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Europäische Idee XLVI

Hello, Freunde der europäischen Idee XLVI,

„ich stehe ziemlich allein in der EU. Aber das ist mir egal, ich habe recht“. Also sprach Angela Merkel, demütige Magd Gottes.

„Wir müssen unsere Positionen mehrheitsfähig machen. Das schaffen wir, indem wir anders argumentieren, nicht vom Standpunkt der Rechthaberei aus, nicht von oben herab. Das wäre sonst nur die moralische Form der Alternativlosigkeit. Wir sollten Klassensprecher und nicht Zuchtmeister der Gesellschaft sein. Das ist ein bisschen anstrengender, aber am Ende überzeugender.“ Also sprach Robert Habeck, demütiger Philosoph und Grüner. (WELT.de)

„Aber es ist nicht so, dass immer etwas richtig sein muss, in einem universalen Sinn. So massiv kenne ich das nur aus Deutschland: die individuelle Erwartung, dass das, was du glaubst, auch richtig ist, und sich ohne jede Überzeugungskunst und Rhetorik durchsetzen soll, einfach weil es richtig ist. Das situationsbedingte Verständnis für Rhetorik und Sprachfiguren – nicht einfach als Schmuck, sondern als Inszenierung und Komprimierung der Rede – dafür gibt es kein Verständnis: Es prallt immer an der Wahrheitserwartung ab, die im Vordergrund steht. Pluralität von Meinungen wird meist als Schwäche ausgelegt: „Du weißt wohl nicht recht, was du willst“.  

Also sprach Hans Ulrich Gumbrecht, demütiger „Universaldenker, ein Geisteswissenschaftler, der die Stimmung in den Erzählungen von Thomas Mann und Jean-Paul Sartre untersucht, die kulturelle Bedeutung von Wohnwagensiedlungen in Vorstädten erörtert und der mit Akademikerkollegen ebenso redet wie mit Oprah Winfrey, dem deutschen Verteidigungsminister oder der mexikanischen Kassiererin der Universitätscafeteria – um aus Eindrücken, Begegnungen, Gesprächen seine

 Ideen über die Welt zu entwickeln, oder, wie er es sagt, something that’s interesting.“ (WELT.de)

Europa ist kein christliches Abendland, sondern ein Kontinent im fundamentalen Widerstreit zweier Wahrheiten: der griechischen und der christlich-jüdischen. Es gab Zeiten, in denen der Streit mit offenem Visier ausgefochten wurde. Seit der Renaissance, spätestens seit der Aufklärung wurde die christliche Wahrheit von der griechischen vom Thron der Unfehlbarkeit gestoßen.

Seit der Romantik wurde die Aufklärung von der wieder erstarkten Religion zurückgedrängt und die heidnisch-religiöse Kontroverse in seltsam wirren Koalitionen ausgetragen. Protestantische Theologen gebärdeten sich als Aufklärer, weltliche Poeten und Denker dachten und dichteten in Verklärung der Überwelt. Die Erde lebte vom heilsamen Kuss des Überirdischen. Die Seele zog‘s aus dem irdischen Lazarett nach Hause – in den Himmel.

Es war, als hätt‘ der Himmel
Die Erde still geküßt
,
Daß sie im Blütenschimmer
Von ihm nun träumen müßt‘.

Die Luft ging durch die Felder,
Die Ähren wogten sacht,
Es rauschten leis die Wälder,
So sternklar war die Nacht.

Und meine Seele spannte
Weit ihre Flügel aus,
Flog durch die stillen Lande,
Als flöge sie nach Haus. ( Mondnacht von Eichendorff)

Dass der Kuss für die Falschen tödlich und höllisch werden konnte, unterschlugen die Feinsinnigen. Hegel sah hier realistischer. „Voraussetzung für das romantische Bewusstsein ist, dass Gott selber Mensch, Fleisch sei. Gegenüber dem Klassischen erhält in der Romantik Härte, Niederträchtigkeit einen Platz.“ (Hegel) Romantische Ironie war für den ernsthaften Schwaben zynisches Tändeln mit allem Wahren: „es ist ihr Ernst mit nichts, es ist Spiel mit allen Formen“.  

