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Europäische Idee XIV

Hello, Freunde der europäischen Idee XIV,

nur die Utopie kann uns noch retten. Utopie ist unbedingte Moral: die Summe aller Voraussetzungen für das Leben des Menschen in politischem Frieden und in Eintracht mit der Natur.

Wer Utopien als langweilig und unrealisierbar betrachtet, wird beherrscht von Lustangst, Paradiesverbot und dem göttlichen Fluch, sein Leben in ständiger Furcht, Sorge und Amoral zu verbringen. Utopiefeinde stehen unter dem Bann einer religiösen Mär: der Erfindung des Sündenfalls, der alle Menschen unter die Knute fremder Erlöser und Priester zwingt.

Keine größere Sünde in Erlösungsreligionen als die Absage des Menschen an göttliche Paradiese und sein Aufruf an die Gattung, aus eigener Kraft einen lieblichen Garten auf Erden einzurichten. Autonome Menschen vertrauen ihrer utopiefähigen Kraft, himmlische Verfluchungen und Seligpreisungen als Propaganda männlicher Hybris zu entlarven.

Das Paradies ist eine von Göttern entwendete Version menschlicher Utopie, die in frühen Epochen der Menschheit vitale Realität war: das Reich der Mütter. Utopie ist keine illusionäre Zukunft, sondern eine in Raum und Zeit erfahrbare Wirklichkeit, die die Menschheit in frühen Epochen des Matriarchats und jeder Einzelne als Kind in kosmischer Einheit mit der Mutter – erlebt hat. Eine realisierte Utopie wäre der   moralische Gesamtsieg über eine männliche Hochkultur, in der amoralischer Tiefststand als Normalität festgeschrieben ist.

Moral ist die einzige Möglichkeit der Gattung, sich menschenfreundlich weiter zu entwickeln. Die männliche Moderne wird beherrscht vom Trug, amoralische Kollisionen, gefährliche Risiken, hämisch zugefügte Niederlagen und absichtlich erzeugte Spannungen seien Antriebsmöglichkeiten, um Fortschritt und Entfaltung des Menschen voranzutreiben. Kühne Abenteurer sprechen von

Herausforderungen, welche ihre natürliche Trägheit und Faulheit überwinden und sie zu Höchstleistungen anstacheln würden, um durch technische Perfektion moralisch vollkommen zu werden.

Nach fast 1000 Jahren technischer Gewalt gegen Mensch und Natur sollten wir die nicht mehr zu leugnende Bilanz ziehen: materielle Fortschritte sind keine moralischen. Im Gegenteil, sie tragen dazu bei, die moralische Gebrechlichkeit durch wachsende Macht zu verfestigen.

Das Böse als Treibmittel des Guten gehört zum Kernbestand religiöser Kulturen, die einen liebenden Gott von der Anklage befreien wollen, das Böse zum Nachteil der Menschheit erschaffen zu haben. Das Selbstlob des Schöpfers: siehe, alles war sehr gut, muss auch nach dem Sündenfall seine Geltung behalten.

Die gegenwärtige europäische Flüchtlingskrise kennt keine befriedigende Generallösung. Würde Europa alle Flüchtlinge, die hier Hilfe und Unterschlupf suchen, vorbehaltlos übernehmen, könnte der labile Kontinent – in Furcht und Sorge, die immensen Herausforderungen nicht zu bestehen – destabilisiert werden und zerbrechen.

Würde die EU die Hilfesuchenden hingegen durch unüberwindbare Grenzen – gar mit Waffengewalt – zurückweisen, wäre sie an Not und Tod vieler Menschen mitschuldig.

Merkel lehnt Obergrenzen ab, unternimmt aber alles, um die Zahl der Flüchtlinge radikal zu begrenzen oder dieselben nach kurzer Aufenthaltsfrist wieder auszuweisen. Wie Menschen sich integrieren können, wenn sie keine berechenbaren Zukunftsperspektiven erhalten, bleibt das Geheimnis einer irrationalen Physikerin.

