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Europäische Idee XCVII

Hello, Freunde der europäischen Idee XCVII,

die olympischen Spiele sind vorbei? Es hat sie nie gegeben. Es waren nationale Prestigekämpfe, aber keine Spiele.

Im Spiel entflieht der Erwachsene seiner Welt kämpferischen Verlierens und Gewinnens. Er will sich häuten und erneuern durch Rückkehr in die Welt des Kindes, wo unreglemtierte Lust an der Tätigkeit alles, Besiegen und Beschämen nichts waren. Kinder wollen stolz sein auf ihre Fähigkeiten, aber niemanden traurig machen oder in den Schatten stellen. Kinder sind nur egoistisch, wenn sie von egoistischen Erwachsenen umgeben sind.

In konkurrenzfreien Schulen wären die besseren Schüler die eifrigsten Pädagogen ihrer schwächeren Klassenmitglieder, die sie nicht verlieren wollen. Ohnehin gäbe es keinen Klassenzwang in freien Schulen. Klassenzwang und Frontalunterricht sind Äquivalente des Stechschritts militärischer Kolonnen, Zensuren die Äquivalente militärischer Dienstgrade.

Des König Fritzens erste Pädagogen waren dienstuntaugliche Haudegen, die ihre militärische Hierarchie in die neuen Pflichtschulen des Staates übertrugen. Früh sollten sich Pöbelkinder an die gottgewollte Rangfolge menschlicher Wertigkeit gewöhnen. Die Kinder des Adels hatten Privatlehrer, die ihnen Herrschen und Befehlen in elitärer Konkurrenzfreiheit vermittelten. Bildung, heute die Methode des Aufstiegs, war schon immer das Gegenteil – und wird es immer bleiben, solange Bildung identisch ist mit Lernen von Herrschaftswissen.

Dass die unteren Klassen nicht nur mit Armut, sondern auch mit mangelnden Bildungsvoraussetzungen bestraft sind, ist für BILD-Blome willkommene Gelegenheit, die Minderwertigen mit vollendetem Zynismus zu versenken. Kommt die Welt ins Wanken, verlieren Eliteklassen ihre künstliche Bonhomie, mit der sie

die Unteren allzu lang verhätschelt haben.

Das modische Prügeln von Helikoptereltern ist eine indirekte Mahnung an die Führungsklassen, das Ende ihrer Langmut unnachsichtig einzuläuten. Es muss ein anderer Wind wehen, wenn Flüchtlingshorden die einstigen Mongolenhorden ablösen, die nicht mehr vor Wien, sondern vor Lampedusa und der Insel Lesbos stehen – sofern man stehen kann, wenn man gerade absäuft.

„Insgesamt hängt die Zukunft der Kinder mehr noch als früher vom Status der Eltern ab. Das ist ein Armutszeugnis für jene Eltern, denen Handyspiele wichtiger sind als Bücher. Aber gerade auch eines für den Staat, der mehr Geld denn je für Sozialpolitik ausgibt – doch die Gesellschaft damit nicht gerechter macht.“ (Nikolaus Blome in BILD.de)

Da die Unteren ihre Armut verdient haben, müssen sie vom Staat durch eine Hartz4-Stasi-Behörde streng überwacht werden, auf dass ihre Faulheit und Verkommenheit nicht ins Unermessliche wachse.

Die Ungebildeten sollen sich nicht nur voneinander lösen und sich in alle Winde zerstreuen, damit sie sich nicht wechselseitig beistehen. Gleichzeitig sollen sie füreinander einstehen, auch wenn sie als Auseinandergesprengte lange nichts mehr miteinander zu tun hatten. Das könnte man paradoxe Intervention oder staatliche Hintertriebenheit nennen. Tut etwas, doch wehe, ihr tut es. Solidarität wird in Konkurrenzgesellschaften gnadenlos ausgemerzt, doch wehe, sie ist tot, wenn der Staat sie benötigt, um seine eigenen Hände in Unschuld zu waschen.

„Wer die Hilfe des Staates in Anspruch nehmen will, muss sich offenbaren. Muss Vermögen, Gesundheit und Beziehung im Jobcenter vor Wildfremden ausbreiten. Hartz IV wird bezahlt aus den Steuern der Arbeiter und Angestellten. Etliche von ihnen haben nach Abzügen und Steuern selbst nicht viel mehr als Hartz-IV-Niveau übrig.“ (BILD.de)

Die Schwächsten des Volkes werden von BILD, die noch vor kurzem die Stelle des Volkes usurpieren wollte, gegen die Allerschwächsten ausgespielt. Kein Ton des Protests gegen die beschämende Tatsache, dass Arbeitende bei regulärem Lohn kaum mehr haben als Leute, die schuldlos mit Hartz4-Reglementierungen bestraft werden.

