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Europäische Idee XV

Hello, Freunde der europäischen Idee XV,

befriedete, freie Menschen haben weder ein Über-Ich noch ein Es. In reifen Menschen sind Es und Über-Ich zum bewussten, klar denkenden Ich geworden. Das kannibalistische Ich der Vernunft frisst bedenkenlos seine unbewussten Kontroll- und Ausscheidungsinstanzen. Von fremden Stimmen lässt es sich nicht einschüchtern und bedrohen, also hat es nichts zu verbergen und zu verdrängen. Projekt Aufklärung fällt zusammen mit Projekt Bewusstsein.

Kants griffige Parole: habe Mut, mit deinem eigenen Kopf zu denken, war zu unmutig. Vollständig müsste sie lauten: denke selbständig – aber handle auch danach. Gedanken sind nicht frei, wenn sie sich im Herzenskämmerchen vor der Obrigkeit verstecken.

Warum scheiterten alle revolutionären Bestrebungen der Deutschen? Weil ihre Gedanken innerlich blieben und sie zu feige waren, Taten folgen zu lassen. Goethe interessierte sich nur für die eigene Persönlichkeit („höchstes Glück der Erdenkinder ist doch die Persönlichkeit“), die Persönlichkeiten benachteiligter Klassen überließ er Predigern, die er verachtete wie Knoblauch und Schnupftabak. Auch Schiller hatte in Weimar längst seinen Enthusiasmus für die Französische Revolution eingebüßt und ließ seinen Marquis Posa um Freiheit betteln, die keinen Mächtigen vom Hocker reißen konnte: Sire, geben Sie Gedankenfreiheit. Doch was, oh Marquis, wenn nicht?

Das Lied „Die Gedanken sind frei“ wurde im Jahre 1780 zum ersten Mal auf Flugblättern veröffentlicht:

1. Die Gedanken sind frei,
wer kann sie erraten,
sie fliehen vorbei
wie nächtliche Schatten.
Kein Mensch kann sie wissen,

kein Jäger erschießen,

es bleibet dabei
die Gedanken sind frei.

2. Ich denke, was ich will,
und was mich beglücket,
doch alles in der Still,
und wie es sich schicket
.

Mein Wunsch und Begehren
kann niemand verwehren,
es bleibet dabei:
die Gedanken sind frei.

4. Und sperrt man mich ein
im finsteren Kerker,
das alles sind rein
vergebliche Werke;
denn meine Gedanken
zerreißen die Schranken
und Mauern entzwei:

die Gedanken sind frei.

5. Drum will ich auf immer
den Sorgen entsagen

und will mich auch nimmer
mit Grillen mehr plagen.
Man kann ja im Herzen
stets lachen und scherzen

und denken dabei:
die Gedanken sind frei.

Das ist deutsche Innerlichkeit als pathologische Hybris. Sich mit Grillen plagen, den Sorgen nicht entsagen, sondern sie lösen: das wäre politische Freiheit gewesen, in der nicht alles still und schicklich zugehen kann.

Wenn der gegenwärtige Shitstorm fäkal und kriminell daherkommt, so liegt es daran, dass viele Jahrhunderte die Untertanendevise galt: Ruhe ist die erste Bürgerpflicht, seid untertan der Obrigkeit. Die Unteren verstehen nicht die hohen Gedanken der Oberen, deren Regierungskunst ihnen zu komplex ist. Komplex ist sie ihnen auch heute noch und in alle Ewigkeit, Amen.

Wenn Europa kollabiert, müssen Schuldige gefunden werden. Ergo kursiert in Gazetten die dreiste Behauptung: Europa sei ein Elitenprojekt. Dann können es nur Pöbelhorden sein, die das kostbare Unternehmen mit hämischer Freude zum Einsturz bringen. Elitepolitiker Kohl, ganz allein, räumte mit pfälzischer Saumagenkraft die Schlagbäume beiseite – und Jungfer Europa sprang frisch aus dem Ei.

Gedanken kann man nicht erschießen? Oh doch – wenn man diejenigen erschießt, die Gedanken haben. Sophie Scholl und Freunde können kein Lied mehr davon singen. Gedanken erraten kann man heute ohnehin. Dafür sorgen Google, Amazon, die NSA und andere algorithmische Gedankenleser.

