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Europäische Idee LXXXVIII

Hello, Freunde der europäischen Idee LXXXVIII,

„Ich glaube, dass wir in einem Kampf oder meinetwegen auch in einem Krieg sind“, erklärte die Kanzlerin der Republik. (ZEIT.de)

Krieg? Gegen wen? Wer erklärte uns den Krieg? Wer hat ihn begonnen? Wer ist schuld am Krieg? Ist es ein Angriffs- oder ein Verteidigungskrieg? Ein gerechter oder ungerechter – wenn es gerechte überhaupt gibt? Wurde die Bevölkerung befragt, ob sie Krieg führen will? Wurde sie übergangen, weil das Volk in Schicksalsfragen nicht kompetent ist und kurzerhand entmündigt wurde?

Kann man hierzulande den Krieg in einem beiläufigen Nebensatz erwähnen? Warum gab es kein Getümmel auf den Straßen, als die Kanzlerin den Kriegszustand bekannt gab? Stell dir vor, es gibt Krieg und niemand interessiert sich für ihn, niemand erhebt Anklage, niemand verlangt Rechenschaft?

’s ist Krieg! ’s ist Krieg!
O Gottes Engel wehre,
Und rede Du darein!
’s ist leider Krieg –
und wir begehren
Nicht schuld daran zu sein
!

Doch Gottes Engel in Berlin wehrt nicht und redet nicht darein. SIE verteidigt den Krieg und hält ihn für gerechtfertigt. Und niemand begehrt, nicht schuld daran zu sein. Denn: wir sind immer unschuldig. Schuld? Kennen wir nicht.

Deutsche sind Macher, schrieb ein Mercedes-Fahrer mit lustigem Schnauzbart, stolz, ein deutscher Vorzeige-Macher zu sein. Wer macht, hat keine Zeit für Schuld. Wer macht, ist immer unschuldig. Machen ist das Gegenteil von Schuld- und Schuldenmachen. Das Volk der Denker und Dichter mutierte zum Volk der Macher und Hersteller. Nicht mehr nachdenken – tun! Nicht mehr überlegen – schaffen, erzeugen, herstellen – und die Welt mit Erzeugnissen überfluten. Ein wenig lügen

und betrügen – gehört zum Machen dazu.

Reiben wir uns die Augen. Geht es wirklich um Krieg? Sprach die sanftmütige Kanzlerin tatsächlich das Wort aus, als erwähne sie eine Bagatelle?

Aber nein, sie erfand eine neue Kategorie: den Meinetwegen-Krieg. Das ist kein echter Krieg, sondern einer, der von meinem, unserem, eurem, ihrem Belieben abhängig ist. Wenn ihr unbedingt wollt, wenn ihr Wert darauf legt, wenn‘s euch in den Kram passt: nennt ihn Krieg. Ist mir gleichgültig. Begriffe sind Schall und Rauch.

Begriffe besetzen wir nach Belieben, deuten die Sprache, wie es uns gefällt. Ein Meinetwegen-Krieg muss nicht erklärt werden. Er geschieht. Niemand weiß warum. Irgendwie schlich er sich durch die Hintertür, wir wollten ihn nicht wahrhaben. Plötzlich tritt er uns ans Schienbein und nichts geschieht. Wie konnte dies passieren?

Es liegt daran, dass er meisterhaft „kommuniziert“ wird. Etwas kommunizieren heißt das Gegenteil von kommunizieren, das einst „sich verständigen“ hieß. Es heißt, etwas verkaufen, jemanden etwas so andrehen, dass er das Gefühl hat, er hätte ein gutes Geschäft gemacht. Die beliebten Kommunikationswissenschaften sind eine Mischung aus Überredungskünsten und Erkenntnissen der Werbepsychologie – das uralte Übertölpeln mit ausgefeilten Methoden der Gegenwart.

Wie wurde der Krieg von der deutschen Kommunikationsmeisterin verkauft? Mit – Ruhe. Alles ist erlaubt, wenn es in Ruhe geschieht. In Gelassenheit. Ohne viel Worte.