Keine seriöse Zeitung denkt daran, mit BILD ins Gericht zu gehen. So dringt der millionenfache Shitstorm eines Blattes unwidersprochen ins Publikum. SPIEGEL-Kolumnisten finden es possierlich, mit BILD-Herren windige Klamaukgespräche zu führen, die sie als Streitgespräche verkaufen.

Von Kindesbeinen an sollen die Jüngsten lernen: es gibt unterschiedliche Klassen sozialer Respektabilität, angeborener und erlernter Fähigkeiten, verinnerlichter und eintrainierter Tugenden.

In der falschen Welt gibt es gibt kein richtiges Spielen. In der Welt des Wettbewerbs ist Spielen zur Methode geworden, die kindliche Welt des Gleichwertig-Einmaligen durch Vergleichen und Bewerten für immer zu zerstören. Lohnabhängige ertragen es nicht, wenn ihre Kinder ihnen eine ganz andere Welt zeigen – die sie im Berufsleben durch Ausstechen und Übertrumpfen ihrer Konkurrenten ad absurdum führen.

Sport und Spiel? Sport wurde zum weltpolitischen Nationenvergleich, Spiel zur narzisstischen Leistungsschau. Kein Therapeut wird einem Spitzensportler eine narzisstische Persönlichkeitsstörung bescheinigen. Massenwahn schützt vor Einzelwahn. Auch Seelenkenner sitzen gern vor dem TV-Apparat, um Medaillen zu zählen.

Von Leistung kann nicht mehr geredet werden, wenn Rekorde jenseits von Gut und Böse Körper und Geist der Athleten ruinieren, sei es durch lügenhaftes Dopen oder Überfordern des geschundenen Körpers.

Warum ist der internationale Sport zum Moloch der Korruption geworden? Weil es keine selbstbewussten Sportler gibt, die ihren Verbandsdespoten die Meinung geigen würden. Wer dies dennoch wagt, aber den Fehler begeht, keine Goldmedaille zu erringen, wird von Funktionären, die Bach oder Vesper heißen, gnadenlos vorgeführt: das sei billige Kritik aus Mangel an sportlicher Kompetenz.

Und die Medien, die keine Lügenmedien sein wollen? Bringen vor den Spielen ihre pflichtgemäße Alibi-Kritik und danach ihre schonungslose Rückschau – dazwischen lassen sie sich vor Jubel, Enttäuschung, Bewunderung, nationaler Größe und Schande von niemandem übertreffen. Nein, sie sind grundehrlich, wenn sie in medialer Selbstberauschung ihre Sommerloch-Flaute zu verhindern gedenken.

Den Menschen „zu Hause vor den Bildschirmen“ wurde eine Fata Morgana vorgegaukelt. Die Kameras folgten der Regie von Vorgauklern, nicht der schonungslosen Abbildung der Realität. Schein verhält sich zum Sein wie Lüge zur Wahrheit. Alle ahnten oder wussten es, doch an ihrer drogenhaften Ablenkung von der politischen Weltlage änderte es nichts. „Es ist nicht so, wie es aussieht“, schreibt die ZEIT:

„Wie es dem IOC gefällt, produziert das Fernsehen mehr Schein als Sein.“

Die TAZ wird konkreter:

„Bescheiße, betrüge und rede nicht drüber – das sind die Grundregeln des olympischen Fairplay. Eltern, die ihre Kinder bei einem Sportverein anmelden, müssen ihren Kleinen sagen, dass der olympische Sport als Vorbild nicht taugt.“ (TAZ.de)

Wie neoliberal ist der Sport? Seit 2010 dürfen sich Sprinter keinen Fehlstart mehr erlauben. In einem Pro und Contra der TAZ hält Doris Akrap die neue Regel für die unbarmherzige Frucht eines Unfehlbarkeitsglaubens. Für Jan Feddersen hingegen sind Fehlstarter Betrüger, die sofort bestraft werden müssen. Alles andere sei unfair, also neoliberal. (TAZ.de)

Feddersen verwechselt Fairness mit Neoliberalismus. Hayeks Credo, dass Glück und Zufall den irrationalen, dem Menschen unzugänglichen Markt bestimmen, nimmt er nicht zur Kenntnis. Fair ist im Neoliberalismus gar nichts. Fairness setzt nachvollziehbare Regeln voraus, mit deren Hilfe man Fairness und Unfairness überhaupt definieren könnte.

