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Europäische Idee LXXXV

Hello, Freunde der europäischen Idee LXXXV,

„es bleibt die quälende Frage: warum?“ Das ist der obligatorische letzte Satz fast jedes TV-Berichts über Massenverbrechen. Wer sich anheischig machte, das Unerklärliche zu erklären, zöge leicht den Sturm der Gesellschaft auf sich, wenn er es wagte, die vorgeprägten Schuldzuschreibungsmuster – man könnte auch von Vorurteilen sprechen – blasphemisch zu ignorieren.

In Erlösungsreligionen ist jede Schuld des Menschen mit göttlicher Wucht in Heiligen Schriften niedergelegt und in den Seelen der Gläubigen eingebrannt. Wer diese unverrückbaren Schuldmuster verletzt, macht sich selbst schuldig und muss von heiligen Instanzen bestraft werden. Kein Gott, der auf sich hält, überlässt Schuld und Strafe den Befugnissen seiner Geschöpfe, die allesamt im Zustand der Dauerschuld verblieben – wenn Gott sich nicht entschlösse, zum Erlöser seiner Kreaturen zu werden.

Erlösung bedeutet Ent-schuldung weniger Erwählter, belohnt mit ewiger Seligkeit, und endgültige Sanktionierung der Schuldigen, bestraft mit ewiger Höllenpein für die Massen der Verfluchten. Entschuldung der Wenigen bedeutet keine absolute Schuldlosigkeit. Auch die Erlösten sind nicht fleckenlos rein, doch ihre Schuld wird ihnen nicht mehr angerechnet. Tritt Gott selbst für sie ein, um sie vor dem eigenen Strafbedürfnis zu schützen, wird die Schuld der Frommen für nichtexistent erklärt. Sie werden mit Gott II, dem Sohn, „überkleidet“, um ihre besudelten Kleider dem Blickfeld von Gott I, dem Vater, zu entziehen.

Die Gläubigen sind nicht schuldlos-schuldig wie die Helden heidnischer Tragödien, sondern bleiben schuldig-schuldlos. Ihre Schuldlosigkeit muss das Verdienst Gottes bleiben. Gott spricht schuldig, Gott spricht frei, der Name Gottes sei gepriesen. (Nemo contra deum nisi deus ipse – niemand kann es mit Gott aufnehmen, außer Gott selbst. Oder anders: nur ein Gott kann die Bedürfnisse eines Gottes erfüllen. Goethe hat diese Sentenz als Motto in „Dichtung und Wahrheit“

benutzt.)

Als die Macht der Kirchen durch den Ansturm der Aufklärungsbewegungen gebrochen wurde, begann eine neue Epoche der Schuldzuschreibung, deren Irrungen und Wirrungen noch die Gegenwart in Wallung bringen.

Die Aufklärer standen im Banne natürlicher Kausalität, die keine Ausnahme zulässt. Wunder als gesetzverletzende Interventionen eines Gottes kann es nicht geben. Natur ist ein Kosmos wohl geordneter Gesetze. Der Mensch ist Teil des Kosmos und diesen Gesetzen untertan. Kann er frei sei, wenn er Gesetzen gehorchen muss?

Das ist der Konflikt, der bis heute nicht gelöst wurde und für endlose Verwirrungen sorgt. Ist der Mensch natürlichen Gesetzen untertan, muss er ihnen lückenlos folgen. Sein gesamtes Verhalten wäre von Gesetzen determiniert. Einen freien Willen könnte er nicht haben. Hätte er keinen freien Willen, könnte er auch – nicht schuldig werden.

Das gesamte Strafrecht der modernen Gesellschaften wäre ein katastrophaler Unfug, der die Menschen für Taten bestrafte, die von keinem Menschen gewollt, von niemandem zu verantworten wären. Alle juristischen Motivationserklärungen einer vollen oder eingeschränkten Schuldfähigkeit wären nichts als Sadismen strafwütiger oder gottähnlicher Machtinstanzen, die sich anmaßten, etwas zu wissen, was niemand wissen kann: ob der Mensch einen freien Willen besitzt.