Leben wir in einem Zeitalter der Aufklärung? Nein, autonomes Denken als Instanz der Wahrheit und humaner Moral wurde abserviert. Vernunft wurde reduziert zum technisch-instrumentellen Verstand, einer frei flottierenden Algorithmen-Intelligenz, die jede Erkenntnis des Wahren verhöhnt und sich dem Wissen als Macht, dem Willen zur Macht prostituiert. Vernunft ist, was Zukunft gewinnt, um die Gegenwart zu beherrschen.

Deutschland liegt dem futuristischen Amerika zu Füßen und betet an. Vor Jahren war es der prophetische Vordenker aller deutschen Feuilletons, Frank Schirrmacher, der den Todesüberwinder Kurzweil in Hymnen verklärte. Heute ist es Rabauken-BILD, die den Spuren ihres Verlagschefs Döpfner folgt und Mark Zuckerberg auf den Schild ihrer grenzenlosen Bewunderung hebt.

„Zuckerbergs Wortwahl erinnert stark an Barack Obama:
„Es erfordert Mut, sich für die Hoffnung und gegen die Angst zu entscheiden.“
„Manche Menschen werden euch immer naiv nennen, wenn ihr sagt, dass ihr die Welt verändern wollt.“

Unter dem Motto: „Wir bauen Brücken, keine Mauern“, präsentiert der Netz-Tycoon seine menschenrettende Vision:

„Er zeigt eine Solar-betriebene Riesendrohne mit der beeindruckenden Spannweite einer Boeing 737, die in 20 000 Metern Höhe über Entwicklungsländern, Wüsten, Gebirgen, abgeschotteten oder unterdrückten Staaten kreisen soll (Nordkorea und Iran werden sie lieben), um Internet zum Boden zu strahlen.“ (BILD.de)

Die Rettung der Welt ist ein gigantisches Projekt der Technik, nicht selbstkritisches Denken und humanes Lernen.

Verändern der Welt kann zum Guten wie zum Schlechten sein. Bei Zuckerberg ist Verändern ein heilsamer Prozess an sich. Das Neue, und sei es noch so verheerend, muss das an sich sündige Alte vom Erdboden vertilgen. Hoffnung ist im Kapitalismus nie trügerisch, sondern – in merkwürdiger Koinzidenz mit dem Marxisten Bloch – ein religiös-unfehlbarer Akt.

Der Spruch schwäbischer Großmütter: Am Hoffen und Harren erkennt man den Narren, hat sich in Silicon Valley nicht herumgesprochen. Das wird sich rächen. Hoffnung als zuversichtlicher Entwurf einer humanen Utopie, die durch Menschen realisiert werden muss, ist unerläßlich. Als blindes und unterwürfiges Vertrauen in einen göttlichen oder geschichtlichen Automatismus ist Hoffnung ein Akt der Selbstverstümmelung.

Glaube an technische Erlösung, Liebe zur Milliardenbeute, Hoffnung auf unsterbliche Macht für die privilegierte EINPROZENT: das ist der Dreiklang derer, die sich die Welt unter den Nagel reißen. Mit Technik soll die Welt beglückt werden. Gefragt wird sie nicht. Zwangsbeglücken ist seit Platons Herrschaft der Weisen, die ihrem Volk eine gerechte Utopie bieten wollten, eine faschistische Tyrannei.

Die Moderne bastelt an einem futurischen Totalitarismus – und nur die Völker protestieren gegen den Wahn ihrer Master of Universe. Der vielfältige Protest der Völker rund um den Globus wird von deutschen Medien nicht abgebildet. Die Edelschreiber folgen der Betäubungs- und Aufputschpille ihrer Mutter: wir schaffen das, wir schaffen alles. Wo Ich bin, da ist das Glück. Das ist der Sieg, der die Welt überwunden hat: unser deutscher Glaube. Was vernünftig ist, ist angelisch, was angelisch, ist vernünftig. Der Weltgeist ward Fleisch und landete in Berlin.

Nach dem Zweiten Weltkrieg begrub die siegreiche amerikanische Demokratie mit christlicher Aversion gegen alles Heidnische den deutschen Streit zwischen Vernunft und Offenbarung. Demokratie ist für die meisten Amerikaner ein Geschenk Gottes, keine autonome Errungenschaft mündiger Menschen, schon gar nicht das Erbe zerschlissener und vermoderter Alteuropäer.

Deutschland wurde zu christlichen Grundwerten verpflichtet, um sich in eine neue wiedergeborene Nation zu verwandeln. Die Europäer halten die Aufklärung für ein Museumsstück, das zu gewissen Feiertagen aus der Vitrine geholt wird.