Dass die überkomplexen Probleme der Welt den Verstand des Menschen überfordern, zeichnet Hayek als Vertreter der Gegenaufklärung aus, die sich endemisch in allen Medien ausbreitet. Für einen Aufklärer ist sonnenklar, dass der Mensch seine selbstgemachten Probleme auch selbst lösen kann. Wär‘s anders, wäre seine Vernunft unfähig, seine eigenen Machenschaften zu verstehen.

Gerade der Neoliberalismus betont die zweite Chance, die jedem Freund des Risikos zustehen soll. Wage zu scheitern, ist das Motto vieler Firmengründer, die keinen Erregungskitzel spüren würden, wenn sie auf Nummer Sicher gingen. Potentielles Scheitern ist die Droge des Spielers, wie Dostojewski seine Sucht analysierte. Alles andere wäre langweilig. Das berechenbare Durchschnittsleben ist Risikospielern unerträglich.

Ein Fehlstart muss kein Betrugsversuch sein, Nervosität oder Überanspannung vor globalem Publikum würden ausreichen, um eine Übersprunghandlung auszulösen. Wie könnte der Sport als Vorbild für junge Menschen dienen, wenn er keine Möglichkeit hätte, einen korrigierbaren Fehler zu begehen?

Jedes Spiel kann endlos wiederholt werden. Sport aber ist kein Spiel mehr, er ist ein quasi-militantes Imponiergehabe – ohne Feuerwaffen. Wenn Sport fair wäre, dürfte er auf den Kairos der Abrufbarkeit einer Leistung keinen Wert legen. Den Querschnitt aller Leistungen einer längeren Zeiteinheit müsste er als Leistungsrepräsentanz anerkennen – und nicht die zufällige Leistung eines emotional aufgeheizten, kurzen Augenblicks.

Einen Satz darf man nicht wiederholen, wenn man kein Gähnen auslösen will: Dabeisein ist alles, der Sieg ist nichts. Genau dieser Satz aber müsste die Wirklichkeit des Sports auszeichnen, wenn er Spiel sein wollte. Einwand: wird im Spiel nicht gewonnen und verloren? Für manche mögen Spiele nur noch interessant sein, wenn sie gewinnen können. Den Sinn des Spielens aber haben sie nicht erfasst.

Urspiel ist das Spiel der Kinder – oder das Spielen mit Kindern. Kein Kind spielt um des Gewinnens willen. Kein Erwachsener wird seine Kinder im Spiel ständig besiegen wollen. Im Gegenteil, er wird seine Kinder des Öfteren siegen lassen, damit sie die Lust am Spielen nicht verlieren.

Das Urspiel ist die spielerische Versenkung des Kindes beim Erkunden der Welt. Paidia, das griechische Wort für Spiel, kommt von pais, das „Kind“. Ursprünglich bedeutet das Wort „Tanzen“ oder „kurzweiliges Vergnügen“.

Das Spiel hat keinen Zweck – außer die freie Zeit des Menschen zu gestalten, damit sie ihm Freude bereite. Spielen ist Freude am Dasein, wie es ist. Das Dasein in der Natur ist vollkommen, weil Natur vollkommen ist. Erst als der Zwang aufkam, Natur zu verändern, sich Natur untertan zu machen, wurde zweckloses Spielen zur Blasphemie.

Christen kennen kein harmloses Spielen. Was nicht in Gott gründet, muss Sünde sein. Spielen ist für Religiöse ein satanisches Ritual. Es gibt nur ein Spiel, das Gott zulässt, das ist lobendes Spielen zur Ehre Gottes: „Ermuntert einander mit Psalmen und Lobgesängen und geistlichen Liedern, singt und spielt dem Herrn in eurem Herzen.“

Wer sich in Zeit und Raum fürchtet, kann kein unbeschwertes Spiel spielen. Rudolf Otto charakterisiert die Religion Luthers als „eine furchtbare Macht, die sich im göttlichen Zorn manifestiert. Otto entdeckt das Gefühl des Schreckens vor dem Heiligen, vor dem mysterium tremendum, vor der Majestät, dem Moment des Übermächtigen; er entdeckt die Scheu vor dem mysterium fascinans. Das Heilige ist das „Ganz andere“, auf keinen Fall etwas Menschliches. Vor dem Numinosen fühlt der Mensch seine völlige Nichtigkeit, das Gefühl, nichts als „Staub und Asche“ zu sein.“ (Nach Mircea Eliade, Das Heilige und das Profane)