Merkels Kritiker wollen die Grenzen sichern, ohne zu wissen, wie. Die Verrohung der Debatte ist so weit vorangeschritten, dass gefordert wurde, auf Frauen und Kinder zu schießen. Solche Forderungen sind nur logische und juristische Konsequenzen des Appells, die Landesgrenzen wirksam zu schützen.

Wer in zynischer Leichtfertigkeit das Problem an andere Nationen weiterschiebt und Griechenland beispielsweise auffordert, die europäischen Außengrenzen zu sichern, macht sich mitschuldig am drohenden Tod vieler Flüchtlinge auf hoher See oder in ihrer durch Krieg zerstörten Heimat. Wie Frontex mit Flüchtlingen auf See verfährt, zeigt der folgende Bericht:

„Flüchtlinge aus dem Senegal beschrieben am 5. Oktober 2009 in Report Mainz, wie ihr Boot auf See aufgebracht wurde: „Wir hatten nur noch drei Tage zu fahren, da hat uns ein Polizeischiff aufgehalten. Sie wollten uns kein Wasser geben. Sie haben gedroht, unser Boot zu zerstören, wenn wir nicht sofort umkehren. Wir waren fast verdurstet und hatten auch Leichen an Bord. Trotzdem mussten wir zurück nach Senegal.“ Amnesty International, Pro Asyl und der Evangelische Entwicklungsdienst bestätigen auf Anfrage von Report Mainz übereinstimmend solche Berichte.“

Hier hört man keine Proteste, obgleich jedes Grenzensichern den sicheren Tod der Abgewiesenen bedeuten könnte.

Selbst wenn die Parteien sich auf Obergrenzen einigen würden, wie hoch wäre die Zahl der Flüchtlinge, denen man helfen müsste?

Die deutsche Debatte wird mit leeren Floskeln bestritten. Das Ausmaß des Jahrhundertproblems soll im Dunkeln bleiben. Die Hilfswilligen sollen durch gigantische Zahlen nicht entmutigt, die Fremdenfeinde in ihrer Ablehnung aller Migranten nicht bestärkt werden. Man muss ausländische Stimmen hören, um das Ausmaß des Problems in seinen wahren Dimensionen zu überblicken. Der britische Ökonom Paul Collier sagte in einem Interview der WELT:

„Die Welt: Derzeit befinden sich 60 Millionen Menschen auf der Flucht, so viele wie noch nie seit dem Zweiten Weltkrieg. Dennoch warnen Sie, dass dieser Exodus erst der Beginn sein könnte. Warum?

Paul Collier: Man muss da ganz klar unterscheiden. Wir haben es in dieser Flüchtlingskrise zum einen mit gescheiterten Staaten wie Syrien zu tun. Den Menschen, die von dort flüchten, geht es um das nackte Überleben. Da reden wir von ungefähr 14 Millionen Menschen. Und dann gibt es noch all jene, die in armen Ländern leben und sich auf den Weg in die reiche westliche Welt machen, um dort ihr Glück zu finden. Das sind Hunderte Millionen Menschen. Eine gewaltige Masse, die, wenn sie sich einmal in Bewegung setzt, kaum noch steuerbar ist.“ (WELT.de)

Die Flüchtlinge aus Nahost und Afrika reimportieren nach Europa jene Probleme, die Europa durch jahrhundertelange kolonialistische Gewaltpolitik und ungerechte Globalisierung in jene Länder exportiert hat. Das Hilfesuchen der „Eindringlinge“ empfinden die reichen Europäer als hinterlistigen Racheakt, gegen den sie sich affektiv zur Wehr setzen.

Ist Merkel die Hauptschuldige an den Flüchtlingsströmen, weil sie eine aktive Willkommenskultur zeigte? Die Not der Migranten ist so groß, dass sie auf jeden Fall gekommen wären – ob Merkel „Welcome“ gesagt hätte oder nicht.