Die Wahrheit der Griechen ist autonom und zeigt sich im demokratischen Streit der Meinungen. Sie ist mit Leidenschaft rechthaberisch, weil sie argumentiert und sich widerlegen lässt. Wäre sie nicht rechthaberisch, hätte sie keinen Grund, zum Agon anzutreten. Das Glück der Menschen, die Solidarität der Polis ist des Schweißes der Edlen wert.

Der Wettstreit um Wahrheit ist der einzige, der keine Verlierer kennt. Auch der Unterlegene profitiert, weil er durch die Debatte an Erkenntnis gewonnen hat.

Die Moderne hasst den rechthaberischen Dialog, denn sie fürchtet Gesichtsverlust, wenn ihr Geplapper entlarvt wird. Lieber flüchtet sie in unbesiegbaren Autismus, den sie Pluralismus zu nennen pflegt, damit sie ihr bejammernswertes Unwertgefühl nicht spüren muss. Tiefer kann das Selbstbewusstsein nicht sinken als in der Moderne, die alle zu unwiderlegbaren Päpsten ernennt.

Der Papismus, der sich als Individualismus gebärdet, ist zum Opium des Zeitgeistes geworden. Die Arroganz der keine Zweifel kennenden Futuristen muss ihr jämmerliches Inferioritätsgefühl mit Glanz und Gloria drapieren.

Im echten Dialog besiegt das bessere Argument das schlechtere. Der Dialog auf dem Marktplatz ist ein agon, ein methodischer Wettkampf, der „Sieger“ und „Besiegte“, aber auch ein Unentschieden kennt. Viele platonische Frühdialoge sind aporetisch, landen in einer Sackgasse. Wer gewonnen hat, ist keineswegs Sieger auf immer. Jederzeit muss er bereit sein, den Disput zu wiederholen, wenn neue Argumente auftauchen.

Woher kommt der Widerwille der Zeitgenossen gegen das Rechthaben? Aus ihrem Glauben, den sie für unwiderlegbar halten. Ein Jünger Jesu sollte einem Heiden unterliegen? In jedem religiösen Disput ziehen die Frommen, wenn sie nicht mehr weiter wissen, die rote Karte: Stopp, Zutritt verboten, Sie betreten heiligen Boden. Die Unfehlbarkeit des Credos hat sich in die Ideologie des heute gängigen Larifari-Pluralismus „demokratisiert“.

Es gibt verschiedene Formen des Pluralismus. Eine Demokratie zeichnet sich aus durch Toleranz, jene Tugend der Aufklärung, die heute immer mehr zuschanden geritten wird. Duldung ist kein schwächliches Ertragen anderer Meinungen, sondern ist stolz auf die Meinungsvielfalt einer pulsierenden Polis. Wessen Herz bei Nathan dem Weisen nicht höher schlägt, sollte Palastwächter bei Erdogan werden.

Toleriert wird alles. Mit Ausnahme jener Offenbarungen, die mit Gewalt ihre Dome, Minarette und Synagogen errichten und Andersgläubige unterdrücken und ausrotten wollen.

Demokratischer Pluralismus, ein ander Wort für Toleranz, ist das unersetzbare Gut eines humanen Gemeinwesens. Der postmoderne Pluralismus hingegen, der seine Unfehlbarkeit hinter der Zertrümmerung menschenverbindender Wahrheit verbirgt, ist ein religiöses Fäulnisprodukt, getarnt mit scheindemokratischer Verpackung.

Was ist der Sinn des verfaulten Scheinpluralismus? Die Machterhaltung der Mächtigen. Wenn die Wahrheit der ungerechten Verhältnisse begrifflich nicht punktgenau getroffen werden kann, bleibt Empörung ein idiotisches Vergnügen, sofern Idiotie das Private heißen soll. Wenn Sprechen und Denken unfähig gemacht wurden, das Wirkliche zu sehen und zu benennen, können die Menschen sich nicht mehr zusammenschließen, um die unwahren Verhältnisse zu attackieren und zu verändern.