Kann in dieser eisenhaltigen, schreckenerregenden Luft der Mensch seine kindliche Unbefangenheit bewahren? Je furchtsamer das Kind, desto mehr verändert sich sein Spiel zur angstabwehrenden Magie. Das Spiel wird zum religiösen Ritual. Alle Rituale des Heiligen waren einst kindliche Spiele, die ihre Unbefangenheit verloren und zur Bewältigung göttlicher Direktiven wurden.

Spielen hingegen ist die kindliche Weise des Philosophierens. Die Welt wird erkundet, Fragen werden gestellt, Analogien zwischen allem und allem geknüpft.

Kein Wunder, dass erst in religionskritischen Zeiten das Spiel seine uralte Unbefangenheit zurückgewinnen wollte. Spiel sollte der „Befreiung von gesellschaftlichen Zwängen“ dienen. „Der Mensch spielt nur, wo er in voller Bedeutung des Worts Mensch ist, und er ist nur da ganzer Mensch, wo er spielt“. Das war Schillers Rehabilitierung des Spiels, sein Versuch, das Spiel dem Bereich des protestantischen Arbeitskults und der ewigen Sorge um das Seelenheil zu entreißen.

Sollte Schiller Recht haben mit der Auszeichnung des Spiels als Spitze des Humanen, müssten wir folgern, dass die Moderne das Gegenteil sorglosen Spielens sein muss. Ständiger Zwang zu Unruhe, Dynamik und Mobilität, zum beschleunigten Fortschritt, in ruheloser Dauerwachheit, die keinerlei Erholen und Abschalten duldet – „ihr wisset nicht, wann der Herr kommt“ –, die permanente Nötigung zu kreativem Tun, zum Fortschritt, der alle Konkurrenten in den Schatten stellt: all dies kennzeichnet unsere Epoche als Zeitalter der Unfähigkeit zum Spielen.

Über Spielen wird auch nicht mehr nachgedacht, höchstens über Spieltheorie, jene mathematische Methode, die das Verhalten konkurrierender Spielteilnehmer möglichst exakt berechnen kann – um den Sieg davonzutragen.

Für Heraklit war Zeit ein spielendes Kind, das die Königsherrschaft innehatte. Welch eine Zumutung für Gläubige, deren Herrscher der Zeit ein allmächtiger Mann sein musste, welcher eines fernen Gerichtstages Rechenschaft fordern wird, wie jeder Erdenwurm seine irdische Zeit zugebracht hat. Spielen durfte nicht dazu gehören. Im Mittelalter war Spiel nichts weniger als Gotteslästerung. Gott verlangt ununterbrochenes Arbeiten und Beten.

„Betrachten wir nun die innere Natur des Spiels, so ist zuvörderst das Spiel dem Ernste, der Abhängigkeit und Not entgegengesetzt. Mit solchem Ringen, Laufen, Kämpfen war es kein Ernst; es lag darin keine Not des Sichwehrens, kein Bedürfnis des Kampfes. Ernst ist die Arbeit in Beziehung auf das Bedürfnis: ich oder die Natur muß zugrunde gehen. Wenn das eine bestehen soll, muss das andere fallen.“ (Hegel)

Furchterregende Sätze, die uns die Gefahr des technischen Fortschritts als Zugrunderichten der Natur verdeutlicht. Eine Seite muss untergehen: entweder die Natur – oder der Mensch. Hier gibt es kein Sowohl-als-auch. Würde Hegel, der fromme Lutheraner, Recht behalten – dann hätte die Menschheit nicht die geringste Chance zur Harmonie mit der Natur. Was Hegel philosophisch formuliert, ist das Credo fundamentalistischer Amerikaner.

Auch Marx blieb im Grunde ein Hegelianer, auch wenn er manche Reaktionsbewegungen einbaute, um sein Genie nicht unter den Scheffel zu stellen. Trotz mancher naturfreundlicher Formulierungen seiner frühen Jahre – besonders unter dem Eindruck Schellings – blieb die unbearbeitete Natur für ihn ein Ding, das man vernichten musste, um die Glorie des sozialistischen homo laborans ans Licht zu bringen.