Eine andere Frage ist, ob Merkel das Recht hat, durch moralisches Vorpreschen die europäischen Nachbarn unter Druck zu setzen und zu bevormunden. Richtig ist, sie bemühte sich gar nicht, den Nachbarn die Notwendigkeit großzügiger Hilfsmaßnahmen zu erläutern, um eine koordinierte EU-Politik zu organisieren.

Seit den Finanzkrisen hat sie sich – im unauffälligen Stil einer zurückhaltenden Teamplayerin – die dominante Rolle in Europa erschlichen. Ob im Guten oder Schlechten: Merkel vertritt die Rolle Luthers im Kampf gegen die ganze Welt: auch wenn ich alleine stehe, ich weiß, dass ich Recht habe. Es ist der wortkarge, unanfechtbar scheinende Machtwille der Kanzlerin, der Unmut in Europa auslöst.

Seit Deutschland eine geeinte Nation werden wollte, um nicht länger Spielball auswärtiger Mächte zu sein, begann es, die bisher geltenden moralischen Maßstäbe zu verlassen und zur machiavellistischen Außenpolitik überzugehen. Moral wurde dem privaten Bereich zugeschlagen. Innen hochmoralisch, außen bedenkenlos amoralisch: so zeigte Deutschland sich den Völkern. Madame de Stael hatte die Deutschen noch hochmoralisch, aber politisch machtlos, gesehen:

„Die deutsche Nation ist, vermöge ihrer Bevölkerung, die beynahe die Hälfte von Europa ausmacht, durch ihre Lage im Mittelpunkte Europens, und noch mehr durch ihren edeln und großmüthigen Charakter bestimmt, die erste Rolle in Europa zu spielen, sobald sie unter einer freyen Regierung in einen einzigen Körper vereint seyn wird. Wenn die Zeit gekommen seyn wird, wo die englisch-französische Gesellschaft durch den Zutritt Deutschlands sich vergrößert, wo man ein allen drey Nationen gemeinschaftliches Parlement errichtet, da wird der Wiederaufbau der übrigen europäischen Staaten schneller und leichter von Statten gehen, denn diejenigen Deutschen, welche man berufen wird, an der gemeinschaftlichen Regierung Theil zu nehmen, werden in ihren Meinungen jene Reinheit der Moral, jenen Seelenadel übertragen, der sie auszeichnet, und durch die Macht des Beyspiels werden sie die Engländer und die Franzosen zu sich erheben, die ihres Handels-Verkehrs wegen mehr an ihre eigene Person denken, und sich nicht so leicht von ihrem Privat-Interesse losmachen können, dann werden die Prinzipe des Parlements freysinniger, ihre Arbeiten uneigennütziger, ihre Politik den übrigen Nationen günstiger seyn.“

Das war der moralische Schein einer dichtenden und tiefsinnig denkenden Nochnichtnation, die mit der grausamen Wirklichkeit noch keinen Kontakt aufgenommen hatte. Mit dem Abwehrkampf gegen Napoleon begann die Zweiteilung der deutschen Moral: in den Moralismus privater Kammerdiener – und der amoralischen Staatsraison eines jungen Volkes, das sich im europäischen Gewaltgetümmel und Stimmengewirr zu Wort meldete.

Friedrich Meinecke hat den außenpolitischen Machiavellismus in seinem Buch: „Die Idee der Staatsraison“ en detail beschrieben:

„Zum Wesen und Geiste der Staatsräson aber gehört es, dass sie sich immer wieder beschmutzen muss durch Verletzungen von Sitte und Recht, ja allein schon durch das ihr unentbehrlich erscheinende Mittel des Krieges, der trotz aller rechtlichen Formen, in die man ihn kleiden mag, den Durchbruch des Naturzustandes durch die Normen der Kultur bedeutet. Der Staat muss, so scheint es, sündigen. Wohl lehnt sich die sittliche Empfindung gegen diese Anomalie wieder und wieder auf, – aber ohne geschichtlichen Erfolg. Das ist die furchtbarste und erschütterndste Tatsache der Weltgeschichte, dass es ihr nicht gelingen will, gerade diejenige menschliche Gemeinschaft radikal zu versittlichen, die alle übrigen Gemeinschaften schützend und fördernd umschließt, die deshalb allen übrigen Gemeinschaften eigentlich voranleuchten müsste durch die Reinheit ihres Wesens. Die historische Betrachtung des Problems der Staatsräson, die wir versuchen wollen, hat sich also von aller moralisierenden Absicht freizuhalten. An der moralischen Wirkung wird es dann hinterdrein schon nicht fehlen.“