Die Mächtigen benötigen kein objektives Denken, sie haben das Objektive faktisch in der Tasche. Die Sprache der Mächtigen ist die esoterische Kunst des Exoterischen. Mit öffentlicher Sprache sind sie in der Lage, sich subkutan – unter systematischer Irreführung des Pöbels – zu verständigen. Wer käme sonst auf die Idee, die Entlassung von Überflüssigen als Freistellen zu bezeichnen? Oder die ungezügelte Macht des Geldes als neue Freiheitslehre – als Neoliberalismus auszuzeichnen? Das Reiseverbot der Flüchtlinge als „Residenzpflicht“ zu ironisieren? Nicht nur das Zeugnis eines Entlassenen muss von Eingeweihten dechiffriert werden, der gesamte Überbau der Finanzen und Futuristen ist in Hieroglyphen formuliert.

Die nach oben lechzenden Gazetten schreiben ein derartiges Geschwurbel, dass man mittlerweilen von nationaler Legasthenie sprechen muss. Zwar können die Leser die Buchstaben entziffern – aber sie dürfen nicht bemerken, dass sie den Sinn der Schrift an der Wand nicht verstehen. Hat es mal Untersuchungen gegeben, in welchem Maß das unter Denkverbot stehende Publikum das tägliche mene mene tekel upharsin der Vierten Gewalt glaubt zu verstehen, ohne es tatsächlich zu verstehen?

Man schämt sich, zugeben zu müssen, den Inhalt einer Pallawatsch-Nachricht der Tagesschau nicht verstanden zu haben. Die Deutschen wissen nicht nur nichts über ihren Glauben, sie wissen genau so wenig über ihre ökonomischen und politischen Grundverhältnisse.

TTIP-Dokumente werden unter Ausschluss der Öffentlichkeit verhandelt und formuliert. Wer sie dennoch lesen will, muss kompliziertes Fachenglisch beherrschen und einen Kurs in Tempolesen abgeschlossen haben.

Überall heißt das Ausschlussmotto der Oberen: die Menge muss draußen bleiben. („Ich hasse die dumme Meute und halte sie fern“) Es sind nicht nur SchülerInnen der Gymnasien, die über relevante Tatsachen unserer Wirtschaft und Politik nicht Bescheid wissen. Die Oberen machen sich keine Illusionen: wüssten die Unteren Bescheid und könnten sie verständig mitreden, wäre der Spuk der amoralischen Mächte morgen vorbei. Der beste Schutz der Regierenden war früher der Glaube, heute ist es die verordnete Ignoranz, was just dasselbe ist.

Griechische Wahrheit war objektiv und nicht beliebig machbar. Trotz Protagoras‘ berühmtem Satz: „Aller Dinge Maß ist der Mensch, der seienden, dass sie sind, der nicht seienden, dass sie nicht sind“, gab es keinen nennenswerten Relativismus in Athen. Die erwähnten „Dinge“ waren subjektive Empfindungen, die in der Tat von Mensch zu Mensch unterschiedlich sein können. Doch der Kosmos der Dinge ist kein Konstrukt der Menschen, wie die Moderne ihre Kreativität in den Himmel hebt.

Auch die Schulen der Skeptiker leugneten nicht die Objektivität der Natur, sie glaubten nur, die Grenzen des theoretischen Erkennens erkannt zu haben. Was nicht bedeutete, dass die Forderungen der Moral unerkennbar wären. Sokrates konnte sagen: Ich weiß, dass ich nichts weiß und dennoch von seiner humanen Moral felsenfest überzeugt sein. Auch die Skeptiker hielten fest an der „Meeresstille der Seele“, die sie durch ein moralisches Leben erwerben konnten.

Wahrheit der Natur oder der Realität muss erkannt werden. Weder kann sie kreiert, konstruiert oder sonstwie erfunden werden. Fichtes Ich, das die Natur setzt, war die Krönung einer lächerlichen Gigantomanie. Erkennen des Realen ist nicht passiv, sondern erfordert staunendes Schauen, genaues Beobachten und logisches Folgern.

Noch absurder ist die Rede von der subjektiven Wendung des Sokrates. Von der Natur habe er sich abgewandt und sich der Erkenntnis der eigenen Person gewidmet. Doch der Mensch war selbst ein Teil der Natur. Die äußere Natur beantworte nicht die Fragen nach dem eigenen Selbst, hatte Sokrates erkannt. Also müsse er die eigene Natur erforschen, um zu wissen, was er von sich halten könne:

„Lächerlich also kommt es mir vor, solange ich hierin noch unwissend bin, an andere Dinge zu denken. Daher also lasse ich das alles gut sein; und annehmend, was darüber allgemein geglaubt wird, wie ich eben sagte, denke ich nicht an diese Dinge, sondern an mich selbst, ob ich etwa ein Ungeheuer bin, noch verschlungener gebildet und ungetümer als Typhon, oder ein milderes einfacheres Wesen, das sich eines göttlichen und edeln Teiles von Natur erfreut.“ (Phaidros)