Es sind vor allem Naturwissenschaftler, die den Menschen als Teil der Natur betrachten und ihm jedweden freien Willen absprechen. Man könne nicht, argumentieren sie, Darwin zustimmen, der den Menschen in die Reihe der Tiere und Pflanzen eingliederte, um ihn dennoch als besonderes Wesen über alles Natürliche zu erheben. Ist der Mensch ein natürliches Wesen, kann er nur ein nicht festgestelltes Tier sein.

Da seit Descartes alle Tiere als Maschinen gelten, können sie nicht frei sein. Der Mensch ist für den Franzosen halb Tier, halb freies Geistwesen. Sein Körper untersteht Gesetzen der Natur, nur sein Geist ist unabhängig und kann sein minderwertiges Fleisch nach Belieben dirigieren. Die vielen schrecklichen Tier-Experimente der Neuzeit beruhten auf der Überzeugung Descartes, Tiere seien Maschinen und also unfähig, die Folterschmerzen der wissenschaftlichen Untersuchungen zu empfinden.

Inzwischen ist das tierische Maschinen-Paradigma in den Naturwissenschaften gekippt. Tiere und Pflanzen seien zu Gefühlsregungen fähig: davon sind viele Naturexperten der Gegenwart überzeugt.

Wäre die Absage an das Maschinenmodell bei Pflanze und Tier gleichbedeutend mit der Aussage, die Natur habe einen freien Willen? Wäre die vollständige Kausalität des Natürlichen somit für immer aufgehoben?

Heisenbergs Unschärfelehre unterstützt die neue Sicht der nicht völlig festgelegten Struktur alles Natürlichen. Im Bereich der kleinsten Bausteine der Natur gebe es nur Wahrscheinlichkeiten, keine 100%igen Kausalitäten. Hätten wir somit die Einbruchsstelle des freien Willens im Zwangsapparat der Naturgesetze gefunden?

Keineswegs. Zum freien Willen gehört eine Instanz, die einen Willen äußern und den – wenn auch nicht mehr 100%ig gültigen – Naturgesetzen vorschreiben könnte. Eine solche Instanz nennen wir Ich-Instanz oder Identität.

Auch wenn die Tiere keine uniformen Maschinen mehr sind: ist es sinnvoll, ihnen eine Ich-Instanz und somit einen freien Willen zuzugestehen? Erfahrene Tierpfleger sind von der Individualität ihrer einzelnen Tiere überzeugt. Hunde- und Katzenliebhaber werden mit Abscheu die These zurückweisen, ihre vertrauten Haustiere seien empfindungslose und verwechselbare Exemplare derselben Gattung. Wären sie aber bereit, den Tieren dieselben Rechte zuzugestehen wie sich selbst?

Auch wenn das Maschinenmodell der Natur kaum noch theoretische Befürworter findet, verharrt die Praxis der Menschen noch immer bei der Spaltung der Natur in den privilegierten Menschen, das Wesen mit dem freien, überlegenen Geist, – und dem minderwertigen Rest in Fauna und Flora, der zu nichts anderem nützlich sei, als im Dienst der Menschen aufgezehrt zu werden. Die globale Naturpolitik des Menschen fährt unbeirrt in der Zerstörung der Natur fort, als ob der Mensch eine Lizenz vom Himmel erhalten hätte.

Anhänger einer Naturreligion müssen keine Vegetarier oder Veganer sein, um dennoch fähig zu sein, die Natur so schonend zu behandeln, dass sie nicht irreversibel geschädigt wird. Für jeden gefällten Baum, für jedes getötete Tier entschuldigen sie sich bei Mutter Natur – und versuchen, den Schaden gleichwertig zu kompensieren. Tiere und Pflanzen sind für sie Geschwister.

In Erlösungsreligionen hingegen sind sie nützliche Instrumente zur Lebenserhaltung, die nach Belieben ausgerottet werden können. Das Naturverhalten der Erlöser müsste man suizidal nennen, wenn sie nicht felsenfest an die messianische Neugeburt des Kosmos glaubten. Wenn aber – Gott vergib! – dieser Glaube eine Illusion wäre, würde die naturzerstörende Menschheit sich unrettbar ihr eigenes Grab schaufeln.

