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Europäische Idee XC

Hello, Freunde der europäischen Idee XC,

ein Kind braucht ein ganzes Dorf, um erwachsen zu werden. Wird es nicht erwachsen, ist das ganze Dorf schuldig.

Ein Kind braucht eine ganze Polis, um reif und mündig zu werden. Wird es nicht reif und mündig, ist die Polis schuldig.

Verbrecher sind Kinder, an denen die Gesellschaft schuldig wurde. Äußerlich ähneln sie Erwachsenen, innerlich verharren sie auf dem Stand ihrer deformierten Kindheit.

Nach solchen Schuldzuweisungen jaulen Dörfer, Städte und Gesellschaften. Am Unglück ihrer Mitglieder, an den Verbrechen ihrer Individuen wollen sie nicht schuldig sein. Also entwickeln sie ein Strafbedürfnis, um von ihrer Schuld abzulenken. Sie bestrafen ihre Verbrecher und isolieren sie in Gefängnissen, indem sie Schuld als individuelle und persönliche definieren, die bestraft werden muss, damit sie als Dörfer, Städte und Gesellschaften schuldlos bleiben.

Sie, die Schuldigen, erheben sich zu Richtern und Verurteilern, die die Objekte ihrer Schuld ein zweites Mal bestrafen. Zuerst werden Kinder zu unglücklichen Menschen verurteilt, die Verbrechen begehen müssen. Dann werden ihre Verbrechen verurteilt, damit die Gesellschaft sich als rein und schuldlos empfinden kann.

Verbrechen sind Symptome einer Gesellschaft, die ihre verbrecherischen Neigungen nicht vollständig unterdrücken kann. Die Mehrheit der „Starken“ glaubt, sie könne es – und hält sich für gesund. Die Minderheit der „Schwachen“ kann es nicht und wird krank, verhaltensauffällig oder – verbrecherisch.

Wenn Krankheit und Verbrechen Symptome der Gesamtgesellschaft sind, sind verbrecherische Kranke die wahren Gesunden und Starken. Denn sie zeigen die Gesellschaft unverfälscht: sie stellen die Realität nicht anders dar, als sie ist. Die Gesunden hingegen sind die eigentlich Kranken, die nicht fähig sind,

rückhaltlos den Zustand der Gesellschaft wahrzunehmen und ihre Wunden zu zeigen. Sie sind die eigentlich Schwachen, die ihre Schwächen nicht zur Kenntnis nehmen und sie an die vermeintlich Schwachen abschieben.

So werden Kinder zu Sündenböcken gesellschaftlicher Unehrlichkeit. Für Erich Fromm sind die Gesunden einer kranken Gesellschaft die eigentlich Kranken, die Kranken die eigentlich Gesunden, die nicht in der Lage sind, die Wirklichkeit zu verfälschen und besser darzustellen, als sie ist.

Die Gesunden müssen ein kunstvolles Geflecht aus Wahrnehmungsverzerrungen, erfundenen Sündenböcken und ideologischen Welterklärungen knüpfen, mit dem sie ihre eigenen schuldhaften Verstrickungen bedecken und in einem besseren Licht erscheinen lassen.

Die Kranken sind die Ehrlichen, die lieber persönlich leiden – oder andere durch ihre „ehrlichen“ Verbrechen leiden lassen – als sich an kollektiven Lügen und Heucheleien der Starken und Erfolgreichen zu beteiligen.

Freuds Satz: Massenneurose schützt vor Einzelneurose, will die Illusion zerstören, das Normale und Angepasste sei das Gesunde und Mündige. Ein angepasster, normaler Deutscher im Dritten Reich war kein Gesunder, sofern unter Gesundheit reife Humanität verstanden werden soll. Er war moralisch so krank wie die ganze Gesellschaft, die ihre Krankheit als Menschheitsverbrechen vollstreckte. Die Widerständler hingegen, die wahren Gesunden, galten als unheilbar Kranke, für die es kein anderes Heilmittel gab als den Tod.