In der Bewertung der Staatsräson schwankt Meinecke von „metaphysischer“ Zustimmung bis zur moralistischen Abscheu:

„Aber dieses Mittel, einmal befreit von den rechtlichen Fesseln, droht sich zum Selbstzweck aufzuwerfen und den Staat über die Grenze dessen, was er notwendig bedarf, hinüberzureißen. Die Exzesse der Machtpolitik setzen dann ein, das Irrationale überwuchert das Rationale.“

Der Machthunger des neuen deutschen Bismarckreiches blieb nicht ohne Einfluss auf die Charakterbildung der Deutschen. Zur Demütigung der Franzosen in Versailles nach dem deutsch-französischen Krieg hörte man fast keine kritische deutsche Stimme von Rang. Im Ersten Weltkrieg wurde der militärische Kampf gegen Europa zum heiligen Krieg, ja zum Gottesurteil stilisiert. Im Zweiten Weltkrieg wollten die Deutschen gegenüber der ganzen Welt ihre messianische Führerrolle beweisen. Die Amoral der Außenpolitik wurde zur höheren Sittlichkeit aufgewertet.

Die Deutschen hatten die christliche Antinomie derart in Gesamtpolitik verwandelt, dass sie tun und treiben konnten, was immer sie wollten: sie waren unfähig geworden zu sündigen und Böses zu tun (non posse peccare). Ihrem feinsinnigen Vordenker Nietzsche folgend, waren sie jenseits von Gut und Böse angekommen. Nietzsches Immoralität wollte das „Mitgefühl mit dem Leidenden“ aus den deutschen Seelen herausreißen.

Im Ersten Weltkrieg, dem Krieg der Ideen von 1789 gegen jene von 1914, standen westliche Demokratie und Menschenrechte gegen wilhelminische Kraftmeierei:

„Während auf westlicher Seite der universelle Kampf von Zivilisation, Demokratie, Selbstbestimmung und Menschenrecht gegen die Autokratie und den preußisch-deutschen Militarismus beschworen wurde, hatten die deutschen Sinnstiftungen des Krieges einen mehr selbstbezogenen Charakter. Sie propagierten den Kampf um die Bewahrung und Verbreitung von „deutscher Freiheit“ und „deutscher Kultur“ durch den deutschen Militarismus, zu dem sich führende deutsche Intellektuelle wie Gerhart Hauptmann, Friedrich Naumann und Ernst Haeckel in ihrem Aufruf „An die Kulturwelt“ 1914 feierlich bekannten, der international große Empörung hervorrief.“ (bpb)

Zwei führende deutsche Historiker attackieren den Moralismus Merkels, als sei er schon immer typisch gewesen für deutsche Gutmenschen. Das ist aberwitzig. Ist Merkels Gelegenheits-Barmherzigkeit überhaupt rationale Moral?

Solange die Flüchtenden die Sache der Italiener und Griechen war, zeigte Merkel keinerlei solidarisches Verhalten gegen die überforderten Nachbarn. Erst als Gott die Notleidenden der Kanzlerin „vor die Füße warf,“ wie im Gleichnis vom Barmherzigen Samariter beschrieben, hatte die Pastorentochter eine Erleuchtung und verwandelte sich über Nacht aus einer Hartherzigen in eine gehorsame Magd Gottes.