Der Alleinherrscher des Vatikans besuchte Auschwitz und sagte kein einziges Wort. Wie wohltuend in Zeiten überbordender Kommunikation, besonders, wenn man nichts zu sagen hat.

Darf Europa vor die Hunde gehen? Darf es sich vor den Karren eines Faschisten spannen lassen? Darf Berlin Flüchtlingsdeals mit einem Despoten ausmachen, der syrische Kinder IS-Uniformen anfertigen lässt?

„In türkischen Ausbeuterbetrieben nähen syrische Kinder, um zu überleben. Die Kinder haben sehr erschreckende Erlebnisse hinter sich. Sie flohen vor dem Bürgerkrieg und der Terrorgruppe IS, die in ihrer Heimat wüten. Jetzt arbeiten einige dieser syrischen Kinder in Fabriken auch an der Herstellung von Uniformen in der Türkei, angeblich auch für die IS-Terrorgruppe.“ (Netzfrauen.org)

Die Kanzlerin darf alles – wenn sie ruhig und gelassen bleibt. Ruhe ist wieder die erste Bürgerpflicht in Deutschland. Wenn die Regierung Ruhe verbreitet, kann es in der Welt nicht schlimm zugehen. Obrigkeiten sind dazu da, ihre Untertanen in stille Duldsamkeit und arbeitsame Stummheit zu versetzen. Sei ruhig, bleibe ruhig, mein Kind, in hysterischen Blättern säuselt der Wind. Auch wenn das fremde Kind am Ende tot ist – sollen wir uns das wohlige Gefühl des Davon-gekommen-seins nehmen lassen?

Dem Vater grauset’s; er reitet geschwind,
Er hält in Armen das ächzende Kind,
Erreicht den Hof mit Mühe und Not;
In seinen Armen das Kind war tot.

Ob ein ganzes Land sich von einem Despoten abhängig machen darf, dem Berlin Millionen Flüchtlinge gegen Mammon anvertraut: diese Frage muss bejaht werden, solange die Kanzlerin ihre trostlose Geistesabwesenheit als Ruhe „kommuniziert“. Stefan Kornelius ist in der SZ auf seine Kanzlerin mächtig stolz:

„Merkel bleibt trotz der Anschläge im eigenen Land und der Lage in der Türkei ruhig“.

Deutsche sind bekennende Lutheraner. Luther war bekennender Augustiner. Augustin war bekennender Ruhe-sucher in Gott:

„Unruhig ist unser Herz, bis es Ruhe findet in dir, o Gott“.

Die vornehmste Pflicht der Regierung ist die Herstellung von Ruhe. Besonders in Zeiten der Angst. Der Gott in der Verfassung hat die verdammte Pflicht, seine regierenden Knechte und Mägde Ruhe im verwirrten Volk verbreiten zu lassen.

„Nehmet auf euch mein Joch und lernet von mir; denn ich bin sanftmütig und von Herzen demütig; so werdet ihr Ruhe finden für eure Seelen.“

Politik ist zur Religion geworden. Die Trennung von Kirche und Staat wird zur endgültigen Farce. Seelentröstung und die Botschaft von der Unlösbarkeit aller Probleme sind zur Staatsraison – pardon, nicht Raison –, sondern zum Staatscredo geworden. Zuerst die vorgeschriebene Unlösbarkeit, dann der Trost von Oben, um die Ängste der Ausweglosigkeit hinweg zu beten. In existentiellen Situationen begehren die aufgeklärten Deutschen den ultimativen Seelenbalsam, das Manna vom Himmel.

Wo wurde das am sichtbarsten? Als ein geistliches Quartett – bestehend aus einem katholischen Kardinal, einem protestantischen Bischof und ihren zwei leitenden Angestellten: dem Pastor Gauck und der Pastorentochter Merkel – die staatlichen Trauerfeierlichkeiten in Bayern mit illusionären Worten und heiligen Ritualen absolvierte, die nur von Frommen delektiert werden konnten. Kommt Not übers Land, weht der Wind Gottes über Gläubige und Ungläubige, Muslime und Christen.