Verhaltensauffälligkeiten in kranken Gesellschaften können Zeichen mutigen Widerstands sein. In totalitären Gesellschaften werden Auffällige als Kranke in Psychiatrien gesteckt, wenn nicht nach Sibirien in Gulags geschickt.

Der Unterschied zwischen Krankheit und Verbrechen liegt in der Stoßrichtung des Leidens. Der Kranke attackiert seine Umgebung nur, insofern er sich durch Krankheit selbst angreift und schädigt. Sein Schuldvorwurf: „Seht, Eltern und Autoritäten, so schuldig seid ihr an mir geworden, dass ich krank werden musste“, zerschellt an der Unfehlbarkeit der Gesellschaft, die unerbittlich daran festhält, dass jeder seine Krankheit selbst zu verantworten habe – oder es seien objektive Einflüsse die Ursachen, die kein Mensch verhindern könne.

Verbrechen hingegen zielen vor allem auf die Gesellschaft: ich räche mich an euch, weil ihr mich habt krank werden lassen. Verglichen mit Verbrechern haben Kranke ein geringeres Selbstwertgefühl. Sie fühlen sich schuldiger denn jene und müssen die Hauptlast ihres Leidens selber tragen. Das trotzige und rebellische Gefühl der Verbrecher hingegen ist erfüllt von der eigenen Schuldlosigkeit und der bösartigen Alleinschuld der Gesellschaft, die nach dem alten Talionsgesetz bestraft werden muss: wie du mir, so ich dir.

Die Gesellschaft wäre an der Deformation ihrer Jugendlichen unschuldig, wenn jeder Mensch als atomisierte Monade auf die Welt käme. Die Leibniz‘schen Monaden werden nur von Gott tangiert. Menschen haben auf Menschen keinen Einfluss. Doch wer Leibniz zustimmt, kann keine moderne Gesellschaft für möglich halten, die durch Werbung und Manipulation beeinflussbar wäre.

Die Rache des Verbrechers will noch mehr sein als eine symmetrische Vergeltung. Sie will die Welt aufrütteln, um sie zu verbessern. Für angepasste und normale Ohren schwer erträglich: ein politisches Attentat will Rache und Welt-Therapie in einem Akt sein.

Gleichwohl ist diese Wahrheit dem Abendland nicht unbekannt. Sie gehört zum eisernen Bestand seiner Heilsreligion. Ein Attentat ist eine religiöse Lektion. Wie Erlöser die Welt durch ihre Zerstörung retten und die Mehrheit der Menschen bestrafen, so muss der leidende und von der Welt nicht beachtete Attentäter viele vernichten, um den Rest zu retten. Durch Böses will der Verbrecher das Heil bringen. Wie Mephisto könnte er sagen: ich bin ein Teil von jener Kraft, die stets das Böse will – und tut –, und stets das Gute schafft.

Die religiöse Errettung der Welt durch ihre Vernichtung ist auch der Kern jeder faschistischen oder totalitären Zwangsbeglückung. Viele müssen ausradiert werden, damit wenige ans Licht gelangen. Das Böse als eigentliche Energie des Guten ist nicht nur das Credo der Theologen, es wurde zum Motor der gesamten Moderne.

Nur das Teuflische kann die Geschäfte Gottes exekutieren. Teufel und Gott sind letztlich eine Person, weshalb das Christentum sich rühmt, kein „manichäischer Dualismus“ zu sein. Gott erhält seine Schöpfung durch Gutes und Böses, durch kontinuierliches Vernichten und Neuschaffen. Die creatio continua setzt eine destructio continua voraus.

