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Europäische Idee LXXX

Hello, Freunde der europäischen Idee LXXX,

„Wenn wir Gnade finden können, ist alles möglich. Wenn wir die Gnade anzapfen können, kann sich alles ändern“, sagte Obama. Dann stimmte er mit allen Anwesenden das Kirchenlied Amazing Grace an.“ (ZEIT.de)

„Erstaunliche Gnade, wie süß der Klang,

Ich war einst verloren, aber nun bin ich gefunden,

War blind, aber nun sehe ich.

Ja, wenn dieses Fleisch und Herz versagen,

Und das sterbliche Leben vergeht,

Werd‘ ich hinter dem Schleier führen,

Ein Leben voll Freude und Frieden.

Die Erde wird sich bald auflösen wie Schnee,

Die Sonne aufhören zu scheinen;

Doch Gott, der mich nach hier unten rief,

Wird ewig mein sein.“

Wenn wir Gnade finden – wird Amerika zu dem, was es immer sein wollte: zu Gottes eigenem Land. Wenn aber nicht?

Wenn wir Gnade anzapfen können, kann sich alles ändern? Gnade kann man nicht anzapfen wie Sprit an der Tankstelle. Sonst wäre sie keine unverfügbare Gnade. Also wird sich nichts ändern.

Wenn Politik in christlichen Demokratien scheitert, muss Religion das Leiden mit angezapfter Gnade lindern. Sinn der Religion ist es, Mängel der Politik mit Weihrauch einzunebeln. Leiden und Schmerzen sollen zu bittersüßen Vorauszahlungen

ewiger Freuden werden.

Also müssen unkorrigierbare Mängel ins demokratische System eingebaut werden, damit die Unersetzbarkeit der Religion gewahrt bleibe. Konflikte der Politik müssen komplex sein, dass sie von Menschen nicht gelöst werden können. Die Unlösbarkeit der Probleme hat eine soteriologische Funktion. Überforderte Menschen sollen dem süßen Klang der Gnade folgen. Der Glaube ehemaliger Sklaven rettet – wie lange noch – den von Ungerechtigkeit strotzenden Staat ihrer einstigen weißen Peiniger.

„Zusammen können wir es schaffen, ich habe es in meinem eigenen Leben erfahren“, predigte der Präsident. Wenn „wir“ es geschafft hätten, müssten alle „wir“ es bemerkt haben. Obama kann höchstens bemerkt haben, dass seine eigene Karriere gelungen ist. Kann er zwischen Ich und Wir nicht unterscheiden? Ein Tellerwäscher, der Millionär wurde, kränkt viele Tellerwäscher, die es nicht schafften und nun an sich verzweifeln müssen. Liegt es an mir? Warum schaffe ich es nicht? Zwischen Ich und Wir können amerikanische Karrieristen generell schwer unterscheiden.

Deutsche auch nicht, besonders wenn sie einer ehemaligen Proletenpartei angehören. Das schlechte Gewissen ihres Erfolgs übertragen sie auf die Versager ihrer Partei, die dafür büßen müssen, dass sie es wagten, keinen Erfolg zu haben.

Dem ersten schwarzen Präsidenten sei es nicht gelungen, die amerikanische Gesellschaft miteinander zu versöhnen, schreiben deutsche Gazetten im humorlosen Pathos der Eigentlichkeit. Kann ein Einzelner eine Gesellschaft versöhnen? Heißt versöhnen, Probleme lösen – oder Eiapopeia über dem Scherbenhaufen unlösbarer Probleme veranstalten?

Wenn Politik versagt, obgleich (!) sie verspricht, zuverlässig zu versagen, muss Religion einspringen, um die Gesellschaft vor gnadenloser Selbsterkenntnis zu schützen. Gnadenlos heißt nichts als die Wahrheit. Die Wahrheit wird euch frei machen, missbraucht Johannes in seinem Evangelium eine griechische Sentenz. In Wirklichkeit ist christliche Freiheit Knechtschaft unter Christus:

„Denn wer als Knecht berufen ist in dem HERRN, der ist ein Freigelassener des HERRN; desgleichen, wer als Freier berufen ist, der ist ein Knecht Christi.“

Luther übersetzt die Stelle in seiner Schrift „Vom unfreien Willen“: „Ein Christenmensch ist ein freier Herr über alle Dinge und niemand untertan. Ein Christenmensch ist ein dienstbarer Knecht aller Dinge und jedermann untertan.“ Vor allem aber seinem allmächtigen Erlöser.

Christliche Demokratien dürfen keine irdischen Utopien entwickeln, damit ihre überirdischen nicht eifersüchtig werden. Rasereien heiliger Eifersucht sind von niemandem zu bremsen.