Grundfragen des Seins oder Nichtseins sind noch immer religiöse Fragen, die eine empirische Überprüfung ihrer Dogmen ablehnen. Wie oft wurde das Ende der Welt angekündigt und nichts geschah? Ein echter Glaube ist gegen Widerlegungen immun. Je unwahrscheinlicher die Erfüllung, um so hartnäckiger die illusionären Verheißungen des Glaubens.

Haben wir den freien Willen des natürlichen Menschen gerettet, wenn wir ihn Tieren und Pflanzen zugestehen? Wäre damit unsere Schuldfähigkeit und ergo unser gesamtes Rechtswesen gerettet?

Doch die Frage nach dem freien Willen kann weder mit naturwissenschaftlichen noch mit mathematischen Methoden entschieden werden. Wir können nur empathische Ahnungen entwickeln und sie zu einem „weltanschaulichen“ Gewebe verbinden. Abstrakte Theorien werden uns nicht weiter führen.

Es bleibt die Praxis, den freien Willen als „Glauben“ zu betrachten, ohne den wir kein menschwürdiges Leben führen können. Würden wir leben, als hätten wir keinen freien Willen, könnten wir auf der Stelle alles Reden, Tun einstellen, uns still auf das Sofa legen und die Imperative des unfreien Willens aus der Tiefe des Seins abwarten.

Doch selbst die hartnäckigsten Leugner des freien Willens leben nicht im Einklang ihrer Erkenntnisse. Ihr Lebensstil unterscheidet sich in nichts von dem ihrer theoretischen Gegner. Was aber ist eine Theorie wert, wenn sie mit unsrem Leben nichts gemein hat?

Freiheit ist keine Sache der reinen theoretischen Vernunft, sondern der praktischen, hatte Kant erklärt. Wir müssen Freiheit postulieren, um dem kategorischen Imperativ zu folgen. Und Fichte ergänzte: was für eine Philosophie man wähle, hinge davon ab, was für ein Mensch man sei.

Welche Schlussfolgerungen für das Leben ziehen heutige Gehirnforscher, die grimmigen Vertreter eines unfreien Willens? Empfehlen sie den Menschen die kontemplative Passivität religiöser Quietisten? Verharren sie unbeweglich auf der Stelle wie weiland die Quäker, bis die Botschaft des Himmels sie in Verzückung versetzt? Suggerieren sie den Demokraten, sie lebten über ihre Verhältnisse, wenn sie sich für das Geschick der Menschen verantwortlich fühlen? Wäre Hans Jonas mit seinem Prinzip Verantwortung eine lächerliche Figur der Vergangenheit? Jonas hatte den „ökologischen Imperativ“ formuliert:

„Handle so, daß die Wirkungen deiner Handlungen verträglich sind mit der Permanenz echten menschlichen Lebens auf Erden.“

Sind Gehirnforscher selbst nur unfreie Sprachrohre eines unbekannten Willens? Sind ihre „Erkenntnisse“ listige Botschaften anonymer Mächte? Wollen sie den demokratischen Geist der politischen Partizipation schwächen, weil deutsche Gelehrte noch nie etwas von einem selbstbestimmten Volk hielten?

Wozu streiten wir über Sinn und Unsinn von Volksabstimmungen, solange wir Gehirnforscher haben, die das Volk an die Kette des unfreien Willens legen? Was Deterministen im Bereich des Willens, sind Neoliberale im Bereich der Wirtschaft: Menschen, folgt blind dem unberechenbaren Spiel des unfehlbaren Marktes. Ihr seid zu beschränkt, um an den Grundfaktoren eurer zufälligen Existenz mitzuwirken. Glauben Gehirnforscher im Ernst, agile Eliten würden einen einzigen Augenblick über ihre kostümierten Theologismen nachdenken?

Ist das Reich der Theorie durchlaufen, beginnt das Reich sinnvollen Fürwahrhaltens oder selbsterfüllenden utopischen Zielesetzens. Man kann auch von Glauben reden, solange er nicht mit dem entmündigenden Glauben an höhere Mächte verwechselt wird.