Ihre Durchhalteparole: wir schaffen das, muss stillschweigend durch den Zusatz ergänzt werden: mit Gottes Hilfe. Weil wir eine christliche Nation sind, schaffen wir das. Politik wird zum Hilfsmittel der Religionsbildung. Wir schaffen das – und also werden wir deutsche Kinder Gottes heißen. Doch das Religiöse soll sich nicht auf das Nationale beschränken. Wie bei Novalis soll Religion das einigende Band der europäischen Völkergemeinde werden. „Religion soll die auseinanderstrebenden Teile der europäischen Kultur – wie einst im Mittelalter – zur Einheit zusammenfassen.“

Doch siehe, was man unter christlicher Ethik versteht, nimmt in den europäischen Nationen diametrale Formen an. Die christlichen Oststaaten Ungarn und Polen sehen sich mitnichten in der Pflicht, sich der Fernsten anzunehmen, sie bevorzugen die Nächsten ihrer eigenen Gesellschaft.

Das Christentum beherrscht die geniale Kunst, eine Religion unvergleichlicher Moral zu sein, indem es alle Moralen als heilige zulässt und alle als satanische verdammt.

Michael Stürmer sieht die Schuld der gegenwärtigen Kriegsgefahr nicht in Europa, nicht in Amerika, sondern in unerledigten Konflikten zwischen Russen und heutigen Türken. Da sind wir noch mal mit heiler Haut davongekommen. Ohnehin bleiben wir Opfer der immerbleibenden Bresthaftigkeit menschlicher Sünde:

„Es sind Kriege ohne Anfang und Ende, regellos und grenzenlos, und sie erfordern jenen illusionsfreien Blick auf die Lage, der den westlichen Demokratien so schmerzhaft und unübersehbar abgeht. Wohltaten zu verteilen, ist nun einmal angenehmer als Blut, Schweiß und Tränen. So weit ist es zwar noch nicht. Aber um den Ernstfall abzuwenden, muss man ihn denken.“ (Michael Stürmer in WELT.de)

Gutes tun ist einfach. Doch „Blut und Eisen“ – die Bismarck‘sche Version der Churchill-Formel „Blut, Schweiß und Tränen“ – zu wagen, dazu bedarf es ganzer Kerle. Solch harte Kerle gibt es im verweichlichten Deutschland nicht mehr. Die narzisstischen Sixpacks der Gegenwart sind nicht mal fähig, ihre Frauen gegen antanzende, übergriffige Maghrebinerhorden zu schützen.

„Die Fragen bezogen sich auf die Kölner Silvesternacht und waren ein bisschen heikel: Weshalb hat es eigentlich keine Rangelei unter Männern gegeben? Warum haben die Partner der angegriffenen Frauen diese nicht mit all ihrer Kraft zu schützen versucht? Berichtet wurde über prügelnde Deutsche jedenfalls so gut wie nichts.“ (ZEIT.de)

Die Deutschen ersticken im Wohlstand und in Tugendhaftigkeit. Gottlob ändern sich die Zeiten; weichliche Tugendbolzen werden zur harten und kalten Staatsraison erzogen. Und Michael Stürmer ist seiner selbsternannten Rolle des wehrhaften magister germaniae erneut gerecht geworden. Wenn hinten in der Türkei Russen und Osmanen aufeinander schlagen, stehen wir Deutsche Gewehr bei Fuß auf der Wacht.

Merkels Politik wird von ihren Anbetern lediglich unter dem Aspekt der Flüchtlingshilfe betrachtet und bewundert. Ihre Gesamtpolitik, die der tätigen Barmherzigkeit erst Stetigkeit und Nachhaltigkeit verschaffen könnte, wird hartnäckig übersehen. Welchen Wert hat eine moralische Politik, wenn sie in eine amoralische Gesamtpolitik eingebettet ist?