Schöpferisches Zerstören ist das Geheimnis der modernen Wirtschaft, die der Menschheit Heil und Segen durch Hetakomben an Opfern bringen soll. Wie könnte der Erlöser den Satan am Kreuz besiegen, wenn dieser als Sparringspartner des Heilands nicht existiert hätte? Das Gute ist kraft- und wirkungslos. Das dunkle Geheimnis des abendländischen Fortschritts ist das Böse, das das Gute zu Höchstleistungen vor sich hertreibt. Das Ergebnis ist der jetzige Stand der Moderne, die vom öffentlich Bösen dominiert wird, das sich als dynamische Zivilisation präsentieren darf: als heiliger Fortschritt der Menschheit ins Phantastische und Grenzenlose. Das Gute wird zur domestizierten Moral des Privaten. In ihren Familien sind sie alle wunderbare Menschen, im Beruf, in der Politik dürfen sie das Amoralische bedenkenlos als Stimulans ihrer Weltzerstörung nutzen.

Das Böse gibt es in zweierlei Ausführungen. Als verbotenes Böses der Schwachen und Kranken, das die Gesellschaft direkt attackiert. Und als das erlaubte, ja gewollte und gerühmte Böse, das die Gesellschaft ins grenzenlos Reiche und Mächtige führt.

Das Böse der Eliten ist das bessere Böse. Es kann sich als allgemeine Wohltat gerieren, das die Opfer, die es verlangt, als unvermeidlichen Preis für den planetarischen Siegeszug definiert. Wir müssen einen Preis bezahlen für die Segnungen der Wirtschaft und Technik. Den Fortschritt ins Unermessliche gibt es nicht umsonst.

Die Sublimierung des Bösen durch kulturelle Aufwärtsentwicklung muss – bei Freud – durch Infernalisierung der menschlichen und politischen Beziehungen erkauft werden. Man sieht, das Böse der Eliten hat keinen Mangel an brillanten Rechtfertigungsideologien. Es gibt nichts Absurdes und Wahnhaftes, was sie der Menschheit nicht mit Hilfe staunenswerter Visionärsgesten als Gottähnlichkeit verkaufen könnten.

Im Vergleich mit dem machtverheißenden Erlösungsbösen der Eliten muss das stumme Verbrechen der Kleinen ein ordinärer Anschlag gegen die bürgerliche Gesellschaft bleiben, der unerbittlich geahndet werden muss. Im Banne von Erlösungsreligionen kann das Abendland die Untat des Attentäters nicht als Beitrag zur Erlösung der Gesellschaft verstehen. Verstehen ist für dynamische Mephistoteliker die Versuchung, das Bedrohliche zu verzeihen. Das wäre eine unverzeihliche Schwäche. Die Abgründe eines Verbrechers zu verstehen würde voraussetzen, den Wahn der eigenen Erlösungsreligion zu verstehen.

Dass es um die Rivalität zweier Bösartigkeiten geht, kann man am Vokabular der psychischen Agenten der Gesellschaft ablesen, die den Attentätern Tod und Teufel andichten und alles Verstehen als Versuch der Ent-schuldung und Ent-schuldigung verdammen.

Narzisstischer Gigantismus, infantile Grandiosität und destruktives Herostratentum sind noch das Geringste, was man als wissenschaftlich gesicherte Diagnosen lesen kann.

Niemand aus der Riege der Seelenerforscher kommt auf die Idee, dieselben Kategorien auf die anerkannten und allseits bewunderten Genies aus dem Bereich des Fortschritts und der unersättlichen Gier anzuwenden.

Die Therapeuten und Seelenkenner der Gegenwart haben das Defizit ihres Urgründers Freud noch immer nicht überwunden: die Gesellschaft in Geschichte und Gegenwart als Pädagogin der Einzelnen existiert auch bei ihnen nicht. Obwohl Freud vor Medizinern und Theologen am meisten warnte, sind diese beiden Berufsgruppen die einhelligen Verwalter des Freud‘schen Erbes geworden. Die Psychotherapie ist zur Seelsorge geworden. In einem exklusiven Seelenbezirk, ohne die geringste Verbindung mit dem Rest der Welt, therapieren sie keine lebendigen Menschen, sondern isolierte Trieb-Maschinen und weltlose Innerlichkeiten. Fallbeschreibungen kommen bei Freud fast ohne Wechselwirkung mit der Umgebung aus.