Ein rationaler Glaube stellt in eigener Vollmacht her, woran er glaubt und was er für möglich hält. Er hofft weder auf Geschichte noch auf Gott, sondern allein auf Einsicht und Solidarität seiner Mitmenschen.

Seit Beginn der griechischen Philosophie gibt es eine Asymmetrie zwischen Theorie und der vitalen Praxis des Lebens. Sokrates war es gleichgültig, ob es Götter gibt. Sollte es welche geben, würde er sie genauso ins Verhör nehmen wie er es mit den Menschen auf der Agora zu tun pflegte. Dass er theoretisch Vieles nicht wusste, berührte ihn nicht. Eins aber „wusste“ er, dass er seiner Moral: Unrecht erleiden ist besser denn Unrecht tun, niemals untreu werden würde.

Woher wissen wir, dass eine humane Moral die menschenwürdigere ist? Weil wir die Früchte dieser Moral erleben können. Sie verbindet Menschen in gemeinsamem Erkennenwollen und in gemeinschaftlicher Fürsorge für die Stadt und die Menschheit.

Ist das nicht zu hoch gegriffen, wie die Gelehrten der Deutschen Bewegung immer wieder betonten? Wenn die Welt zu einem Dorf zusammengerückt ist und jedes Ereignis in Alaska fast synchron in Bottrop miterlebt werden kann, ist Fernstenliebe die unausweichliche Konsequenz jeder Nächstenliebe, die kein Mittel egoistischer Seligkeitsgewinnung sein darf.

Die Münchner, die ihre flüchtenden Mitbürger in ihre Wohnungen aufnahmen, haben politische Solidarität spontan in Realität verwandelt. Dass ein Betonpolitiker wie Seehofer nur eine einzige Schlussfolgerung aus dem Notstand der Stadt ziehen konnte: wir brauchen einen starken Staat, zeigt seinen obrigkeitlichen Hochmut. Er hätte sagen müssen: wir haben in beglückender Weise selbstbewusste und hilfsbereite Demokraten erlebt. Eben dies brauchen wir als beste und wirksamste Waffe gegen irrationale Unmenschlichkeiten. Eine pulsierende Demokratie vitaler BürgerInnen kann von Attentätern nicht zerstört werden.

Und zu welchen Meisterleistungen rang sich die Kanzlerin durch? Nach langem Abtauchen war sie zu folgenden Talmitröstungen fähig: „Wir teilen Ihren Schmerz, wir denken an Sie, wir leiden mit Ihnen“. Warum benötigte sie so lange, um Selbstverständlichkeiten zu formulieren? Laut SPIEGEL brauchte sie Bedenkzeit, um abzuwarten, ob es sich um einen Amoklauf oder einen terroristischen Akt handele. Ist jemand auf polizeiliche Erkenntnisse angewiesen, um spontane Gefühle des Trostes zu formulieren? Dem Leid der Betroffenen sind Unterschiede zwischen Amok und Terror ohne Bedeutung.

Hatte Merkel zur Ursachenforschung der Tat Sinnvolles beizutragen?

»In dieser Freiheit und Mitmenschlichkeit liegt unsere größte Stärke.« Sie verstehe aber auch die Verunsicherung vieler Menschen, sagte Merkel. »Immer sind es Orte, an denen jeder von uns hätte sein können. So kann ich jeden verstehen, der heute mit Beklommenheit auf eine Menschenmenge zugeht, der im Hinterkopf die Frage hat, ob er dann sicher ist.«“ (ZEIT.de)

Zeigt sich Merkels Mitmenschlichkeit gegenüber darbenden Griechen? Zeigt sie sich gegenüber Flüchtlingen, die unter Lebensgefahr übers Meer nach Europa flüchten? Zeigt sie sich gegenüber Abgehängten der Gesellschaft, die immer mehr unter die Räder der Industrie geraten? Zeigt sie sich gegenüber Millionen potentieller Klimaflüchtlinge, die unmittelbaren Opfer der deutschen Wirtschaftswalze? Hat Merkel irgendetwas zur Erkenntnis des Verbrechens beigetragen? Hat sie notwendige Fragen zum Verständnis des Täters gestellt – wie Bommarius es in seinem Kommentar in der BLZ vorbildlich zeigt?

