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Europäische Idee XLVII

Hello, Freunde der europäischen Idee XLVII,

wie sie miteinander schäkerten, flirteten und sich küssten: der erste schwarze Präsident der USA und die erste weibliche Kanzlerin der Deutschen. Beide aus unterdrückten Minderheiten unwiderstehlich an die Spitze der Welt aufgestiegen. Nachdem Obama die europamüden Briten wegen Bedeutungslosigkeit aus der speziellen Freundschaft verstoßen hatte, warb er um die Deutschen.

Es ist ein Triumph der Freiheit und Gleichheit, wenn Minderheiten an die Macht gelangen. Es ist ein Triumph mit Mängeln, wenn Minderheiten die Machtpolitik der Mehrheiten fortsetzen, als hätten sie diese überwunden.

Die erfolgreichsten ersten Schwarzen gebärdeten sich weißer als die Weißen, die erfolgreichsten ersten Frauen waren männlicher als die Männer. Akkomodierte Schwarze müssen zeigen, dass sie die Machtspiele der Weißen, akkomodierte Frauen, dass sie die Spiele der Männer beherrschen. Erst spätere Generationen sind fähig, die übermäßige Anpassung ihrer Avantgarde wahrzunehmen und zu kritisieren.

Bei der deutschen Arbeiterpartei nicht anders. Aufgestiegene Proleten lassen sich von niemandem in der Verachtung ihrer Herkunftsklassen übertreffen. Wer ist neoliberaler als Schröder und Clement, wer autoritärer und elitärer als Schily und Fischer?

Merkels christliche Politik ist die Kopie der christlichen Politik ihres angeschwärmten Vorbilds. Beide sind Charismatiker, allerdings in konträren Darstellungsformen, die dem Unterschied des amerikanischen und deutschen Christentums entsprechen. Obamas direkter und anfeuernder Stil entspricht der ecclesia triumphans im Neuen Kanaan (der siegreichen Kirche), Merkels Demut und Bescheidenheit ist Frucht einer jahrhundertealten ecclesia patiens (der leidenden Kirche) einer

zurückgebliebenen Nation – die ihren kompensierenden Siegeslauf mit gigantischen Verbrechen nachholen musste.

Obamas amerikanischer Gott ist in den Starken, Merkels deutscher Gott in den Schwachen mächtig. Weder Amerikaner noch Deutsche wissen, in welchem Maß sich ihre Christentümer voneinander unterscheiden. Das ist die geheime Reibung der beiden Kulturen, die sie immer weiter auseinander treiben wird.

Amerika erwartet von Deutschland Unterstützung seiner extravertierten Triumphpolitik, Deutschland hingegen imitiert äußerlich die amerikanische Macht- und Wirtschaftspolitik – innerlich aber hegt es antikapitalistische und scheinpazifistische Ressentiments.

Amerika ist seiner Rolle der führenden Supermacht müde geworden und fällt zurück in splendid isolation. Deutschland wurde unter Merkels Demuts-Stärke zur führenden Macht der EU, doch Merkel hat den Zenith ihrer Macht überschritten. Die Deutschen kann sie mit segnenden Händen ruhig stellen. Doch die europäischen Verbündeten sind gegen ihren demütigen Führungsstil – den sie anfänglich als ehrlich, inzwischen als scheinheilig empfinden – allergisch geworden.

Obamas Yes, we can, heißt auf Merkeldeutsch: wir schaffen das. Amerikaner verstehen diesen Satz als heilsoptimistischen Zuspruch, dass Gottes Land alle Länder der Welt dominieren wird. Bei Merkel geht es auf den ersten Blick nicht um Zugewinn weltlicher Macht, sondern um Mitleid mit den Schwachen dieser Welt. Doch ihre Barmherzigkeit will sie den Europäern mit List und Tücke einbläuen. Bill Gates Motto lautet: Tu Gutes und sprich drüber, dass dein Ruhm sich in der Welt verbreite. Bei Angela Merkel: Tu Gutes – und warte ein Weilchen, bis deine Imponier-Moral sich durch notwendige Staatsraison ins Gegenteil verkehrt hat.