Entweder Arbeiten oder Spielen. Spielen könnte der Mensch sich nur erlauben, wenn er sein überlebensnotwendiges Quantum an Arbeit verrichtet hätte. Entgegen allen Klischees: die Griechen hatten keine Vorbehalte gegen Arbeiten. Nur gegen fremdbestimmtes Arbeiten im Dienste anderer.

Hesiod preist die schweißtreibende bäuerliche Arbeit in der Natur. Selbst der adlige Odysseus war sich nicht zu schade, bestimmte Arbeiten zu übernehmen. Sokrates ist weit davon entfernt, von selbstbestimmtem Arbeiten abzuraten.

Allerdings gab es ein Problem: auch Philosophieren und in der Polis mitwirken waren notwendige Arbeiten – die aber zur Überlebenshaltung unmittelbar nichts einbrachten. Wie konnte man diese beiden Stränge – Politik und Denken einerseits, sein Brot verdienen andererseits – miteinander vereinbaren?

Perikles erfand die Diäten, um den armen Bauern – die sich eigentlich um ihre Arbeit in der Natur hätten kümmern müssen – die Teilhabe an den mannigfachen politischen Pflichten zu ermöglichen.

Das Problem existiert noch heute bei der Frage nach der Arbeitsteilung der Geschlechter. Der Mann wird zunehmend vom kapitalistischen Arbeitsprozess aufgefressen, die Frau soll Kind und Beruf miteinander versöhnen. Wo bleibt da die Zeit für das politische Engagement? Politik fällt zunehmend aus, sei es aus Karrieregründen oder aus der Doppelbelastung der Frau als Mutter und Mitverdienerin.

Wie kann in arbeitswütiger Atmosphäre das Bedürfnis nach zweckfreiem Spielen aufkommen? Der Kapitalismus ist nicht nur die unerotischste, sondern auch die spielfeindlichste Epoche aller Zeiten: Eros ist freies Spiel der Sinnlichkeit.

Das Spiel der Sportler ist der Kampf. Wenn ein deutscher Führer sein Bekenntnisbuch „Mein Kampf“ nennt, meint er das furchterregende Lotteriespiel, das er mit der Vorsehung spielte. Alles setzte er auf eine Karte und riskierte alles, um alles zu gewinnen – oder zu verlieren. Alles – oder Nichts: darunter machte er‘s nicht. Hitler war sich seines riskanten Schicksalspiels wohl bewusst. Nicht anders als heutige Grenzen-Überwinder oder Grenzen-Erprober liebte er die existentiellen Gefahren einer mörderischen Weltpolitik. Macht und Spiel waren bei ihm symbiotisch verwachsen. Spiel aber ist vom Ursprung her macht- und angstfrei.

Die Machtspiele der Gegenwart geben sich forsch und unbekümmert. Was kann uns schon passieren? Doch die Forschheit ist aufgesetzt. Unter der Oberfläche sitzen angst-vorbeugende Aggressionen, die zurzeit die bisherigen Schutzmaßnahmen des kollektiven Es westlicher Gesellschaften durchbrechen und als terroristische Akte, hasserfüllte Shitstorms oder unflätige Beleidigungen ins Leben treten.

Versteht sich, dass Verteidiger des Christentums, die Angst vor einer anarchischen Zukunft haben, zum Eintritt in die Kirchen aufrufen. Um sich wirksam in der Demokratie zu beteiligen, rät Sabine Rückert in der ZEIT zum Eintritt in eine Kirche:

„Ich trete in die Kirche ein oder in eine aufgeklärte Glaubensgemeinschaft anderer Religionen: auch als Agnostiker. Diese Gemeinschaften halten die Gesellschaft zusammen, sie lehren die Tugenden des Umgangs: Höflichkeit, Freundlichkeit, Herzlichkeit. Sie bewahren mich vor dem Irrweg, alles besser zu wissen.“

Die deutsche Intelligentsia schreckt vor nichts zurück, um die bedrohte Demokratie zu retten. Selbst Jesus muss herhalten, um als spiritueller Knigge zu fungieren, der uns höfliches Betragen beibringen soll, damit wir unser sündiges Es unter Kontrolle kriegen. Das ist die überfällige Fortschreibung des Böckenförde-Diktums ins Lebensnahe und Konkrete.

Jedermann weiß inzwischen, dass die urolympischen Spiele bei den Griechen so fair und rein nicht waren, wie falsche Freunde der Griechen es propagierten – damit die notwenige Entlarvung dieser Fama der allgemeinen Verachtung der Griechen den letzten Todesstoß versetzt. Griechen begingen den unverzeihlichen Fehler, nicht ideal zu sein. Die perfekte Moderne vergisst das nicht.