Was ist ein kleiner Amokläufer, verglichen mit dem grandiosen, narzisstischen, gigantischen und messianischen ICH eines Silicon-Valley-Titanen, der die ganze Erde zu seinen Heilsvorstellungen nötigen will? Wer sich dagegen wehrt, hat es verdient, dass er untergeht. Nehmen wir das unüberbietbar herostratische und gigantesque Motto eines Silicon-Valley-Supergenies:

„Lieber ewig wahnsinnig als normal und sterblich. Scharf auf junges Blut: Silicon-Valley-Milliardär und Trump-Fan Peter Thiel will den Tod überlisten.“ (ZEIT.de)

„Der milliardenschwere Venture-Kapitalist, der einst PayPal gründete und zu den ersten Investoren von Facebook gehörte, unterstützt im Präsidentschaftswahlkampf Donald Trump. Er hasst jegliche staatliche Regulierung so sehr, dass er schon in Firmen investiert hat, die unabhängige, in internationalen Gewässern dümpelnde Seasteads etablieren wollen – dauerhafte Siedlungen im Meer außerhalb jedweder Kontrolle durch Nationen. Und Thiel wird sich einfrieren lassen, sollte er doch noch ableben, ehe der Schlüssel zur Unsterblichkeit gefunden ist – um sich dann wieder auftauen und reparieren zu lassen.“

Wären dies privat-religiöse Überstiegenheiten, wären sie ohne Bedeutung. Sind sie aber nicht. Totalitäre Inseln außerhalb aller Kontrolle durch Sterbliche werden die Herrschaft über die Erde anstreben. Mit Hilfe von Super-Intelligenz-Maschinen.

Der Milliardär will den ewigen Wahnsinn und das grenzenlose Verderben der Menschheit. Das bekannte Leben verabscheut er bis aufs Blut. Seine Unfähigkeit, ein vitales Leben in irdischen Grenzen zu führen, überträgt er auf die ganze Menschheit. Er will aufs Spiel setzen, was vielen Millionen Menschen liebens- und lebenswert ist: das irdische Leben.

Kein Zufall, dass Thiel Parteigänger Trumps ist, der für eine lebenswerte Erde nur noch Hohn übrig hat. Sollte er gewählt werden, will er den Einsatz von Atomwaffen nicht länger ausschließen. Was man kann, sollte man auch tun. Der ewige Wahnsinn Thiels kann schneller kommen, wenn der jetzige Wahnsinn auf Erden zur politischen Realität wird. Silicon Valley ist die logische Komplettierung der Trump‘schen Alleinherrschaft über die Welt.

„Die einsamste und folgenschwerste Entscheidung eines US-Präsidenten ist der Einsatz von Atomwaffen. Es ist die einzige Militäraktion, die er im Alleingang auslösen kann, ohne Zustimmung des Kongresses. Alles, was er braucht, ist der Atomkoffer (genannt „Football“) – eine Aktentasche mit Anweisungen, die stets in seiner Nähe ist – und die geheimen Abschusscodes der Waffen. Dreimal habe sich Trump nach nuklearen Waffen erkundigt – und explizit gefragt, „warum wir sie nicht einsetzen können, wo wir sie schon haben„. (SPIEGEL.de)

Das dritte Wahnsinnsmotto des Elitenbösen – nach Thiel und Trump – stammt von Supermilliardär Warren Buffett mit dem Habitus eines vertrauenerweckenden Filialleiters:

„Es herrscht Klassenkrieg, richtig, aber es ist meine Klasse, die Klasse der Reichen, die Krieg führt, und wir werden ihn gewinnen.“

EINPROZENT der Menschheit führt einen Krieg gegen die restlichen 99PROZENT, den sie gewinnen werden. Ja, längst gewonnen haben. Hat dieser Krieg etwas mit Demokratie zu tun? Jede Demokratie ist verloren, wenn ihre Klassen einen Vernichtungskampf gegeneinander führen.