»Ich bin stolz auf die Bevölkerung Deutschlands.« Über Merkel persönlich sagte er: »Sie steht auf der richtigen Seite der Geschichte.« Obama sprach in Hannover nach einer gemeinsamen Unterredung von einer »mutigen Haltung« Merkels in der Migrationsfrage – vielleicht weil »sie selbst einmal hinter einer Mauer gelebt« habe.“ (SPIEGEL.de)

Gibt es einen deutschen Antiamerikanismus? Abgesehen von der Idiotie, alles Kritische als untergründiges Hassgefühl abzuqualifizieren, muss man sagen: es gibt einen. Es ist die deutsche Ambivalenz, den amerikanischen Triumphstil äußerlich zu imitieren, innerlich aber – aus Gründen der ecclesia patiens – weitgehend abzulehnen. Der Antiamerikanismus ist eine verborgene deutsche Selbstkritik, die ein fremdes Subjekt attackiert, um sich nicht selbst attackieren zu müssen.

In Amerika gilt jeder Arme als Verworfener Gottes, jeder Reiche als dessen Liebling; in Deutschland gilt der Satz: eher geht ein Kamel durchs Nadelöhr denn ein Reicher ins Himmelreich.

Amerika ist felsenfest davon überzeugt, schon jetzt im Neuen Kanaan auf Erden zu sein, während Deutschland sein irdisches Himmelreich bereits als Drittes Reich in Blut, Verbrechen und Gewalt in den Morast gesetzt hat. In Deutschland lauert der unterirdische Glaube an eine apokalyptische Verdüsterung, die mit oberflächlicher „Aufklärung“ verleugnet wird.

In Gods own country herrscht der Widerspruch, einerseits im Neuen Garten Eden zu weilen, andererseits noch immer auf die Ankunft des Messias warten zu müssen.

Im Falle des Antisemitismus liegen die Dinge ähnlich. Die deutsche Kritik an der israelischen Doppelmoral – ursprünglich eine Musterdemokratie, heute eine theokratische Verfallsdemokratie – will der Selbstkritik ihrer eigenen Heuchelei durch Fremdkritik an den unfehlbar auftretenden israelischen Regierungen entgehen. Nicht ausgeschlossen, dass nichtbearbeitete, antisemitische Ressentiments die Vorwürfe zuspitzen und verschärfen könnten. Was nicht bedeutet, dass die Kritik falsch sein muss. Freunde kritisiert man stärker als Fremde, von denen man ohnehin nicht viel erwartet. Heftige Gefühle sind nicht automatisch antisemitisch. Die Deutschen, die sich einer erfolgreichen Vergangenheitsbewältigung rühmen, fühlen sich um einen Teil ihrer Wiedergutmachungspolitik betrogen, wenn ihr Versöhnungsobjekt sich immer weniger als demokratischer Staat gebärdet.

Das wahre Ausmaß der zählebigen antisemitischen Gefühle der Deutschen könnte man erst aufdecken, wenn man die uralten christlich-jüdischen Verflechtungen untersuchen würde. Das ist nicht möglich, weil die Deutschen ihre christliche Seelenverfassung zwar konstatieren, aber nicht zur Kenntnis nehmen. Jesus hasste sein Volk, weil es ihn nicht als erwarteten Messias akzeptierte, seine Jünger und Jüngerinnen der Gegenwart hassen noch immer automatisch mit. Frau Knoblochs Motto: wer sich zu aufwendig und obsessiv mit Israel beschäftigt, hat sich als Antisemit entlarvt, ist unterkomplex. Solange die Deutschen Christen sein wollen, bleiben sie vom Virus des Antisemitismus infiziert. Das gilt nicht weniger für Amerikaner und sonstige christliche Nationen.

Sollte die US-Regierung tatsächlich die Absicht haben, die Deutschen als beste Freunde in Europa zu gewinnen, wäre der Misserfolg vorprogrammiert. Beide Nationen haben nur die gleichen Werte, wenn man die versteckten Unterschiede ignoriert.

Merkel verbat sich die NSA-Überwachung ihres Handys, was von ihrem großen Freund mit einem Schulterzucken kommentiert wurde. Obama lobte Merkels Flüchtlingspolitik, obgleich sie längst ins Gegenteil verkehrt wurde. Ist sein Lob nicht bigott, wenn sein Riesenland fast keine Flüchtlinge aus den Krisengebieten aufnimmt?