Die agonale Leidenschaft, das Leben in allen Dingen zum Wettkampf zu erklären, gehörte zum Volkscharakter der Griechen. „Immer der Erste zu sein und voranzustreben den anderen“, war das Leitbild der Griechen von adligen Anfängen an.

War der Agon in den altadligen Verhältnissen die kämpferische Methode, die stärksten und raffiniertesten Anführer der Heere auszuwählen, wurde die Auswahl der Besten durch die allmählich beginnende Demokratisierung in das – Bildungsideal aller Athener verwandelt, die nicht nur mit dem Kopf, sondern auch mit dem Leib gegen Feinde bestehen sollten.

Das Gymnasion entstand als Stätte der körperlich-geistigen Gesamtausbildung. Der Denker sollte wehrhaft und schön, der Athlet ein Denker sein. In der Gesamtausbildung des Gymnasions sollte der Einzelne „alle seine Fähigkeiten entwickeln, die aber nicht nur ihm selbst, sondern auch der Polis dienen“. Nietzsche wirft Sokrates vor, er habe den Agon „zum Streitgespräch verharmlost“.

Auch das mäeutische Streitgespräch war ein Wettkampf, den man „gewinnen oder verlieren“ konnte. Ein echter Streit ist kein Zuckerlecken. Für Roland Barthes ist die Niederlage in einem sokratischen Streitgespräch die schlimmste Schande, die einem modernen Menschen zustoßen könnte. Kein Wunder, dass die Gegenwart kein echtes Streitgespräch zulässt. Man verschanzt sich hinter ängstlichen Relativismen und garantiert jedem seine subjektive Wahrheit. Wenn alle Recht haben, haben auch Terroristen und Faschisten Recht.

Doch bei aller Rigidität der sokratischen Wahrheitssuche per „Dialektik“ darf ein Umstand nicht verschwiegen werden. Der sokratische Agon kennt zwar vorläufige Sieger und Verlierer – nicht selten gehen Debatten auch aporetisch oder „unentschieden“ aus –, dennoch gibt es, genau besehen, nur Gewinner. Auch der, der eines Irrtums überführt wurde, hat gewonnen: er hat seinen Irrtum eingesehen.

Der sokratische Wettbewerb ist der einzige, der keine Verlierer kennt. In diesem Sinn wäre sokratisches Streiten die einzige Möglichkeit, eine vitale Demokratie zum denkenden Problemlösen zu bringen. Humanes Streiten muss keinen Gesichtsverlust nach sich ziehen. Für selbstbewusste Demokraten ist Erkennen eines Irrtums eine fruchtbare Einsicht.

In diesem Sinn hat der mäeutische Dialog dem Spiel einen erheblichen Teil seiner kindlichen Unbefangenheit zurückerobert. Kinder lieben das Streitgespräch. Ob sie „verlieren oder gewinnen“ ist für sie belanglos. Das Erproben ihres Scharfsinns ist eine ursprüngliche Lust am Denken – das in spielerischer Form begonnen hat.

Im Bereich der unfehlbaren Wahrheit eines Gottes gibt es keine dialogische Verständigungsmöglichkeit. Wen der Blitz der Offenbarung trifft, der muss seine sündige Vernunft zu Grabe tragen. Hier gilt: Entweder-Oder. Während echte Demokratie alle Bürger zur politischen Kompetenz ermuntert, will eine Erlöserreligion nicht zur Lösung irdischer Probleme beitragen. Viele sind berufen, doch wenige sind auserwählt. Der Kampf um die wenigen Plätze im Himmelreich selektiert eine winzige Minderheit und verwirft den großen Haufen. Zwar sollen viele die Rennbahn in den Himmel laufen: doch wer wird gewinnen? Nur der auserwählte Eine:

„Wisset ihr nicht, daß die, so in der Rennbahn laufen, die laufen alle, aber nur einer erlangt das Kleinod? Laufet nun also, daß ihr es ergreifet!“

In der alternativlosen Unfehlbarkeit der Offenbarung wird jedes spielerische und hypothetische Erproben, Durchdenken, Verwerfen und Neubedenken zum sündigen Tändeln, das den Ernst des Entweder-Oder verfehlt. Das kann dem Spieler eine höllische Ewigkeit einbringen.

 

Fortsetzung folgt.