Okay, vielleicht ist es zu hoch gegriffen, von Gedankenlesen zu sprechen. Gedanken müsste man erst haben. Wie wär‘s mit ferngelenkten Konsum- und Wohlstandsgelüsten? Wenn das keine hinterlistige Form des Widerstands ist: gottgleiche Maschinen wollen Gedanken lesen – doch Gedanken sind weit und breit nicht zu sehen. Da werden sie dämlich gucken, die Genieroboter, wenn sie nichts anderes finden als die existentiellen Fragen: heute zu H&M – oder doch lieber zu Peek und Cloppenburg?

Sollten die Innerlichkeitsleser dennoch auf Gedanken stoßen, keine Sorge, nur keine Sorge. Sogleich erscheinen hochkomplexe Gehirnausschütter und wiegeln ab: ach was, Gedanken. Da wurde Serotonin ausgeschüttet. Oder Adrenalin, und wie all die überwachungskonformen, naturidentischen Gedankenersatzstoffe heute heißen mögen.

In amerikanischen Elite-Unis der konservativ-religiösen Art müssen Studenten den ganzen Tag Überwachungsbänder tragen, wenn sie eine gute Abschlussnote ergattern wollen. Werden heute körperliche Ausschüttungen gemessen, dann morgen die politischen und geistigen Einstellungen, die man aus ihnen folgern kann. Deutsche Elite-Unis liegen schon auf der Lauer, um Chancengleichheit per Bildung mit dem Hundehalsband auch bei uns zu verwirklichen. Übererregte Sexualereignisse – gar in sündigem Übermaß – werden den Prüfern nicht unbedingt gefallen. Wer Luthers Norm: in der Woche zwier, macht im Jahre 104, übererfüllt, macht sich verdächtig. Für den Staatsdienst ist er nicht mehr geeignet. (SPIEGEL.de)

Freud, kein Epikuräer, verortete die Lust im Es, um sie als triebhaft und irrational zu verleumden. Erneut wurde das Lustprinzip, kaum anders als bei sinnenfeindlichen Kirchenvätern, dem Realitätsprinzip unterworfen, als ob es, unreglementiert, die Wirklichkeit in Stücke sprengen könnte. Wilde, Frauen und Kinder waren allesamt Es-Geschöpfe und mussten vom realitätstüchtigen Ich-Mann an die Leine genommen werden.

Dem analytischen Seelenforscher Freud hätte kein Kirchenvater widersprochen, der das Weib als verführerischen Sündenpfuhl und das Kind als Erbsünder betrachtete. Wen wundert es bei solchen Es-Diffamierungen, dass die Psychoanalyse ausgerechnet in die Hände jener fiel, vor denen Freud am meisten gewarnt hatte: der Priester und Mediziner.

Was in der Kirche die Bergpredigt war, wurde in der Psychoanalyse zum Realitätsprinzip. Lustmolch Wilhelm Reich, der alle Probleme der Welt nach Art der Bonobos lösen wollte, wurde selbstredend aus dem psychoanalytischen Verein ausgestoßen. Zudem aus dem marxistischen. Klassenkämpfer hätten keine revolutionäre Energie, wenn sie es in westlich-dekadenter Weise trieben.

Warum ist Ossiland zusammengebrochen? Weil die lockeren GenossInnen sich allzu oft dem FKK ergaben, anstatt sich dem Klassenkampf zu widmen. Da Honecker, ohne Autoritätsverlust, sich nicht unter seine freizügigen Untertanen mischen konnte, war es nicht überraschend, in seinem Nachlass viele Filmstreifen mit eifrigem Liebesspiel zu entdecken. Im Kampf der Materie gegen den Geist obsiegte materielle Fleischeslust über den doktrinären Materialismus.

Das Es ist die nicht auszurottende Wildnis mitten im Gehege des lustfeindlichen und arbeitssüchtigen Fortschritts. Pausenlos muss gerodet und ausgereutet werden und dennoch wuchern unbezähmbare Urtriebe im kühlen Bereich der technischen Perfektion.

Was aber ist das Über-Ich? Nein, nicht die Instanz eines überwachen Bewusstseins. Das Gewissen – oder die Stimme Gottes, die Instanz der moralischen Gebote unter Strafandrohung und Lohnverheißung – ist durchaus kein glasklarer Kristallpalast. In welchem Maße piesackt religiöse Zensur die heutigen Zeitgenossen – und dennoch wissen dieselben nicht, woher die Stimmen der Missbilligung, Demütigung und Bestrafung über sie kommen. Sie folgen Geboten, die sie nicht kennen, widersetzen sich heiligen Befehlen, von denen sie nie gehört haben.