In allen drei Fällen wird das Überleben der Gattung aufs Spiel gesetzt. Aus Ekel vor dem Leben auf Erden. Superreiche gefährden das gute Leben von Milliarden, ein Präsidentschaftskandidat und ein Silicon-Valley-Wahnsinniger gefährden das Überleben der Gattung, die sie mit Atomwaffen und einem illusionären ewigen Leben auslöschen wollen.

Vor diesem Wahnsinn, vor diesem Bösen, das in alle Welt posaunt wird, warnt kein Seelenkundiger. Sind es doch die von allen anerkannten Merkmale der siegreichen Moderne.

Was ist eine ganze Armada von Amokläufern gegen die ungeheuer mächtigen und reichen Superidole der Menschheit? Muss nicht jeder Karrierist ein grandioses Ich entwickeln? Nicht jeder Astronaut die Sterne vom Himmel holen? Nicht jeder Tellerwäscher seinen Traum verwirklichen, für den das Super-Motto gilt, das die drei anderen zusammenfasst:

Der Himmel ist nicht die Grenze, er ist nur der Anfang. Also fliegt los.“ Predigte in Ekstase ein Harvard-Absolvent.

Narzisstische Persönlichkeitsspaltung? Gottähnliche Grandiosität? Ein planetarisches Herostratentum, das die Existenz der Erde gefährdet, um den eigenen Wahnsinn in eine Apokalypse zu verwandeln?

Wer warnt von dem Bösen, das die Moderne in technische Heilsmotivationen umwandelt? Was sind belanglose Amokläufer gegen menschheitsgefährdende Wirrköpfe, die nicht vor totalitären Beglückungsmethoden zurückschrecken, um ihre privaten Albträume in einem realen Armageddon kulminieren zu lassen? Was sind Nadelstiche kleiner Verbrecher gegen globale Despotien, die sich die Wissenschaften einverleiben, um ihre religiösen Illusionen in eine katastrophale Weltpolitik zu verwandeln?

Betrachten wir des Pastor Gaucks Trauerrede – gegen einen jungen Mann, der nicht wusste, was er tat, als er wahllos um sich schoss: (Süddeutsche.de)

„Sie werden uns nicht zwingen, zu hassen.“

Unternahm Gauck den geringsten Versuch, den Täter zu verstehen? Hass liegt vor, wenn man einen Menschen als Monstrum betrachtet, das niemand verstehen kann. Oder wenn man Verstehen als Verzeihen denunziert, anstatt als Versuch politischer Prophylaxe. Vielleicht sogar als Hinweise für eine vorbeugende Pädagogik?

Nahm Gauck nicht den Hass jener Medien und Psychologen wahr, deren Charakterdeutungen nur einen Sinn hatten: den Täter zu dämonisieren, ihn mit Nichtverstehen zu bestrafen und für immer aus dem Bereich des Menschlichen zu entfernen?

Die Arier des Dritten Reiches hielten sich für unschlagbar gesund und allen anderen Rassen überlegen. Die Nachfahren der Arier halten sich für seelisch ungefährdet. Kein Böses kann sie anstecken. Warum nur müssen sie hektisch wiederholen, dass der Hass der Täter sie nicht infizieren kann?

„In Momenten wie diesen stehen wir fassungslos vor den Abgründen der menschlichen Existenz. Wir erschrecken erneut davor, was Menschen Menschen antun können. Nicht nur in irgendeiner Ferne, sondern hier, in unserer gewohnten Umgebung, so verstörend nah und deshalb so extrem erschreckend. Taten wie diese lassen uns erstarren, sie führen uns an die Grenze dessen, was wir ertragen können.“

Das ist pastoraler Schwulst des kaum Erträglichen. Gab es vor dem Attentat nie grässliche Verbrechen? Was würde Gauck in Auschwitz von sich geben? Wer Menschen verstehen will, den macht nichts fassungslos, was von Menschen kommt. Menschen sind Menschen ähnlicher, als Apologeten der grenzenlosen Konsumgesellschaft glauben. Nur Kinder und Narren genießen das Privileg, in menschlichen Dingen fassungslos zu werden. Menschen des 21. Jahrhunderts sollten allmählich wissen, wozu Menschen fähig sind. Nichts Menschliches ist mir fremd, sagten Weise früherer Zeiten. Abgründe der Täter sind Abgründe der Normalen, die das Glück hatten, von ihren Abgründen verschont zu werden.

