühmen ist teuflische Eitelkeit. Nur Gott gebührt die Ehre des Rühmens. Er will der wahre Vater aller Geschöpfe sein, die irdischen Väter zählen nicht. Auch hier wird Natur durchgestrichen. Der himmlische Vater ist es, der den irdischen Vätermord anordnet. Nur er darf Lehrer der Menschen heißen, die irdischen Lehrer sind Schall und Rauch.

Wie aber reimt sich das Verbot des sich selbst Rühmens mit der unmissverständlichen Forderung der Bergpredigt, sein Licht aller Welt kund zu tun, sein Licht nicht unter den Scheffel zu stellen?

„Ihr seid das Licht der Welt. Es kann die Stadt, die auf einem Berge liegt, nicht verborgen sein. Man zündet auch nicht ein Licht an und setzt es unter einen Scheffel, sondern auf einen Leuchter; so leuchtet es denn allen, die im Hause sind. Also laßt euer Licht leuchten vor den Leuten, daß sie eure guten Werke sehen und euren Vater im Himmel preisen.“

Widersprüche ohne Ende. Sind Widersprüche Zeichen von Heuchelei? Nicht für Götter und deren Söhne, die keinen Gesetzen der Logik untertan sind. Sie dürfen alles – und das Gegenteil, denn sie sind omnipotent und schweben über allen Gesetzen (Antinomie).

Für die heidnische Welt ist Widerspruchsfreiheit das Ziel einer glaubwürdigen Moral. Nur mit Hilfe des Satzes vom Widerspruch konnte Sokrates seinen demokratischen Zeitgenossen wirres und unglaubwürdiges Denken und Tun nachweisen.

Für Erlöser gelten keine heidnischen Denkregeln. Der Mensch denkt, Gott spottet seiner. Je widersprüchlicher und geheimnisvoller, umso heiliger das Numinose.

Einhelligkeit von Denken und Tun ist Zeichen glaubwürdiger Moral. Ist jedes Abweichen von dieser Norm bereits Kennzeichen von Heuchelei? Keineswegs. Wir predigen alle mehr, als wir durch die Tat erfüllen können. In moralischen Dingen ist niemand perfekt und alle müssen wir hinzu lernen. Es wäre anmaßend, nur für moralisch zu halten, was wir selbst realisieren könnten. Moral ist mehr, als wir selbst vermögen.

Doch selbstkritisch müssten wir den Unterschied zwischen Norm und Können als Defizit anzeigen. Was wir als Moral verkünden, übersteigt unsere eigenen Fähigkeiten. Der Verweis auf unsere Mängel ist kein Demutsakt, sondern nüchterne Selbsterkenntnis. Erkenne dich selbst – um dich weder größer noch kleiner vor den Menschen darzustellen. Ein gesundes Selbstbewusstsein erkennt man an der Fähigkeit, seine Entwicklung wahrzunehmen, ohne überheblich zu werden oder in Depressionen zu verfallen.

Gläubige sind nie perfekt, auch wenn ihnen keine Sünden bewusst sind. Im Herzen hegen sie immer böse Gedanken. Der Mensch sieht, was vor Augen ist, Gott aber sieht das Herz an. Unter den allwissenden Augen seines Gottes kann kein Mensch unschuldig werden. Nur Gnade und Barmherzigkeit können ihn von allen Sünden reinigen. Solange der Mensch sich vor Gott seiner autonomen Moral rühmt, bleibt er ein Heuchler. Denn er leugnet die Sünde, die nur Gott sehen kann.

Lügner, Zyniker und Machiavellisten sind keine Heuchler. Sie wissen genau, dass sie andere betrügen, um sich Vorteile zu verschaffen. Ihre Doppelmoral ist eine Strategie der Macht. Vor Eingeweihten und Kumpanen können sie in spöttischer und boshafter Weise offen sein.

Heuchler hingegen sind felsenfest davon überzeugt, dass sie ihren moralischen Grundsätzen gerecht werden. Aus Selbstschutzgründen sind sie nicht in der Lage, ihre Unvollkommenheiten und Verblendungen wahrzunehmen. Sie überschätzen sich, um den Status ihrer Moralität nicht zu verlieren oder unterschätzen sich, weil sie Versagensängste haben oder zu feige sind, um gegen den Strom zu schwimmen.