Die Gegenwart des christlichen Westens hat kein Ich. Sie wird ferngelenkt von Direktiven, die dem Bauch ihres kollektiven Unbewussten entstammen. Weder ihre als Triebe diffamierten Bedürfnisse, noch ihre als religiöse Normen befehlenden moralischen Pflichten sind ihrem Ich-Bewusstsein so bewusst, dass sie Rechenschaft darüber ablegen könnten. Worüber man keine Rechenschaft ablegen kann, das kann man nicht verändern.

Im Gegensatz zu ihrem Selbstbild, wonach sie sich täglich neu erfindet, verändert sich die Moderne nur quantitativ. Höher, schneller, weiter, reicher: das sind quantitative Veränderungen. Der qualitative Kurs der Moderne bleibt seit Jahrhunderten starr und unverändert. Im Mittelpunkt ihres Daseins bleiben Malochen, Raffen, Mächtigwerden, Naturbesiegen und die Herrschaft über die Erde erringen. Nichts Neues im Staate Dänemark seit erdenklichen Zeiten.

Trügerischer kann das Selbstbild nicht sein, wenn man es an der ungeschönten Realität überprüft. Neue Maschinen und technische Innovationen beschleunigen nur das Immergleiche im Leben der Moderne. Die ewige Wiederholung des Gleichen war kein Gegensatz zum Fortschrittsglauben der Moderne, wie Nietzsche glaubte. Stillstand ist der verborgene Kern der linearen Heilsgeschichte, die sich äußerlich hektisch ändert, doch innerlich auf der Stelle tritt. Die Moderne kennt keine qualitative Korrektur oder substantielle Veränderung, alles unterliegt immergleichen Fliehkräften in göttliche Seligkeit oder höllisches Verderben.

Warum ist die Gegenwart immer überrascht über das Ausmaß des Verworfenen, welches regelmäßig über sie kommt? Weil sie von ihrem Unbewussten nichts wissen will. Sie verleugnet ihr Es, wenn sie glaubt, ihre Vergangenheit ignorieren zu können, indem sie starr und blind in die Zukunft schaut.

Gedenket nicht des Vergangenen: wer glaubt, seine Sünden seien durch himmlischen Ukas vergeben, der verspürt keine Notwendigkeit, durch Erinnern seine Vergangenheit zu ergründen, um sie der Kontrolle seiner Vernunft zu übergeben. Je stärker der Wahn gepredigt wird, man müsse sich jeden Tag neu erfinden oder von vorne beginnen, je weniger fühlt man sich genötigt, sich ein eigenes Bild über Vergangenheit und Zukunft zu machen. Vergangenheit wird verdrängt, Zukunft als Erfüllung aller Sehnsüchte heilig gesprochen.

Die Konflikte der Gegenwart sind nicht neu. Sie schlummerten unter der Decke der Verdrängung und Verleugnung. Die Historiker wirken bei diesem Akt der Verdunkelung an vorderster Stelle mit. Ihre wissenschaftlichen Erkenntnisse würden – so ihre apolitischen Äußerungen – zur Erhellung der Gegenwart nichts beitragen. Sie machen in Bildung, einem Anhäufen sinnloser Fakten, mit denen man paradiert, ohne dass man sie in den Dienst des Lebens stellen dürfte.

Bildung, einst zur Bewusstseinserhellung erfunden, ist zur listigsten Kunst der Dunkelmänner geworden. Mit Licht soll die Düsternis noch düsterer werden. Der Mensch lernt nichts aus der Geschichte. Bei Hegel musste er auch nichts lernen, denn der Objektive Geist ließ sich in seinen festgelegten Lauf nicht hineinpfuschen.

Heute wird es nicht so offen gesagt: nicht der Mensch macht sein Schicksal, das Schicksal – die Evolution, die Naturgesetze der Wirtschaft, der unaufhaltsame Fortschritt – macht den Menschen. Warum sollten wir uns unserer düsteren Vergangenheit erinnern, wenn wir ohnehin nichts lernen können?

Im Zusammenhang mit Holocaust-Gedenken war früher oft das Wort zu hören: Erinnerung ist das Geheimnis der Erlösung, sagen wir präziser: das Geheimnis der verstandenen und bewältigten Vergangenheit. (Erlösung braucht keine Erinnerung, sondern Gnade und Barmherzigkeit.) Heute ist Erinnern zur Energieverschwendung jener geworden, die sich sentimental der Vergangenheit widmen, anstatt sich den Verheißungen der Zukunft zuzuwenden.