Gibt es unmenschlichere Richter als jene, die sich in ihre Angeklagten nicht einfühlen können und sich über deren Verkommenheit erhaben fühlen, weil sie selbst in privilegierten Verhältnissen aufwuchsen?

Unsere „gewohnte Umgebung“ soll bislang eine Idylle gewesen sein? Warum hat das niemand bemerkt und allen mitgeteilt? Der gewöhnliche kapitalistische Vernichtungswettbewerb, der unendliche Opfer in der Welt fordert, soll das Land Arkadien gewesen sein?

Niemand will es hören: auch Täter sind nur Opfer. Warum sollten sie zu Tätern werden, wenn sie nicht selbst zu Opfern malträtiert wurden? Nur Opfer produzieren Opfer, Herr Pastor. Haben Sie vergessen, dass ihr Heiland schon von normalen Menschen behauptete, sie wüssten nicht, was sie tun? Sie aber charakterisieren den Täter, als hätte er rationale Absichten gehabt, die er mit teuflischen Methoden verwirklichen wollte. Davon kann keine Rede sein. Der Täter „wollte“ nichts, aber auch gar nichts, von uns, seinen Feinden, von denen er sich verraten und verkauft fühlte. Er wollte nur seine unerträglichen Hassgefühle zur Explosion bringen. Alle andere war ihm gleich.

Er soll sich in guten Händen befunden haben? In therapeutischer Betreuung? Gerade dies könnte sein malades Ich so weit gestärkt haben, dass er sich traute, den fürchterlichen Rachefeldzug zu planen und durchzuführen. In Therapien, Herr Pastor, gibt es Fortschritte, die gefährlich werden können. Wer mit suizidalen Gedanken nur kokettierte, fühlt sich plötzlich stark genug, sie in Wirklichkeit zu verwandeln. Keine Therapie ist eine Wunderheilung, kein therapeutischer Fortschritt ist linear und irreversibel. In wenigen Monaten kann man die Defekte einer fürchterlichen Jugendphase nicht ausgleichen. Das können Sie nicht wissen, Herr Gauck, doch Sie hätten sich informieren können. Unkenntnis schützt nicht vor fehlender Empathie.

„Wer auch immer glaubt, seine Person oder sein Dasein gewinne an Bedeutung, wenn er möglichst vielen selbstherrlich und willkürlich das Leben nimmt, soll wissen: In diesen Abgrund des Denkens werden wir ihm nicht folgen.“

Wovon fühlen Sie sich bedroht, wenn Sie solch psychologischen Unsinn im Modus des Abscheus und der Abwehr sagen müssen? Sie glauben an einen Gott, der selbstherrlich und willkürlich das Leben seiner Geschöpfe nimmt und seine Frommen auffordert, in heiligen Kriegen und in seinem Namen dasselbe zu tun? Dort soll es gestattet und ein Akt des Gehorsams gegen den Himmel sein, hier aber ein Akt des Teufels? Wenn zwei das Gleiche tun, so ist es nicht dasselbe. Der Antichrist ähnelt dem Christus zum Verwechseln. Selbstherrlich und willkürlich vernichtet die christliche Moderne Natur und Menschen. Wo bleibt da Ihr Protest? Außer einigen Peanuts scheinen Sie den Westen als Hort der Freiheit und der politischen Vollendung zu begreifen.

„Worüber wir aber erneut nachdenken müssen, das sind die Ursachen, die Menschen wie den Täter von München zu derart mörderischen Taten treiben. Da stoßen wir auf junge Männer mit labilen Charakteren, die sich von ihrem Umfeld gedemütigt, ausgegrenzt, nicht angenommen sehen.“

Jetzt kommen Sie den Dingen näher – in Worten. Aber nicht in Taten. Außer leeren Formeln ist nichts von Ihnen zu hören. Wie der folgende Absatz deutlich verrät.