Staatliche Trauerfeiern sind „ökumenische Gottesdienste“. Oikumene ist die ganze bewohnte Erde, womit deutlich wird, dass Christen die Herrschaft über den Erdball für sich beanspruchen. Gehet hin in alle Welt und predigt das Evangelium allen, die erschaffen sind. Wer gläubig wird, wird gerettet werden, wer gottlos bleibt, wird verdammt werden.

Ökumenische Gottesdienste sind globalisierte Machtdemonstrationen, wie die wirtschaftliche Globalisierung des Westens nichts anderes ist als die missionarische Eroberung der Welt mit ökumenischer Ökonomie. Ein Trugschluss, dass die freie Weltwirtschaft den Völkern der Welt gleichen Wohlstand bringen sollte. Sie sollte die Überlegenheit der erwählten Völker demonstrieren.

In Europa nicht anders. Die neoliberale Wirtschaftsordnung ist das Gegenteil der beschworenen Solidarität. Gnadenlose Konkurrenz soll die Starken von den Schwachen trennen. „Die globalisierte Zusammenarbeit wird durch Handelskriege erschwert werden und die Weltwirtschaft in Blöcke zerbrechen, die sich um Auseinandersetzungen um regionale Führungspositionen aufreiben“. (John Gray, Die Falsche Verheissung)

Wer hat den Krieg begonnen? Der Westen unter Federführung Amerikas. Gegen wen wurde gekämpft? Gegen islamische Staaten, die man als Reiche des Bösen diffamierte – und denen nebenbei die reichsten Ölreserven der Welt gehörten.

„Wir befinden uns in keinem Krieg oder Kampf gegen den Islam“, log Merkel das Blaue vom Himmel. Amerika will seine Lebensart der ganzen Welt überstülpen – und wenn die Welt sich nicht freiwillig ergibt, stehen genügend Flugzeugträger und Drohnen als zwingende Argumente zur Verfügung.

Merkel kritisierte einst als Oppositionsführerin scharf die Absage Schröders an den imperialen Krieg Dabbeljus gegen die Iraker. Aber auch Schröder dachte keine Sekunde an eine neue Weltwirtschaftsordnung, in der die unterentwickelten Staaten den Vorsprung des Westens aufholen könnten.

Der IS – die ehemalige Militärelite Saddams – wäre nicht entstanden, wenn die Amerikaner keinen Krieg unter erlogenen Legitimationen durchgeführt und jene Führungsschicht brotlos gemacht hätten. Wir befinden uns in einem Krieg, den der Westen unbotmäßigen Ländern des nahen Ostens aufzwang.

Ist es ein Krieg gegen den Islam? Nicht, wenn die muslimischen Länder sich dem Regiment des Westens beugen. Doch wenn sie selbstbewusst und trotzig werden, ihre humanen Qualitäten verleugnen und zur totalitären Wortbedeutung des Korans regredieren, müssen sie vom Westen mit Feuer und Schwert eines Besseren belehrt werden.

Die Mehrheiten der drei Erlöserreligionen haben die totalitäre Urbotschaft ihrer heiligen Schriften längst überwunden. Dank der mächtigen Wirkung der altgriechischen Aufklärung, die von Bagdad bis in die germanischen Urwälder vordrang.

Doch nun kommt die Crux. Immer, wenn Krisen und Nöte übers Land kommen, erweist sich, dass die erlernte Humanität der Frommen, die sich vom Text der Schriften entfernt hatte, nicht stark genug ist, um ihre existentiellen Sorgen zu meistern. Sie flüchten zurück an die Ursprungsquellen ihres frühkindlichen Trostes, an die Originaltexte ihres Glaubens, der ihnen ewige Seligkeit, ihren Feinden ewige Unseligkeit verhieß.

Die mühsam erlernte Menschlichkeit spaltet sich in den ursprünglichen Dualismus: wir sind die Guten und Auserwählten, die anderen die Verworfenen und Verfluchten.