„Deutschland hat im gesamten Jahr 2015 mehr als 137.000 Menschen als Flüchtlinge anerkannt. Die USA haben im selben Jahr knapp 70.000 Flüchtlinge aufgenommen. Deutschland hat 81 Millionen Einwohner. In den USA leben 321 Millionen Menschen.“ (SPIEGEL.de)

Wer lobt, stellt sich über den Gelobten, sprach Nietzsche. Merkel unterstellt sich gern ihrem großen Vorbild und will alles tun, um dessen Wünsche nach militärischer Aufrüstung nachzukommen. Der Wille der Bevölkerung ist der Magd Gottes schnuppe. Das Gleiche gilt für TTIP. Die fundamentale Kritik an dem geplanten Handelsabkommen, das nur Großkonzernen und Reichen nützt, wird von ihr nicht zur Kenntnis genommen. Gar nicht daran zu denken, dass sie sich in einer öffentlichen Debatte dem Volk stellte.

Auch in den USA wächst der Widerstand gegen eine internationale Handelsarena, in der nur die Stärksten das Regiment führen. Kein Grund für die beiden Charismatiker, ihre elite-freundlichen Projekte zurückzuziehen. Mexiko beispielsweise wurde mit Hilfe eines Freihandelvertrags in den Ruin getrieben. Nun soll ganz Europa zur Beute der Tycoons werden.

„Viele Mexikaner leben dort vom Anbau von Gemüse, Früchten oder Getreide. Gegen die billigen US-Importe können die kleinbäuerlichen Produzenten jedoch nicht konkurrieren. „Früher hat der Staat den Kleinbauern den Mais zu einem festgesetzten Preis abgekauft“, sagt Ana de Ita von der Nichtregierungsorganisation Ceccam. Heute bestimmten nur noch die Multis die Preise. „Die zahlen keine Zölle mehr und werden von der US-Regierung immer noch hoch subventioniert“, kritisiert de Ita. 20 Prozent hat die mexikanische Agrarwirtschaft deshalb an Umsätzen eingebüßt. Umgekehrt ist der Import von Mais, dem wichtigsten Nahrungsmittel in Mexiko, zwischen 1994 und 2010 um 185 Prozent gestiegen, rechnet der Kleinbauernverband Unorca vor. Ähnlich sieht es bei Reis, Weizen und Bohnen aus. Und zunehmend wird gentechnisch manipulierter Mais importiert – mit fatalen Folgen für Mensch und Natur.“ (TAZ.de)

Demütig senkte sie den Kopf, legte ihr verständnisinnigstes Caritas-Lächeln auf, als sie das Flüchtlingscamp in der Türkei betrat. Um ein Haar hätte sie – nach Art der Diktatoren und Päpste – die anwesenden Babys geküsst. Was sind potemkinsche Dörfer?

„Als Potemkinsches Dorf wird etwas bezeichnet, das fein herausgeputzt wird, um den tatsächlichen, verheerenden Zustand zu verbergen. Oberflächlich wirkt es ausgearbeitet und beeindruckend, es fehlt ihm aber an Substanz.“ (Wiki)

Während das Flüchtlingslager Idomeni in Schmutz und Elend versinkt, Millionen von Flüchtlingen in unwürdigen Verhältnissen im ganzen Land verkommen, wurde Gaziantep zum potemkinschen Vorzeigeobjekt hochgerüstet:

„Die Ausstattung ist gut, es gibt Schulen für die Kinder, und viele Bewohner gehen einer Arbeit nach, in der Landwirtschaft oder in der Baubranche in der Umgebung oder innerhalb des Camps, als Lehrer oder Übersetzer etwa. Ein Mustercamp also, das die Kanzlerin hier zu Gesicht bekommt, kein Vergleich beispielsweise zu den Flüchtlingen, die in der Westtürkei unter elendigen Bedingungen hat. „Wie in der DDR“, schimpft ein amerikanischer Journalist.“ (WELT.de)

So Deniz Yüzel in der WELT über den PR-Besuch der Kanzlerin, der tatkräftig unterstützt wurde vom ZDF, dem Propagandasender der Pastorentochter. „Die Kanzlerin“ – so die fromme Petra Gerster – „wollte sich selbst ein Bild von den Verhältnissen machen“. So müssen jenseitige Götter niederfahren, um zu sehen, was ihre Geschöpfe auf Erden treiben. „Da fuhr der Herr hernieder, um die Stadt zu sehen und den Turm, den die Menschen gebaut hatten.“

Auch Obama war nach Hannover gekommen, so Gerster, um den Deutschen wegen TTIP „ins Gewissen zu reden“. Offensichtlich müssen TTIP-Kritiker gewissenlose Vagabunden sein. Wer aber redet Obama und Merkel ins Gewissen, Frau Gerster?