Wir müssten den Zug anhalten, die Maschinen stoppen, um unseren Standort zu orten und gemeinsam zu debattieren, wohin wir wollen. Wollen wir leben – oder unser Leben dem Moloch Zukunft opfern? Lustig und fidel sein – oder babylonische Türme quantitativ aufschichten, die uns unter sich begraben werden? Das Hier und Jetzt als Fülle erleben – oder Vergangenheit negieren und Gegenwart durchstreichen, um einer futurischen Fata Morgana willen?

Eine friedliche Zukunft wird uns nur erwarten, wenn wir unsere Vergangenheit aufarbeiten und die Gegenwart bewusst erleben. Wo Es und fremdgesteuertes Über-Ich waren, soll autonomes Ich werden.

Aufklärung war das Zeitalter des Lichts. Das Licht der Vernunft durchdrang die Dunkelheit religiöser Mächte. Heute sind die wieder erstarkten Mächte der Religion erneut dabei, das Licht zu überwältigen und uralte Dunkelheiten über den Planeten zu verbreiten.

Paulus schildert seinen Heiland als Therapeuten der Erinnerung. „Darum richtet nicht vor der Zeit, bis der HERR komme, welcher auch wird ans Licht bringen, was im Finstern verborgen ist, und den Rat der Herzen offenbaren; alsdann wird einem jeglichen von Gott Lob widerfahren.“

Doch welchem Zweck dient die fromme Erinnerung? Der Erkenntnis der Sünde und der Notwendigkeit der Erlösung durch einen Messias. Das Bewusstsein seiner Sündenlosigkeit nützt dem Menschen nichts, seine unbewussten Sünden sind genau so satanisch wie seine bewussten:

„Denn ich bin mir nichts bewußt, aber darin bin ich nicht gerechtfertigt; der HERR ist’s aber, der mich richtet.“

Das Erinnern des autonomen Menschen ist die Rekonstruktion seiner biografischen Irrungen und Wirrungen, auf der Suche nach der intakten Unversehrtheit seiner Kindheit. Die Weisheit der mütterlichen Urnatur ist fähig, die aufgezwungenen Verirrungen durch männliche Hochkulturen zu durchschauen und zu korrigieren. Wenn Paulus sich seiner Vergangenheit erinnert, wird er sich seiner Verworfenheit erst recht bewusst.

Erinnern zum Gesundbrunnen der Natur – oder zum Unheil einer göttlichen Offenbarung, welche Natur in die Hölle verflucht. Hier das Ja zum irdischen Leben, dort das Nein zum Leben, zugunsten eines Ja zum überirdischen Leben. Es gibt keine Synthese aus Vernunft und Glauben, Natur und Übernatur, Mensch und Erlöser.

„Denn wer sein Leben will behalten, der wird’s verlieren; und wer sein Leben verliert um meinet- und des Evangeliums willen, der wird’s behalten. Was hülfe es dem Menschen, wenn er die ganze Welt gewönne, und nähme an seiner Seele Schaden?“

Die Welt, die zu gewinnen wäre, ist keine des verderblichen Scheins, sondern der Eintracht mit der Natur. Der Gläubige muss sein irdisches Leben verlieren, damit er das überirdische Heil seiner Seele gewinne. Hier gibt es nur Ja oder Nein, was dazwischen ist, ist von Übel.

Die Aufklärung wollte Licht ins Dunkel des Glaubens bringen. Glauben heißt: für wahr halten, was auf Erden ein Geheimnis bleiben muss. Das Licht des Denkens duldet keine Dunkelheiten. Was nicht heißt, der Mensch könne alles wissen. Er kann aber Wissen von Nichtwissen klar unterscheiden. Sokrates wusste nicht mehr, als er wusste. Was er nicht wusste, war entweder unwichtig oder vorläufig zu akzeptieren.

Kann ich das Unbekannte nicht erforschen, muss ich mein grundsätzliches Nichtwissen tolerieren. Das bezieht sich nur auf Theoretisches. Im Praktischen kann ich sehr wohl wissen, wie ein humanes Leben zu führen ist. Das Wissen des Menschlichen lerne ich durch Erfahrungen im Zusammenleben der Menschen.

Der homo politicus in Gesellschaft der Freien ist Voraussetzung der Erfahrung des Humanen. Geht es der Familie, der Sippe, der politischen Gemeinde, der Weltgemeinschaft gut, dann kann es auch mir gut gehen. Geht es mir gut, kann ich es meiner Umgebung weiter geben.

Das Christentum hat die Welt besiegt, weil es alle Moralen nach Belieben absegnet oder verflucht. Ob X oder Nicht-X, Liebe zum Nächsten oder Hass auf die Welt, Helfen aus Barmherzigkeit oder Töten aus göttlicher Pflicht: alles ist möglich aus Glauben, alles verboten aus Nichtglauben. Liebe ist der Blankoscheck für alles oder nichts.