Diesen Vorgang erleben wir gegenwärtig bei den terroristischen Minderheiten. Während die Mehrheiten sich trotz vielen Schwankens an die Ufer der Menschlichkeit retten können, sinken die Schwächsten und Labilsten unter ihnen auf den Urboden der primären Schwarz-Weiß-Teilung der Welt. Der totalitäre Text der Urschriften wird ihnen zur unfehlbaren Botschaft ihrer Feindschaft gegen die Welt, besonders der westlichen Imperialisten, die sie ausbeuten, betrügen und demütigen.

Die Mehrheiten lösen sich vom totalitären Sinn ihrer heiligen Schriften, aber – und das ist die Malaise: sie lösen sich nicht vom Bekenntnis zu diesen Texten als unfehlbaren Offenbarungen Jahwes, Gottes oder Allahs. So legitimieren sie ungewollt die Regredierten, die sich in trotziger Rigidität auf den schrecklichen Text der Urschriften berufen, von dem sie sich durch humane Deutungen längst entfernt hatten.

Man kann einen Text nicht kritisieren und ihn gleichzeitig als göttlich-unfehlbaren anbeten. Kritik und Nichtkritik schließen sich aus und lassen sich nicht in einem Akt versöhnen. Es ist ein gefährlicher Wahn zu sagen: zwar steht hier der göttliche Befehl, Ungläubige zu malträtieren und zu töten, dennoch sage ich: dieser Sinn des Textes gilt heute nicht mehr. In früheren Zeiten hatte er kanonische Geltung, doch heute leben wir in veränderten Zeiten.

Wie die Moderne sich anmaßt, Herr über die Natur zu sein, sie als Reich des Teufels zu deuten und zu zerstören, so maßen sich die Frommen an, Texte willkürlich zu deuten. Sie fühlen sich als gottgleiche Herren der Texte. Diese impertinente Grandiosität vor der wunderbaren Logik und Konstanz der Sprache führt zur generellen Verachtung jeglicher Logik und menschlicher Denkgesetze. Was würden Juristen sagen, wenn man Gesetzestexte „deuten“ würde nach Art hermeneutischer Willkür bei heiligen Texten?

Der eindeutige Buchstabe ist die exzellente Erfindung des homo sapiens. Wer ihn verhöhnt mit illusionären Wunschdeutungen, ist ein Destruktor aller menschlichen Rationalität.

Solange die Gläubigen nicht lernen, Kritik Kritik sein zu lassen, und sich von inhumanen Texten zu verabschieden, solange werden Verwirrte und Labile an den Ort ihrer kindlichen Sicherheit zurückkehren. Und das war die Botschaft von einem Gott, der die Seinen rettet und die Anderen bestraft.

Sind Terroristen kranke Menschen? Wenn die Fähigkeit, mit Menschen in gleichberechtigtem Wohlwollen zu leben, seelische Gesundheit bedeutet, muss jedes abweichende Verhalten Krankheit sein. Jede seelische Krankheit ist ein Zeichen der Diskrepanz zwischen Ich und Welt. Wer sich anerkannt und geliebt fühlt, kann keine Hassgefühle entwickeln.

Seelische Krankheiten sind Eiterbeulen einer kranken Gesellschaft, die ihre Defizite an die Schwächsten weitergibt – und das sind die Kinder, die den Drangsalierungen ihrer Eltern und Umgebungen ausgeliefert sind. Keine Familie ist ein omnipotentes Bollwerk gegen eine übermächtige Gesellschaft.

Es gibt zwei Erklärungsmuster einer selbstgefälligen Gesellschaft. Täter sind entweder krank oder böse. In beiden Fällen will die Gesellschaft schuldlos sein. Kranksein habe nichts mit der Gesellschaft zu tun, sondern nur mit dem Einzelnen. Böse sein müsse ein metaphysischer Akt sein, der sich rationalem Verstehen entzöge.

Wären die Täter krank, könnten sie sich für schuldlos erklären – das aber darf nicht sein. Hinter objektiven Kräften, die sie als Krankheiten bezeichnen, dürfen sie sich nicht verstecken. Also muss ihre Tat unerklärbar bleiben. Das Unerklärbare aber ist das Böse.