Merkel beherrscht immer virtuoser die patriarchalischen Inszenierungen ihres früheren DDR-Führers Honecker. Hat sie sich ein Bild von dem gemacht, was sie am Schreibtisch ersonnen, ist die Chose abgesegnet. Ein Parlament braucht sie nicht mehr.

Die innige Herzensgemeinschaft mit dem amerikanischen Präsidenten zeigte sich in dessen Satz der Sätze, Merkel befinde sich auf der rechten Seite der Geschichte. Auf der rechten Seite der Geschichte, das ist die Formel des ehemaligen Sozialismus wie des gegenwärtigen Kapitalismus oder die formula concordiae von Obama und Merkel. Hier trifft sich die ehemalige Sozialistin lutherischer Konfession mit dem baptistischen Neoliberalen.

Der ideologische Übergang Merkels vom Sozialismus zum Kapitalismus war keiner: hier wie dort befand sich Angela auf der rechten Seite der Geschichte. Hier zeigt sich die innere Verwandtschaft der atheistischen und theistischen Untertänigkeit unter die göttliche Heilsgeschichte. Man könnte auch von Evolution sprechen, die von Hayek als Willen Gottes verehrt wurde. Marxisten sprechen von materiellen Verhältnissen oder vom Sein, Kapitalisten von materiellen Verhältnissen oder göttlichem Bewusstsein.

Warum sind die Linken so desorientiert? Weil sie den Finger der Geschichte nicht erkennen können, der ihnen sagen würde, was sie zu tun haben. Aus moralischer Selbstermächtigung dürfen sie nicht handeln. Moral war für Marx, nicht anders als für Hegel, ein lächerliches bourgeoises Relikt. Auf der richtigen Seite der Geschichte sein, bedeutet: sich von jeder moralischen Autonomie zu verabschieden.

Geschichte ist keine Entfaltungsstrecke menschlicher Moral. Moral und Geschichte sind unverträglich. Wer auf Geschichte setzt, setzt auf religiösen Amoralismus. Die einen reden von Gott, die anderen von Geschichte. Beiden Instanzen muss sich der Mensch unterordnen.

Was ist Geschichte? Die Sinngebung des Sinnlosen, so Theodor Lessing. Sinnlos aber erscheint Geschichte nur jenen, die glauben, den endgültigen Sinn der Geschichte zu kennen.

„Dass wir die Geschichte im Ganzen auf Sinn und Unsinn befragen, ist selbst schon geschichtlich bedingt: jüdisches und christlichen Denken haben diese maßlose Frage ins Leben gerufen. Nach dem letzten Sinn der Geschichte zu fragen, überschreitet alles Wissenkönnen und verschlägt uns den Atem; es versetzt uns in ein Vakuum, das nur Hoffnung und Glaube auszufüllen vermögen. Die Griechen waren bescheidener. Sie maßten sich nicht an, den letzten Sinn der Weltgeschichte zu ergründen. Sie waren von der sichtbaren Ordnung und Schönheit des natürlichen Kosmos ergriffen, und das kosmische Gesetz des Werdens und Vergehens war das Vorbild ihres Geschichtsverständnisses. In griechischer Sicht bewegt sich alles in einer ewigen Wiederkehr des Gleichen. Diese Anschauung enthält ein natürliches Verständnis des Universums, das die Erkenntnis zeitlicher Veränderungen mit der von periodischer Regelmäßigkeit, Beständigkeit und Unveränderlichkeit vereinigt. Das Unveränderliche war für sie von tieferer Bedeutung als alle progressive und radikale Veränderung. Die „Revolution“ ist ursprünglich ein natürlicher kreisförmiger Umlauf, kein Bruch mit einer geschichtlichen Überlieferung. Für Juden und Christen bedeutet Geschichte vor allem Heilsgeschehen. Das Schicksal der Völker wurde als göttliche Berufung in Anspruch genommen.“ (Karl Löwith, Weltgeschichte und Heilsgeschehen)

Was verbindet Merkel mit Obama? Dass sie beide von Gott berufene Charismatiker sind. Charisma ist Gnadengabe. Zu den Gnadengaben gehören Prophetie, Wundertaten und Zungenrede. Unter Zungenrede versteht man „unverständliches Reden“, unverständlich für Menschen, aber verständlich für Eingeweihte und Gott.

Obama & Merkel beherrschen die Zungenrede. Wenn sie den Menschen sagen. Yes, we can, wir schaffen das, glauben alle Menschen zu verstehen: was sie versprechen, halten sie auch. Nur Eingeweihte wissen, dass solche Worte symbolisch, nicht wörtlich zu verstehen sind.