„Fällt Politik und Gesellschaft wirklich keine andere Antwort auf das Verbrechen in München ein als eine evident sinnlose Debatte über die innere Sicherheit? Über den Täter, den 18 Jahre alten David S.,  ist nicht viel bekannt, doch weiß man, dass er an Depressionen litt und über Mobbing klagte. Hat ihn jemand gehört? Haben seine Lehrer, seine Mitschüler, seine Eltern und Freunde ihn wahrgenommen, seine Wut, seine wachsende Gewaltbereitschaft? Hat niemand sein Interesse an Literatur und Zeitungsberichten über Amokläufe bemerkt, seine Planung der Tat über ein ganzes Jahr? Kein Amoklauf ist spontan, die Wut, die ihn auslöst, hat eine Geschichte, die mit der Tat erst endet.“ (Berliner-Zeitung.de)

Ist Merkel der Idiotie der Gesellschaft entgegengetreten, die jedes Verstehen und Erklären als ruchlose Kumpanei mit den Tätern diffamiert? Ihr Mitleid ist erkenntnislos, ihr Trost eine willkommene Gelegenheit, aufgesetzte Mutterqualitäten zu demonstrieren.

Je mehr Unheil in der Welt, umso dringlicher die illusionären Besänftigungsmethoden der unersetzbaren Kirchen. Zum Ritual deutscher Nachrichtensendungen gehören Trostmeldungen vom evangelischen Bischof Bedford-Strohm und von Kardinal Marx, die zwar auch nicht wissen, weshalb Gott den Schrecken zuließ, doch ihre Unwissenheit als himmlische Botschaft verpacken. Zeiten kollektiver Not sind willkommene Gelegenheiten für Eliten, ihre Macht über die Notleidenden unter dem Vorwand der Empathie auszubauen.

Die emotionale Grundstimmung der Gesellschaft, die sich in Krisenzeiten religiös offenbart, duldet kein Verständnis der Täter. Verstehen ist für sie Verzeihen, kein notwendiges Mittel gesellschaftlicher Vorsorge. Verstehen setzt Erklärbarkeit menschlicher Handlungen voraus, und seien diese noch so absurd und verabscheuenswert.

Erklärbar aber dürfen die Taten der unmenschlichen Täter nicht sein. Was erklärbar ist, kann nicht böse sein. Und böse muss sein, was Bösewichte vollbringen. Sie müssen aus der Gemeinschaft humaner Wesen ausgeschlossen werden – sonst droht Ansteckungsgefahr bei labilen Zeitgenossen. Schuld in religiösen Gesellschaften muss unerklärbar und böse sein. Damit man die Täter als Teufelsbraten in die Hölle schicken kann.

Nichts geht blitzschneller als die Regression einer scheinaufgeklärten Gesellschaft ins klerikale Mittelalter, wenn am Horizont Gewitterwolken aufziehen. Blitzschnell erscheinen Exorzisten auf der öffentlichen Bühne, um die Bösewichter zum Teufel zu schicken. Die fromme Wagenburg schließt ihre offenen Flanken. Warnte man höheren Orts nicht schon immer vor den Gefahren allzu großer Freiheit?

Verbrecher müssen ihre Taten aus freiem Willen und mit niederträchtigem Vorsatz vollstreckt haben. Das Böse taten sie allein um des Bösen willen. Das Böse hat keine zweite Chance verdient. Es muss vertilgt werden. Nicht mehr lange und die Todesstrafe wird auch bei uns gefordert werden. Was Trump und Erdogan können, können wir allemal.