Heuchler sind von ihrer moralischen Qualität derart überzeugt, dass jede Kritik sie im Innersten trifft, weshalb sie sich aus der Öffentlichkeit zurückziehen oder in gekränkter Verbissenheit gegen die Kritiker zurückschlagen. Nichts Aggressiveres als tödlich beleidigte und gekränkte Heuchler. Fanatiker sind Heuchler, die von ihrer Vollkommenheit überzeugt sind.

Ist es nicht merkwürdig, dass der Begriff Heuchelei erst zu Beginn der Neuzeit aufkommt und debattiert wird? Die Griechen kennen hypokrisie nur als Schauspielkunst. Gorgias definiert die Schauspielkunst als „berechtigte Täuschung“. In der Stoa kommt die Lehre von der Persona auf. Jeder Mensch kann verschiedene Masken tragen.

Heute würden wir von individuellen Anlagen sprechen. Zum ersten Mal war bei Panaitios die sittliche Berechtigung zur Entfaltung der eigenen Individualität anerkannt. Doch eine grenzenlose Entfaltung des Eigenwilligen war damit nicht gemeint. „Entscheidend ist die allgemeine Menschennatur, die den Einzelnen dem für alle in gleicher Weise verbindlichen Naturgesetz unterstellt und die Grenzen absteckt, innerhalb deren allein sich die individuelle Eigenart entwickeln darf.“ (Max Pohlenz, Die Stoa)

Heute darf grenzenlose Individualität die gemeinsame Vernunft der Menschen nach Belieben verhöhnen und degradieren. Ja, der Wert der eigenen Persönlichkeit scheint darin zu liegen, in welchem Maße sie gegen alle allgemeinen Maßstäbe des Humanen verstößt. Heute gilt als gutmenschlicher Heuchler, wer sich generellen Normen der Menschlichkeit unterwirft, anstatt seine unvergleichliche Person auf Kosten aller andern zu verwirklichen. Das Selbst der Selbst-Verwirklichung muss das Selbst aller anderen negieren, damit es sich bewundern kann.

Keine Rezension eines Buches im deutschen Feuilleton ohne die Bemerkung, der Autor erhebe keinen moralischen Zeigefinger. Warum leben wir nicht wild und gefährlich, warum gehen wir nicht aufs Ganze, fragte vor Tagen ein Künstler, der offensichtlich noch nicht bemerkt hat, dass wir alle wild und gefährlich leben und das Ganze der Gattung aufs Spiel setzen.

Fritz Pleitgen sprach im Presseclub vom Zusammenbruch der abendländischen Werte als dem Hauptgrund der heutigen Krise. Niemand ging auf ihn ein. Abendländische Werte, na und? Ist diese Gleichgültigkeit in Lebensfragen kollektive Heuchelei – oder Zynismus im Stadium der Degenereszenz?

Hatten wir bislang keine gemeinsamen Werte, war Europa auf Sand gebaut. Hatten wir welche – und werfen sie nun leichtsinnig über Bord, sind wir im Stadium der Selbstzerstörung angekommen.

Europas Moral ist ein ewiger Kampf zwischen schlichter Griechenmoral und christlicher Umwertung aller Werte – die alles beim Alten lässt und die alten Werte der Macht und Weltherrschaft weiterführt, nur mit anderen Herrenklassen und Eliten. Nietzsche erkannte nicht die bloß strategische Umwertung der Werte durch das Christentum, die im Grunde alles beließ, wie es war, nur mit neuen Herren der Welt: den Gläubigen.

Die Paradoxie der strategischen Umwertung aller Werte ist für die eindeutige Moral der antiken Menschenrechte eine Orgie an Heuchelei. Christen errangen die Macht, indem sie taten, als begehrten sie nichts als Demut und Unterwürfigkeit. Unter der Maske der Letzten wollten sie Erste werden. Das gelang ihnen mit einem derart stupenden Erfolg, dass der christliche Westen mit Wirtschaft, Technik und zügelloser Amoral die Welt eroberte.

Gott ist in den Schwachen mächtig: diese Heuchelei geht heute in die Brüche. Das kann zur Gefahr – oder zum Segen für die Menschheit werden. Nur eine Moral ohne Selbstverblendung kann das Fortleben der Gattung garantieren.

 

Fortsetzung folgt.