Das gilt für alle Sätze der Bibel, die nur von Geistverlassenen wortwörtlich genommen werden. Geistbegabte machen aus den Texten, was sie wollen und was der Geist ihnen im Augenblick eingibt. Jede Deutung der Buchstaben, die mit wechselnden Ideologien zusammenpassen, muss als Wunder betrachtet werden. Nur wer diese Wunderfähigkeit der Frommen ignoriert, wird erstaunt sein, dass die Schrift mit allen Philosophien dieser Welt vereinbar ist.

Da alle Meinungen der Welt mit der Heilsgeschichte harmonieren können, ist letztere unwiderlegbar. Komme, was da wolle, der allwissende Geist der Geschichte war schon immer da. Oder wie es im Märchen vom Hasen und dem Igel heißt: Ick bin allhier.

Der Übergang von der griechischen Zeitlosigkeit zur linearen Geschichte der Christen verwandelte alle stabile Wahrheit in eine fließende, sich stets verändernde, nicht zu fassende Wolkenbildung aller Wahrheiten, Irrtümer und Lügen, die heute wahr, morgen unwahr und übermorgen gelogen sein können. Stabile Wahrheiten, auf die der Mensch sich stützen könnte, gibt es nicht. Alles, was den Menschen stützt, ist selbstherrliches Rühmen.

„Das Streben des natürlichen Menschen äußert sich darin, dass er sich seiner Weisheit rühmt. Dieses Streben, in dem alles Böse seinen Ursprung hat, ist Sünde, Empörung gegen Gott, weil der Mensch nicht wahrhaben will, dass er nur aus der Gnade Gottes leben kann. „Lass dir an meiner Gnade genügen.“ „Was hast du, das du nicht empfangen hättest? Hast du es aber empfangen, was rühmst du dich, als hättest du es nicht empfangen?“ Sich diese schlechthinige Abhängigkeit von Gott einzugestehen, wird Glauben genannt; das ist es, wogegen sich der natürliche Mensch in seinem sündigen Geltungsdrang sträubt. Deshalb ist die evangelische Botschaft für ihn ein Ärgernis (scandalon) und eine Torheit. Gott zerschlägt allen menschlichen Stolz, der sich seiner Fähigkeiten rühmt. Das Rühmen gründet sich auf das, was der Mensch hat, worüber er verfügt, was er ist, was er aus sich gemacht hat, worauf er meint stolz sein zu können, auf die Leistung seiner Vergangenheit. Im Rühmen legt er sich fest auf das, was er hat und ist – auf sich als Vergangenen. Der Verzicht auf das Rühmen, die Schmähung alles Selbsterarbeiteten als Schaden, ja als Dreck (Phil. 3,7), die radikale Unterordnung unter Gottes Gnade, bedeuten nichts anderes als die radikale Offenheit für die Zukunft, das ständige Unterwegssein, das kein erreichtes Ziel kennt. „Nicht, dass ich es schon ergriffen hätte oder schon vollendet wäre; ich jage ihm vielmehr nach, weil ich von Christus Jesus ergriffen ward … Ich stehe nicht auf dem Standpunkt, dass ich es schon ergriffen hätte; ich weiß nur eines: das, was hinter mir liegt, vergessend, strecke ich nach dem aus, was vor mir liegt. (Phil. 3,12)“ (Rudolf Bultmann, Das Urchristentum)

Die beliebige Amoral als wechselndes Gebot Gottes, die Veränderung als willkürlicher Wandel aller Positionen, die Negierung der Vergangenheit, die den Menschen geprägt hat, die totale Hinwendung zur Zukunft, die für jede gute oder böse Überraschung gut ist: das Neue Testament ist das Drehbuch für Merkels Durchwurschteln in allen Widersprüchen, für die Heiligsprechung der Veränderung bei Zuckerberg und Obama. Hier treffen sich marxistischer und christlicher Geschichtsgehorsam, technischer Zukunftswahn ohne Moral und optimistische Hoffnung als Glaube an Gottes unfassbare Geschichte.

Merkel kann sich jeden Tag neu erfinden. Was sie gestern für richtig hielt, kann sie heute für Dreck halten. Dass sie zum ersten Mal in ihrer Amtszeit einen Fehler bekannte – für den sie sich keineswegs entschuldigte – war nur ein taktisches Manöver, um ihre sinkenden Popularitätswerte vor dem Verfall zu retten.