Der türkische Literaturnobelpreisträger Orhan Pamuk wirft der Europäischen Union vor, wegen Zusammenarbeit mit der Türkei in der Flüchtlingskrise den Abbau der Freiheitsrechte in seinem Land zu ignorieren. „»Sie haben alle Werte vergessen«, sagte Pamuk der Zeitung „Hürriyet“. Die EU wolle lediglich, dass die Türkei die Flüchtlingszahlen reduziere und am Kampf gegen den „Islamischen Staat“ (IS) teilnehme, kritisierte Pamuk. Im Gegenzug sehe die EU über Menschenrechtsverletzungen und die Verhaftung von Journalisten hinweg.“ (SPIEGEL.de)

Der Großhistoriker Winkler warnt die Deutschen vor moralischer Überheblichkeit:

„Zur deutschen Verantwortung gehört, dass wir uns von der moralischen Selbstüberschätzung verabschieden, die vor allem sich besonders fortschrittlich dünkende Deutsche aller Welt vor Augen geführt haben. Der Glaube, wir seien berufen, gegebenenfalls auch im Alleingang, weltweit das Gute zu verwirklichen, ist ein Irrglaube. Er darf nicht zu unserer Lebenslüge werden.“ (FAZ.NET)

Versteht sich, dass der fromme Abendländer nicht unterscheiden kann zwischen demokratischer Vernunftmoral und situationistischer Agape, die nicht die Welt verbessern, sondern selig werden will.

Nehmen wir trotzdem an, Merkel verfolgte eine nüchterne und nachhaltige Politik der Moral – wäre das ein selbstüberschätzender Irrglaube? Nein. Unbedingt – oder kategorisch – moralisch zu sein, ist die Pflicht jedes Einzelnen und jeder Nation. Hat Winkler mal den Namen Kant gehört?

Nur vorbildliche oder utopische Moral kann uns noch helfen. Gewiss, wir können nicht immer so moralisch sein, wie es notwendig wäre. Doch wir müssen immer so ehrlich und selbstkritisch sein, das Defizit unserer Moral wahrzunehmen und einzugestehen. Die moralische Norm muss eindeutig bleiben und darf sich nicht unseren schwächlichen Moralversuchen anpassen, als sei das Maximum unseres Könnens identisch mit der moralischen Norm. Jeder hat so vorbildlich zu sein, wie seine Tugendfähigkeit es gestattet.

Vorbilder, die tun, was sie sagen und sagen, was sie tun, muss es in der Welt geben – wenn die Jugend die Chance erhalten soll, eine lebensfähige Welt zu übernehmen. Oder wenn nichtdemokratische Staaten, vom Vorbild demokratischer Staaten angesteckt, ihren Weg der Unterdrückung aus freien Stücken aufgeben. Oder wenn deren Untertanen, angesteckt vom Virus der Freiheit und Gleichheit, sich eine menschenwürdige Verfassung erkämpfen.

Sich „fortschrittlich dünkende“ Deutsche sind nicht moralisch, Herr Winkler. Fortschritt ist zumeist das Gegenteil von moralischer Aufwärtsentwicklung. Moral überhebt sich nicht über andere. Sie steckt an, denn sie will Menschen gewinnen.

Die Äußerungen von Winkler und Stürmer beweisen, dass deutsche Intellektuelle schon wieder mit Verruchtem und Amoralischem kokettieren und zündeln. Gewürzt mit Bereitschaft zu moralfreier Staatsräson, neugermanischer Selbstisolierung oder gar zu militaristischem Dreinschlagen.

Was aber war die europäische Grundidee der Moral? Nationalistische Egoismen, das Recht der Stärkeren – oder gleiche Rechte für alle Menschen?

Aus der Idee der Zusammengehörigkeit aller Menschen entwickelten die Griechen zum ersten Mal die Idee des Naturrechts der Schwachen: nicht Stärke und Gewalt sollten entscheiden, sondern die Gleichheit aller Rechte.

„Von Natur hat jeder Mensch als Bürger der Kosmopolis gewisse Rechte, die ihm unabhängig von den Gesetzen der Einzelstaaten, überall auf Erden zustehen. Damit war, im Gegensatz zur alten Zeit, die nur partikulare Bürgerrechte kannte, der Begriff der allgemeinen Menschenrechte entdeckt.“ (Max Pohlenz)

 

Fortsetzung folgt.