„Oft sitzen sie vor dem Computer auf der Suche nach Vorbildern, die sich an diesem Umfeld mitleidlos rächen und in der medialen Berichterstattung dann zu trauriger Berühmtheit gelangen. Das ist eine Realität, die Angst macht. Wieder stellt sich die Frage der Verantwortung, die für Betroffene, für Freunde und Familie, für Ärzte, ja, für die ganze Gesellschaft erwächst.“

Pathetische Fragen, keine Antworten. Auch Sie exerzieren das postmoderne Kannitverstan: wir wissen nichts und werden nichts wissen. Fragen sind dazu da, um uns vornehm zu exkulpieren. Doch das ganze Spiel muss im Nirgendwo enden. Denn gäbe es Antworten, müssten Politik und Gesellschaft sich vielleicht ändern. Das muten Sie weder ihrer Kanzlerin noch Ihren braven Untertanen zu, die sich redlich bemühen, das BIP zu steigern. Womit sie genug zu tun haben. Nur keine allzu tiefen Fragen stellen, die Antworten könnten für selbstgefällige und überhebliche Nationen unangenehm ausfallen.

„Allzu schnelle Schlüsse verbieten sich: Weder steckt in jedem, der eine Persönlichkeitsstörung aufweist, ein Straftäter; noch entlässt sie einen Straftäter gleich aus seiner persönlichen Verantwortung. Gewiss ist aber: Diese Menschen planen ihre Tat meist lange und präzise voraus. Es gibt oft Anzeichen für die Entwicklung – wenn man sie denn wahrnehmen will und kann. Die Gesellschaft darf diese Menschen, gerade junge Menschen, nicht allein lassen und dulden, dass sie auf gefährliche Weise zu Randständigen werden.“

Wer soll auf wen aufpassen, wenn alle emotionalen Beziehungen der Gesellschaft zerstört werden? Familien werden zerrüttet, Ehen auseinandergerissen, Kinder wie lästige Plagen traktiert – alles zum Wohle eines flexibeln und mobilen Kapitalismus? Die Gesellschaft wird atomisiert, niemand spricht niemanden an, alle laufen verdrahtet und verpanzert durch die Welt.

Kann es sein, dass Sie in einer eigenen Welt im Schloss Bellevue wohnen und die Realität der Menschen nicht mehr kennen? Täter haben eine instrumentelle Intelligenz, mit der sie ihre Taten planen – dennoch haben sie nicht die geringste Ahnung, was sie aus dem Dunkel ihrer Biografie antreibt.

„Wir können nur noch schwer auseinander halten, ob eine Tat im Namen einer Religion oder einer Ideologie begangen wurde, aus Fanatismus, Nationalismus oder Rassismus. Und doch verlangen wir Menschen nach Sinn und suchen Motive für das Geschehene. Wir betrachten zusammenfallende, nicht unbedingt aber zusammenhängende Ereignisse.“

Verbrechen im Namen einer Religion wollen Sie tatsächlich verstehen? Sie geben nicht mal zu erkennen, dass sie Geistlicher sind, der die Gefahren seiner eigenen Religion kennt. Namen der Religionen werden von Ihnen nicht genannt. Sie deuten nur an, dass niemand sagen kann, Sie hätten nichts angesprochen. Die Abgründe Ihrer Religion übergehen Sie, konkurrierende Religionen nehmen Sie nicht unter die Lupe. Agape deckt alle Fehler zu. Wer die fremde Religion schützt, will im Grunde die eigene schützen. Schließlich wollen Sie nicht als christlicher Polemiker und Dogmatiker erscheinen. Sie halten sich raus.