Bultmann spricht von Geschichte und Eschatologie. Doch Eschatologie meint nicht die festliegende Lehre von den letzten Dingen, sondern das Kommende, das immer offen ist. Wie Goethes Faust darf der Gläubige sich nie zur Ruhe setzen, sich seiner Lebensarbeit erfreuen. Wie Ökonomen lebenslange Arbeit fordern, um nicht selbstzufrieden zu werden, so darf der Gläubige zum Augenblick nie sagen: „verweile doch, du bist so schön“. Faust ist kein dezidierter Nichtchrist, sondern ein Jünger der Heilsgeschichte, der ruhelos in die Zukunft schaut und nach vorne strebt. Denn er darf nie ankommen. Sein Ziel liegt im Unendlichen. Sein Streben kennt keine Grenzen.

„Das bedeutet, dass das eigentliche Leben des Menschen stets vor ihm steht, dass es stets ergriffen und verwirklicht werden muss. Jede Gegenwart ist in Frage gestellt und herausgefordert durch die Zukunft. Alles, was der Mensch unternimmt, offenbart seinen Sinn erst in der Zukunft. In der Zukunft erweist es sich als nichtig oder gewichtig, als Verfehlung oder Erfüllung. Alles ist ein Wagnis.“ (Bultmann, Geschichte und Eschatologie)

Die Philosophie des grenzenloses Risikos, des endlosen Abenteuers, des alles aufs Spiel setzens: ist die Theologie der nie ans Ende kommenden Geschichte. Wallstreet, technischer Fortschritt, unbegrenztes Wachsen der Wirtschaft, unermessliches Reichwerden: der gesamte Zeitgeist der Welt ist das Produkt der christlichen Verheißung. Die Erfüllung am Ende der Zeit in Form des Jüngsten Gerichts ist nur für Fundamentalisten, die ihre Dogmen noch nicht entmythologisiert haben.

In jedem Augenblick kann sich der Kairos des Herrn verwirklichen. Wer schläft oder sich auf seine Vergangenheit beruft, hat sein Leben verfehlt und lebt nicht in der Offenheit des immer Neuen, das sich jedem Zugriff entzieht. Wer immer der Alte bleiben will, verfehlt sein Leben. „Er verkennt, dass nur der Freie die Verantwortung übernehmen kann und dass er sich nach keiner Garantie umsehen darf, auch nicht nach der Garantie eines moralischen Gesetzes, die ihm das Gewicht der Verantwortung übernimmt, was in Luthers „sündige tapfer, wenn du nur glaubst“ seinen Ausdruck findet. Eben dies ist die Freiheit, zu der Gott seine Kreaturen berufen hat, die absolute Freiheit in allen Dingen, die sich weder moralisch, noch politisch festlegen lässt.“ (Bultmann)

Der Glaube wird zum Freifahrtschein für alles und nichts. Man könnte von heiliger Anarchie sprechen. Der Sinn der Geschichte liegt in der Unfassbarkeit jeden neuen Augenblicks. Wer sich festlegt, hat sein Leben verwirkt.

Verstehen wir allmählich die Bindungsunfähigkeit der Zeitgenossen, sich für ein überschaubares Leben zu entscheiden? Was schert sie Weib, was schert sie Kind – wenn der Ruf der Zukunft sie zu endlosen Abenteuern zieht?

Welcher Narr redete von glaubensloser Säkularisierung? Die gesamte Weltpolitik, der Glaube an den Fortschritt, die Unsterblichkeit des Menschen ist der fleischgewordene Glaube an die Zukunft, die nie Realität werden darf.

Den Makel der immer verziehenden Wiederkunft des Messias haben die Theologen zur Tugend gemacht. Nun warten sie in Permanenz, aber nie auf etwas, was konkret werden kann. Das Warten auf eine am Horizont verschwindende Zukunft wurde zum Zweck an sich. Ein solches Warten kann nie widerlegt werden.  

Warten auf Godot wurde zum Glauben der westlichen Moderne. Der Mensch glaubt, was nie Realität werden darf. Unterwegs sein ist alles, das Ziel ist nichts. Ich warte, also bin ich. Und wenn ich nicht gestorben bin, werde ich noch immer warten. Nur Tröpfe glauben an ein erfülltes Leben.

Verheißung ohne Erfüllung, das ist die stets offene Zukunft, die keine Zukunft haben wird.

 

Fortsetzung folgt.