Für die Moderne wurde es zum wachsenden Ärgernis, ja zur Kränkung ihres gottähnlichen Ichs, beim Erkennen der Wahrheit von der sündigen Natur abzuhängen. Sie musste zur unerkennbaren oder belanglosen Wahrheit degradiert werden, um den Hochmut der faustischen Persönlichkeit nicht zu beleidigen. Seit Vico konnte der Mensch nur erkennen, was er selber herstellte.

Die Produktionszwänge der Moderne sind nicht nur profitorientiert: die Produzenten erschaffen und erzeugen nichts weniger als die Wahrheit. Was auch immer die Techniker erfinden, sie kreieren aus dem Nichts eine neue Welt, die der alten überlegen ist. Wie Jesus das Alte vernichtete, um das Neue hervorzuzaubern, so imitieren ihn seine Jünger in modernen Laboratorien und Fabriken.

Es geht nicht nur um Materielles. Die Materie ist zur Trägerin einer neuen Wahrheit geworden. Der Mensch erfindet sich nicht nur symbolisch neu. Sein Geist ist wahrhaft schöpferisch. Was er an natürlichen Dingen vernichtet, ersetzt er durch Erfindungen, die handfeste Realität werden. Warum schliddern die Eliten blind und sorglos in die Katastrophe der Naturvernichtung? Weil sie überzeugt sind, die alte Natur werde weichen und einer ungleich wertvolleren Platz schaffen.

Warum werden Kritiker des Rechthabens nie befragt: Oh Meister, seid ihr von eurem Rechthaben nicht selbst überzeugt, wenn ihr gegen Rechthaberei giftet? Wie kann man nicht Recht haben wollen, wenn man Gift und Galle versprüht?

Wie will der grüne Habeck seine politischen Konkurrenten überzeugen, wenn er zuvor ausschließt, dass seine Alternativen Recht haben könnten? Müsste er nicht jeden Disput auf dem Marktplatz beenden, bevor er ihn überhaupt begonnen hat? Mit dem Eingeständnis: okay, ihr von der AfD habt recht und ich hab meine Ruh? Diesen Wahn einen Wahn zu nennen, wäre die Untertreibung der ganzen Neuzeit.

Der Universalgelehrte Gumbrecht weiß nichts von Sokrates und seinem Kampf gegen die Gaukeleien der sophistischen Rhetorik. Rechthaberisch schäumt er gegen deutsche Rechthaber. Seine Rede zeugt vom Niedergang aller geisteswissenschaftlichen Disziplinen. Kein Zufall, dass in vielen Ländern die philosophischen Fakultäten geschlossen werden. Der freie Geist muss endgültig abgeschafft werden. Er ist nur noch Störelement im rasenden Prozess des Produzierens. Je mehr die Fakultäten sich selbst finanzieren müssen, umso mehr müssen sie sich den Forderungen der Industrie ausliefern. Welcher Finanztycoon käme auf die Idee, Millionen in die Ausbildung potentieller Kritiker zu stecken?

„Geht es nach der japanischen Regierung, kommt Asiens führende Forschungsnation, Heimat einer jahrtausendealten Bildungstradition, bald ohne Disziplinen wie Philosophie, Soziologie oder Linguistik aus. „Das kommt einem Selbstmord der japanischen Gesellschaft gleich“, sagt Aizawa. Der Ministerbrief argumentierte kühl: Japan, umzingelt von wachsenden Schwellenländern, mangele es an Ingenieuren, Informatikern und Mathematikern, die Japans weltweit führende Robotik voranbrächten.“ (ZEIT.de)

Auch die Politikwissenschaft, eine eminent wichtige kritische Instanz in einer Demokratie, nähert sich dem Wärmetod. (FAZ.NET)

Gumbrecht, nicht anders als ein Boulevard-Blatt, interessiert sich nur noch für das Interessante. Er hasst die Wahrheit. Debattenklubs, die er fordert, sollen das Gepränge rhetorischer Wortemacher, nicht den Streit um die lebenserhaltende Wahrheit beurteilen. Das ist das Ende der europäischen Universität. Kein Zufall, dass Gumbrechts Elite-Uni die Vordenkerin von Silicon Valley ist – sofern von Denken noch die Rede sein kann.