Einspruch: keine böse Tat geschieht freiwillig. Der freie Wille ist ein Lernakt der Gesunden, die sich ihrer Gestaltungsmöglichkeiten sicher sein können. Nur Gesunde können wählen, ob sie tanzen, hüpfen oder meditieren wollen. Kranke sind Gefangene ihrer Determiniertheit.

Gesetze, welche kriminelle Akte als gewollte und frei gewählte definieren, sind Produkte des Rachebedürfnisses einer Gesellschaft, die sich von Verbrechen übermäßig bedroht fühlt und nicht imstande ist, rationale Spurensuchen durchzuführen. Analysieren und Verstehen verbrecherischer Taten dienen der Prophylaxe gegen zukünftige Verbrechen. Was ich verstanden habe, kann ich bekämpfen. Das Unverstandene bleibt ewig unbesiegt.

Ist die Gesellschaft durch terroristische Akte unsicherer und gefährlicher geworden als sie in der Vergangenheit war? Davon kann keine Rede sein. Es ist die plötzlich hereinbrechende, unvorbereitete Kränkung einer Gesellschaft durch kriminelle Akte einer verachteten Minderheit, die zu Hassausbrüchen gegen die Terroristen führte.

Ist unser Leben wirklich so unsicher wie noch nie? Oder drehen wir gerade durch? Statistisch betrachtet ist die Lage eindeutig. Die Zahl der Morde ist seit Jahren rückläufig, und auch die Terrorgefahr war in den 70er- und 80er-Jahren deutlich größer. So starben seit 1970 in Westeuropa 6400 Zivilisten durch Terroranschläge, allerdings nur rund 1000 von ihnen seit 1993. Zum Vergleich: 9000 Menschen verunglücken jedes Jahr allein in Deutschland tödlich im eigenen Haushalt. Er ist – statistisch gesehen – der gefährlichste Ort. Wissenschaftler haben errechnet: Die Wahrscheinlichkeit, Opfer eines Terroranschlags zu werden, liegt statistisch bei eins zu 27 Millionen. Zur Einordnung: Die Gefahr, vom Blitz getroffen zu werden, ist mit eins zu sechs Millionen mehr als viermal so groß. Der Mainzer Kommunikationswissenschaftler Hans Mathias Kepplinger: „Betrachtet man alle unnatürlichen Todesursachen zusammen, gilt: Das Leben in Deutschland war noch nie so sicher wie jetzt. Es erscheint uns nur unsicherer.“ (BILD.de)

Welche Gesellschafts-Elemente haben ein Interesse, die Bedrohungen der Nation drastischer darzustellen als sie sind? Jene, die sich davon einen Zuwachs ihrer Macht versprechen. Medien erhoffen sich eine erhöhte Leserquote. Exekutive Politiker versprechen sich schärfere Gesetze und mehr Polizisten. Die Klerikalen endlich sehen sich als Tröstungsspezialisten im Zentrum der Macht. Politiker fühlen sich außerstande, die rationalen Ursachen der Krise aufzudecken – oder leugnen dieselben, weil sie als Gläubige den Kirchen das Privileg des Tröstens reservieren wollen.

Und wie lautet der Trost der Kirchen? Das Böse ist unerklärbar, der Wille Gottes unergründlich. Wir stehen vor ewigen Rätseln. Immer dieselben Fragen, immer die gleiche Antwort, dass es keine einfachen Antworten gibt. Begründete Hoffnung auf Besserung ist ausgeschlossen. Die sündige Gesellschaft ist unfähig, ihr Los auf Erden zu korrigieren. Was sagte Kardinal Marx?

„Er sagte, die Türme der Frauenkirche gehören nicht nur den Christen, sondern allen Menschen. Deshalb sei hier der richtige Ort für die Trauerfeier und die Anteilnahme. Amokläufer wollten Misstrauen säen, um die Atmosphäre zu vergiften. Die Reaktion dürfe nicht Ohnmacht sein. Die Klage aber sei wichtig. Sie verwandle sich in Hoffnung.“ (BR.de)

Verstiegener geht es nicht. Die Türme der Frauenkirche gehörten allen Menschen? Dann müsste die römische Kirche eine kommunistische Gesellschaft sein, die jeglichen Privatbesitz ablehnt. Was hat Besitz mit Trauern zu tun? Dann die obligate Hassorgie gegen die Amokläufer, die Misstrauen säen wollten, um die Atmosphäre zu vergiften.