Die Motivationsanalysen deutscher Medien sind nicht zu verstehen ohne die Motive derer, die die Tätermotive partout nicht verstehen wollen. Blinde und rachsüchtige Bestrafungswünsche beherrschen die Kommentare der Hirnblockierten. Warnte Merkel vor inhumanen Elementen der öffentlichen Reaktionen? Sie bedient sich einer inhaltsleeren Sprache, die sich als Pathos der Eigentlichkeit präsentiert.

Was, wenn Täter auch Opfer wären? Opfer der Gesellschaft, wie Erich Fromm in vielen Büchern erläuterte? Täter seien Kranke. Der Kranke aber sei gesünder als der Gesunde, der seine unterwürfige Angepasstheit fälschlich als Gesundheit ausgeben könne. Heute hätte Erich Fromm keine Chance mehr, seine Provokationen in Bestellern unter die Leute zu bringen.

John Gray, verdienstvoller und gründlicher Analytiker der Gegenwart, ist in seinem Buch „Von Menschen und anderen Tieren“ dem Irrtum erlegen, den freien Willen als Erfindung des christlichen Glaubens auszugeben. Nichts falscher als das.

Bereits in der Antike gab es einen heftigen Streit zwischen Epikuräern und Stoikern um den freien Willen. Um ihn zu retten, ließ sich Epikur dazu verleiten, die perfekte Kausalkette der Natur mit Lücken zu versehen, damit die Menschen sich frei entscheiden könnten.

Vehement widersprachen die Stoiker, die den Menschen als Teil des Kosmos betrachteten – und dennoch an der moralischen Autonomie des Menschen festhielten. Hätten sie sich sonst solche Mühe geben können, ihre ethischen Überlegungen immer besser zu durchdenken?

Auch die Aufklärer der Neuzeit waren überzeugte Deterministen („der Mensch ist, was er isst“) und dennoch feurige Anhänger der persönlichen und politischen Freiheit. Den Widerspruch sahen sie nicht oder sie ignorierten ihn kaltlächelnd.

Der junge Augustin hatte – noch im Dunstkreis antiker Gedanken – ein Buch über den freien Willen geschrieben. Kaum hatte er die Gnade der Bekehrung erlebt, schrieb er – im Streit mit dem irischen Mönch Pelagius – das genaue Gegenteil: der Sünder ist vollständig von der Gnade des Himmels abhängig. Die Erbsünde habe den freien Willen mit Stumpf und Stil ausgerottet.

Luther und Calvin wurden Musterschüler des katholischen Kirchenvaters, der später von Thomas von Aquin als Autorität der Kirche abgelöst wurde. Unter dem Einfluss aristotelischer Schriften predigte Thomas einen „semipelagianischen“ Kompromiss: der Mensch hat einen freien Willen, um sich das Heil mit Werken zu verdienen – doch die unsichtbare Hand Gottes müsse seinen unvollkommenen Bemühungen gnädig entgegenkommen.

Adam Smiths unsichtbare Hand Gottes, die die Egoismen der Einzelnen zum Gesamtwohl der Gesellschaft koordiniert, hat dem katholischen Kirchenvater einiges zu verdanken. Womit bewiesen wäre, dass das Gemeinwohl einer kapitalistischen Nation ein Gnadengeschenk des Himmels sein muss.

Es ist kein Widerspruch, wenn Calvins Prädestination in der tatkräftigsten Gesellschaft der Welt zur führenden Glaubensdoktrin aufstieg. Der Dynamismus der Amerikaner versteht sich als Gehorsam eines fest gefügten Glaubens, aus dem niemand fallen kann. Komme, was da wolle, sie bleiben die von Gott gewollten Herren der Welt. Dass sie zur eisernen Garde der Erwählten gehören, daran zweifeln amerikanische Wiedergeborene keine Sekunde.

Nicht anders als die proletarischen Massen der sozialistischen Heilsgeschichte, entwickelten die Neucalvinisten einen außerordentlichen Furor, um die Welt zu verändern. Wer sich auf der rechten Seite der Geschichte wähnt, den kann keine teuflische Gegenmacht aufhalten.

Womit wir zur Frage gekommen wären, welche Motive den Münchner Täter zu seiner furchtbaren Tat bewegt haben könnten.

 

Fortsetzung folgt.