Das zeigt sich in der christogenen Flüchtlingshilfe der Regierung. Merkels Satz, wir schaffen das, hat den Unterton: selbst wenn wir uns dabei opfern müssten. Nächstenliebe kann für Merkel (nur in diesem Fall, auf andern Feldern vertritt sie einen fremdzerstörenden Egoismus) bis zum selbstzerstörenden Altruismus gehen.

Ganz anders beim frommen Katholiken Kretschmann, der täglich für Merkel betet. In einem Interview im TAGESSPIEGEL führt er aus:

„Das Hauptgebot des Christentums heißt: Liebe deinen Nächsten wie dich selbst. Was auch bedeutet: Wir dürfen uns in unserer Nächstenliebe nicht überfordern. Unsere Leitplanken sind das Asylrecht und die Genfer Flüchtlingskonvention. Wer verfolgt wird oder aus Bürgerkriegsgebieten flieht, dem gewähren wir Hilfe, den wollen wir integrieren, wenn er bleibt. Wer aus anderen Gründen kommt, den müssen wir zurückschicken. Ob man das an der Grenze macht oder erst später, ist nicht entscheidend. Entscheidend ist, dass es schnell geht.“ (TAGESSPIEGEL.de)

Wir können Fremde nur so weit lieben, wie wir uns selbst lieben. Was aber, wenn wir uns hassen – um den Herrn zu lieben? Dann müssten wir die Nächsten hassen, weil wir uns selbst hassen.

Die christlichen Polen und Ungarn sehen ihre Pflichten ganz anders als die Lutheranerin, die sich für ihre grenzenlose Liebe von der ganzen Welt feiern lässt. Das christliche Amerika bejubelt einen Kandidaten Trump, der es für christlich hält, auf allen herumzutrampeln, die sich amerikanischen Anordnungen nicht fügen wollen.

Wer ist am christlichsten? Merkel, Kretschmann, Trump, die Polen, Ungarn – oder Putin, der seit Jahren den Weisungen seiner Popen folgt. Dann hätten wir die Griechen, Italiener, Spanier, die nordischen Staaten, ja selbst das laizistische Frankreich, das seinen Katholizismus wieder entdeckt, noch gar nicht erwähnt.

Europa zerlegt sich, obgleich es überall die gleichen Werte haben will. Mit Bewusstsein hat das nichts zu tun. Europa wird erst dann eine folgerichtige und widerspruchsfreie Politik betreiben, wenn es ein gemeinsames ICH entwickelt. Hier hilft kein postmodernes Faseln, Lavieren und Relativieren. In Grundfragen müssen wir uns einigen, sonst zerlegen wir uns.

Die fromme Romantik verdammte die Aufklärung als „Hinwendung zum Endlichen.“ Dadurch werde das „Unendliche den Menschen so weit wie möglich aus den Augen gerückt: in der Unterdrückung des unbefangenen Sinns – durch die Wut des Verstehens und Erklärens. Das Verständige und Nützliche seien nach Schleiermacher die einzigen Interessen der Aufklärung. In allem suche sie Zweck und Absicht. Alles wolle sie zerstückeln und anatomieren. Alles Handeln solle sich aufs bürgerliche Leben beziehen, anstatt auf die Liebe zur Kunst und Dichtung, auf die Sehnsucht und den Geschmack fürs Unendliche“. (Haym, Die Romantische Schule)

Die Romantik lehnte rationale Politik im Dienst des irdischen Lebens ab. Nützlichkeiten und Zwecke fürs Irdische seien überflüssig und schädlich beim Streben nach dem Unendlichen. Wer die Welt lieb hat, kann Sein Jünger nicht sein. Nicht im Erkennen, sondern in „ahnendem Anschaun kann das Ansichseinde ergriffen werden“. Wo Ich war, soll Finsternis mit Ahnungen herrschen.

Das Vorbild heutiger Politik ist nicht die Aufklärung, sondern die in mittelalterliche Frömmigkeit regredierte Romantik. Nicht durchdachtes Bewusstsein, sondern Plappern in dunklen Widersprüchen beherrscht die Tagesdebatten. Religion, so Schleiermacher, ist nicht Moral.

Eine vitale Demokratie aber lebt von glasklarer Vorbildlichkeit. Eine mündige Gesellschaft hat ihr Es durchleuchtet und ihr religiöses Über-Ich abgebaut. Nur ein bewusstes Ich kann ein autonomes sein.

 

Fortsetzung folgt.