Utopien werden von realistischen Politikern gelegentlich als Visionen bezeichnet. Wer in der Politik Visionen entwickele, solle zum Arzt, sagte ein knochenharter Realist – dessen Partei einstmals mit utopischen Visionen begann und nun an Visionslosigkeit erbarmenswert dahin darbt. Ärzte für diese Krankheit gibt es nicht, gesetzliche Krankenkassen bezahlen keine Therapien für selbstverschuldete Unmündigkeit. Hier hülfe nur der Gang zu einem Knochenbrecher, der den Genossen solange die Hammelbeine stauchen und dehnen würde, bis sie die Gnade der Neugeburt am Rollator erleben könnten.

Das ist der Fluch der spröden Vernunft, dass sie keinen falschen Trost spendet und selbstverschuldetes Leid mit keinem jenseitigen Salböl erträglich macht. Leiden und Schmerzen als Folgen menschlicher Taten können nur behoben werden durch andere menschliche Taten, die aus falschen lernen.

Es gibt keinen Sinn des Leidens, wenn humane Wesen es hätten verhindern können. Die Sinnlosigkeit der Kosten ist der Preis, den die Gesellschaft einem unerbittlichen Fortschritt zahlen muss, besonders die Schwachen und Abgehängten, die unter die Räder des Fortschritts kommen.

Wenn Amerika als Einheit im Trost dargestellt wird, obgleich die Gesellschaft in die Klasse der EINPROZENT und die riesige Masse der ÜBERFLÜSSIGEN gespalten ist, wird der kollektive Trost zur Lüge, die vom ganzen Volk abgesegnet wird, vor allem von den Losern unter den Segnern, denen immer dann das Gefühl vermittelt wird, von allen geliebt zu werden, wenn die Folgen ihres Ungeliebtseins in Form von Toten und Verletzten erneut sichtbar geworden sind. Staatliche Trauerfeiern mit predigtähnlicher Rhetorik müssen die zerklüftete Nation mühsam zusammenhalten – bis die nächste Offenbarung aus der dämonischen Tiefe der Gesellschaft für kurzfristige Einheit des Landes sorgt.

Es herrscht Krieg zwischen den Superreichen und dem Rest der Gesellschaft, sagte ein Superreicher und wir, die Erwählten, werden den Krieg gewinnen.

Solche Sätze zur Wahrheitsfindung werden von Obama unterschlagen. Insofern sind offizielle Trauerfeiern nichts als narkotische Spektakel fürs Volk. Solange das Volk dem öffentlichen Trug folgt, will es belogen werden und muss die Politlüge mit weiteren Toten und Gedemütigten bezahlen. Der Preis der Zivilisation ist das ungebremste Wachstum des Unzivilisierten, das von vermeintlich Zivilisierten den vermeintlich Unzivilisierten aufgebürdet wird.

Ein früherer Präsident namens Dabbelju war ebenfalls anwesend, machte ein ernstes Gesicht und zeigte sich betrübt über die Zahl der nationalen Toten. Dass er sich betrübt gezeigt hätte über die riesige Zahl jener Toten im Irak, die er und sein unterwürfiger Kumpan Tony auf dem Gewissen haben, ist nicht überliefert. Der amerikanische Mensch will gottebenbildlich sein, also muss er die Welt amerika-ähnlich machen. Zeigt die sündige Welt sich unwillig, greift der westliche Christ zur heiligen Gewalt.

Deutsche sind stolz darauf, von Theologie nichts zu verstehen. Weshalb sie den Biblizismus ihrer transatlantischen Vorbilder hinter vorgehaltener Hand belächeln. Wer nichts von seinem Glauben versteht, ist bestens präpariert, abendländische Glaubenswerte zu verteidigen.

Merkels Palliativpolitik mit Christentum in Verbindung zu bringen, ist für Inländer ein krachlederner Witz. Unter diesen Vorzeichen hat die Kanzlerin keine Mühe, das trojanische Pferd des rechten Glaubens in die Mitte der Öffentlichkeit zu ziehen, ohne dass deutsche Edelschreiber Verdacht schöpfen würden. So entgeht ihnen, dass Merkels Wursteln ein Durchlavieren zum Ende ist. Die Zeiten stehen auf Finale. Wie Luther noch zu Lebzeiten die Wiederkunft seines Herrn erwartete, sieht die fromme Lutheranerin überall die Zeichen des kommenden Endes.