Wenn wir uns in einem Krieg befinden, wollen beide Seiten die andere schädigen und zerstören. Die katholische Lehre definiert den gerechten Krieg als legitimes Zurückschlagen gegen Angreifer. Wer aber hat den „Krieg der Kulturen“ begonnen?

Das war der Westen. Gegenüber den vereinten Militärkräften des Westens sind die Kohorten der IS ein armseliges Häufchen. Wer ist hier infam und will mit „asymmetrischer“ List und Tücke den Westen demolieren? Wenn der Westen Angreifer ist, der seit Jahrhunderten die Welt mit Kriegen und Raubzügen überzieht, dann führt der IS einen gerechten Verteidigungskrieg und nicht der Westen. Militärisch steht er auf verlorenem Posten. Seine muslimischen Glaubensgeschwister verlassen ihn in zunehmendem Maße. Er ist zum Untergang verurteilt.

Die Klage sei wichtig, sie verwandle sich in Hoffnung? Durch welche Erkenntnisse und politischen Maßnahmen? Den Begriff Politik nehmen die Kleriker erst gar nicht in den Mund. Er wäre eine Beleidigung der göttlichen Intervention.

Mitten in einem staatlichen Akt wird religiöser Glaube zur conditio sine qua non politischen Weiterlebens und Durchmogelns. Demokratie lebt nicht aus sich selbst. Sie muss in Gottes Gnade gründen. Merkel muss die deutsche Gesellschaft nicht in eine Theokratie verwandeln. Sie ist längst zu einer geworden.

Kann es Trauer und Trost als Lügengebilde geben? Wenn sie als Illusionen dargeboten werden, die keine Chance auf Realisierung haben. Das Christentum besiegte die Welt als Verheißung des Trostes und des Heils. Doch das Heil wurde zu jener Krankheit, die es heilen wollte. Der Arzt wurde zum Täter, der seinen Patienten in sein Daueropfer verwandelte.

Wer sich in seiner privaten Nische mit lügnerischen Illusionen tröstet, muss nur vor sich selbst und seinen Lieben Rechenschaft ablegen. Wer aber Religion als staatliches Trauer- und Trostritual verordnet, der macht sich schuldig an der Autonomie der Demokraten. Trauerfeiern werden zu Heuchel-Orgien einer theokratisch verseuchten Volksherrschaft. Religion muss Privatsache bleiben. In Deutschland avancierten die Priester zu Schamanen magischer Zauberkünste, welche die gewählten Politiker zu Lakaien ihrer geistlichen Oberherrschaft abgerichtet haben.

Eine Gesellschaft, die sich für friedlich hielt, ist unbemerkt in einen Krieg geschliddert. Wovor haben Deutsche ständig Angst? Warum übertreiben sie maßlos die Gefahren von Attentaten und Amokläufen, die statistisch kaum erfassbar sind?

Weil sie einst zwei Kriege begannen und noch immer das Erlebnis grenzenloser Mordtaten und Verwüstungen in sich spüren. Sie haben Angst vor sich selbst, weil sie ahnen, ihre Vergangenheit könnten sie weder verstanden noch durchgearbeitet haben.

In der Friedensepoche ihres Wohlstands verherrlichten sie das ästhetische Böse in der Literatur, auf der Bühne und in allen Künsten. Das Gute des realen Friedens hatte sie gelangweilt. Nun erhielten sie, wovon sie träumten: das Böse als Import des Fremden steht vor ihrem gepflegten Rasen und zertrümmert ihre Eingangspforte.

Das Fremde aber ist nur das Eigene, das unter Fassaden des Wohlstands vergraben war. Das fremde Böse zeigt uns den Schatten unseres schwankenden Selbst, das wir im Gefühl unserer Tüchtigkeit und unseres wirtschaftlichen Erfolgs nicht zur Kenntnis nehmen wollten.

Was fehlt? Die Analyse der Gauck‘schen Trostrede.

 

Fortsetzung folgt.