„Auf diese Differenzierung – so schwer sie uns manchmal fällt und so viel sie uns abverlangt – müssen wir uns einlassen und somit auch die eigene Ratlosigkeit eingestehen. Denn wir stoßen auf Abgründe von Sinnlosigkeit und Destruktivität. Wenn so etwas geschieht, ist sowohl unser Bild vom Menschen als auch unsere Vorstellung einer göttlichen Ordnung gefährdet, für manche total in Frage gestellt. Falls Amokläufer und Attentäter etwas gemeinsam haben, dann wohl allein die Absicht, uns das Gefühl von Sicherheit und Normalität zu rauben.“

Jetzt kommen die wahren Plattitüden Ihrer seichten Trauerrede: Sie zeigen Ihre Ratlosigkeit, damit keine Nachfragen gestellt werden. Wer ratlos ist, wird nicht weiter belästigt. Im Gegenteil: er erhält die Trophäe des „Ehrlichen“.

Welch existentielles Gefährdungsgeschwurbel: die göttliche Ordnung sehen Sie gefährdet. Lesen Sie mal wieder Ihre Bibel und Sie werden viel von göttlicher Ordnung durch Auslöschen der Gottlosen und Heiden erfahren. Aber das wissen Sie selbst am besten. Gelegentlich sollte man ein wenig mit Demut und angedeuteten Selbstzweifeln kokettieren. Böse Menschen würden von geistlichem Populismus sprechen.

„Aber all denen, die aus unserer Heimat Orte der Furcht und des Schreckens machen wollen, den Attentätern und Amokläufern wie den Terroristen, werden wir eines nicht geben: unsere Unterwerfung. Sie werden uns nicht zwingen zu hassen, wie sie hassen. Sie werden uns nicht in der Gefangenschaft immerwährender Furcht halten. Wir werden bleiben, was wir sind: eine mitmenschliche, solidarische Gesellschaft. Und eine Gesellschaft, die sich Gefahren stellt.“

Das ist der absolute Höhepunkt Ihrer Heuchelrede: „Wir werden bleiben, was wir sind: eine mitmenschliche, solidarische Gesellschaft.“

Das gleiche sagte Ihre fromme Kanzlerin. Also muss es stimmen. Eine der reichsten und erbarmungslosesten neoliberalen Nationen ohne mit der Wimper zu zucken eine mitmenschliche, solidarische Gesellschaft zu nennen, dazu gehört eine bigotte Sklerotisierung der besonderen Art.

„Liebe Angehörige, es wird dauern, bis Ihr Leben wieder Richtung und Sinn findet. Auch wenn wir Ihnen diesen Weg nicht abnehmen können, so wollen wir Sie begleiten, Ihnen Trost spenden, an Ihrer Seite sein. In aller Trauer und allem Mitgefühl bitte ich alle Familien der Getöteten: Erlauben Sie uns diese Gemeinschaft. Lassen Sie uns füreinander da sein – als Gemeinschaft, die den Toten Raum gibt in der Erinnerung und den Lebenden Frieden.“

In der Not stehen wir zusammen, niemand kann uns trennen – für drei Tage. Ist die Not vorüber, gilt wieder das Gesetz: jeder gegen jeden. Nach Ihrer Logik müsste die Gesellschaft den Tätern sogar dankbar sein. Die Not, die sie verursachten, schweißt die Gesellschaft zusammen. Kritische oder gar revolutionäre Bewegungen werden durch Notsituationen vorbeugend unterlaufen. Solidarität per Not ist der trügerische Schein des Zusammenhalts in wenigen Augenblicken des Lebens.

Herr Gauck, auch mit Trauerreden kann man lügen – wenn man unter dem Vorzeichen der Betroffenheit und Empathie die klaffenden Mängel der Gesellschaft verdeckt, die Täter nicht-verstehend dämonisiert, die Trauernden mit törichten Reden tröstet und eine menschenfeindliche Ausbeutergesellschaft als Idylle der Nächstenliebe vor-gaukelt.

Dies war eine Herausforderung zu einem öffentlichen Streitgespräch.

 

Fortsetzung folgt.