Ist Merkel unter allen Rechthabern, die keine sein wollen, nicht die leuchtende Ausnahme, wenn sie sagt: ich habe recht? Nein, sie ist nur der reaktionäre Gegenpol, der per ordre de mufti festlegt, dass sie Recht hat.

Recht haben ist kein autoritärer Akt. In einer Demokratie genügt es nicht, seine Position mit Argumenten zu verteidigen und gegnerischen zuzuhören, ob sie nicht rechter haben könnten. Man muss den öffentlichen Diskurs so überzeugend gestalten, dass man viele Menschen „mitnehmen“ kann. Selbstbeweihräucherung sollte man den Popen überlassen.

Eine Kanzlerin ist weder unfehlbare Madonna noch eine Kaiserin Europas. Merkels Selbstüberschätzung zeugt von protestantischem Erwähltheitsdünkel. Luthers Widerstand gegen Kaiser und Adel wäre eine deutsche Glanzleistung gewesen, wenn er nicht als Berufener des Himmels aufgetreten wäre.

Merkel ist unfähig, ein methodisches Streitgespräch mit Argumenten und Gegenargumenten zu führen. Sie fertigt ab mit pastoralen Nebelbildungen. Immer öfter klingt ihre Rede wie Basta, ich habe gesprochen.

Der Hass gegen objektive Wahrheit ist Hass gegen die Autorität der geistlichen Väter, unter deren Knute Europa 2000 Jahre zu leiden hatte. Die dogmatische Relativierung der Wahrheit ist ein permanenter und kollektiver Vatermord. Von Vätern mit der Zuchtrute will man sich nichts mehr sagen lassen. Die Autorität der Mütter steht uns noch bevor.

So befinden wir uns in einem schwierigen Zwischenzustand. Niemand will mehr auf niemanden hören, niemand von niemandem lernen. Lernen aber ist kein autoritärer Akt des Gehorsams, sondern ein unendliches Gespräch unter Freunden, denen man lustvoll zustimmen – und widersprechen kann.

Die Wahrheit der Griechen war eine zeitlose. Christliche Wahrheit ist abhängig von Offenbarungen, die von Augenblick zu Augenblick neu und widersprüchlich sein können. Gott unterstellt sich nicht logischen Forderungen der Heiden. Die Wahrheit Gottes muss jeweils neu vollzogen werden in jedem kommenden Augenblick, den der Herr auf der Zeitachse des Heils voran schreitet. Gott erfindet sich täglich neu. Seine Kreatur, der unvergleichliche Mensch, muss ihn sklavisch kopieren.

Eine wahre Autorität kann nur die zeitlose Wahrheit eines objektiv Gültigen vertreten. Wenn kein Individuum sich mit einem anderen vergleichen lässt, weil es keinen Vergleichs-Maßstab gibt, ist das Ende aller Autoritäten gekommen.

Warum weiß die Linke nie, was sie will? Sie müsste sich auf die objektive Widerspiegelung der Verhältnisse einlassen. Da sie vom postmodernen Virus des Subjektiven, Beliebigen und Relativen verseucht ist, bleibt ihr nur der Hass auf den Gedanken – das passive Bewusstsein – und ein theorieloser Aktionismus, der sich klammheimlich dem Sein unterstellen will. Sie brauchen den Segen eines Überindividuellen, das sie in postmoderner Hörigkeit leugnen müssen.

Der moderne Individualismus möchte lieber unvergleichlich Falsches tun als Vergleichbares überprüfbar von anderen lernen. Einst nannte man dies Profilneurose. Kein Land kann es sich heute leisten, in zeitloser Ruhe und Muße sich seines Lebens zu erfreuen. Wer nicht unter die Räder kommen will, darf bei der allgemeinen Hatz nach Reichtum und Macht nicht abseits stehen.

Schiller hatte noch eine Ahnung von der Objektivität der Wahrheit – die keinem Individuellen widersprechen muss. Niemand ist ein Plagiat des Anderen und dennoch fähig, sich im Anderen als Gleicher zu erkennen – wenn er dem Höchsten folgt. Was aber ist das Höchste? Die Verbundenheit des Menschen mit dem Menschen.

„Keiner sei gleich dem andern, doch gleich sei jeder dem Höchsten. Wie das zu machen ist? Es sei jeder vollendet in sich.“

 

Fortsetzung folgt.