Die Erde wird sich bald auflösen wie Schnee,

Die Sonne aufhören zu scheinen;

Das ist die Sehnsucht fundamentalistischer Amerikaner, immer noch die Mehrheit unter den Wiedergeborenen. Die gesamte amerikanische Weltpolitik ist Apokalypse, transsubstantiiert in technischen Unsterblichkeitswahn, grenzenlose Vernichtung der Natur und Macht über den Planeten.

Transsubstantiation ist die wunderbare Fähigkeit der Priester, ordinäre Substanzen wie Brot und Wein in heilige Substanzen wie Leib und Blut ihres Herrn zu verwandeln. So können Christen Geld, Macht, Maschinen und Fortschritt selbsterfüllend in apokalyptische Elemente verwandeln.

Hören deutsche Ohren Begriffe wie Apokalypse, geht ihnen das Messer im Sack auf. Sofort denken sie an sektiererische Gläubige in Erwartung des Weltenendes, nicht an Kritiker der Untergangsmythen.

David Hugendick spricht in der ZEIT von „Ohrensesselnapokalyptikern“. Wer immer sich über Destruktives und Selbstzerstörerisches besorgt äußert, muss ein Endzeitfanatiker sein. Dass man vor Gefahren warnt, um sie zu vermeiden, ist für meinungslose Schreiber nicht nachzuvollziehen.

Desgleichen macht sich unbeliebt, wer immer wieder „olle Kamellen“ aufwärmt, um vor ollen Gefahren zu warnen. Sie wollen mit ständig Neuen unterhalten werden, die medialen Dompteure der Begriffe. Wer schon keine politische Stellung beziehen will, betrachtet das Zeitgeschehen als Variete, das ihn mit ständigen Neuigkeiten unterhalten soll. Unter dem Zwang, permanent Neues zu imaginieren, kann das verruchte Alte schalten und walten, wie es will.

Die deutsche Kanzlerin, ebenfalls gottebenbildlich, greift noch nicht oder selten zur militärischen Gewalt. Noch begnügt sie sich mit der Gewalt der eruptiven deutschen Wirtschaft, die ständig überfließt, sich innerhalb ihrer Grenzen nicht bescheiden kann und alle Nachbarn, die dem deutschen Vulkan nicht gewachsen sind oder sich mit Dolce far niente begnügen, mit ihren Produkten und ihrem Geld beglückt, pardon, überflutet und erstickt.

Werden die Jugendlichen dieser Länder bis zu 50% arbeitslos, kein Problem: Deutschland braucht Fachkräfte. Unter den Flüchtlingen gibt es zu wenig Qualifizierte, weshalb die 30 wichtigsten Dax-Betriebe bislang sage und schreibe 54 Flüchtlinge eingestellt haben. Kommen die spanischen und portugiesischen Jugendlichen bei Zetsche und Kaeser nicht unter, kein Problem: die smarte Chefin der deutschen Panzer und Kanonen braucht williges Kanonenfutter für Einsätze am Hindukusch, wo die deutsche Sicherheit für die nächsten Jahrhunderte verteidigt werden muss.

Was böte sich da mehr an als preiswertes Kanonenfutter aus verarmten Ländern, das nicht weiß, wohin seine glanzvolle europäische Zukunft verschwunden ist. Als Landsknechte der EU können die vereinigten Söldner die Werte des Abendlandes Seit an Seit mit heldenhaften Kameraden verteidigen. Diese Form der inneren Verbrüderung der EU per Heldentod würde selbst Schäuble akzeptieren.

Europa braucht keine Utopie der Memmen, sondern das verlockende Ziel eines neuen Kreuzzugs. Nein, mit einer läppischen Wiederholung des Kalten Krieges wollen wir uns nicht abgeben. Die Jugend braucht etwas, was ihr erkaltetes mammonistisches Herz erwärmen könnte – und das ist ein Krieg unter dem Fanal: EURO lo volt.

Wie Amerika die Welt amerikanisieren, will Deutschland die EU germanisieren. Besonders der Süden Europas sträubt sich gegen die neudeutsche Erziehungswalze, doch noch gilt politisch das bewährte Motto: Nein ist noch lange nicht Nein. Sie wollen es doch auch, diese Südländer: durch Selbsterdrosslung vitaler und orgastischer werden.

Merkel ist die fromme Domina der Verzärtelten. Mit sanftem Lächeln stranguliert sie die Hälse der Widerstrebenden, während Schäuble die Peitsche knallen lässt. Kein erfolgreicheres Duo als das deutsche Paar, das nicht eitlen Impulsen folgt, sondern Direktiven des überlegenen deutschen Glaubens.

Wie sie die Meere mit Plastik vermüllen, vermüllen sie die Sprache mit Worthülsen, die sie mit beliebigen Inhalten besetzen. Liberal ist frei oder unfrei, konservativ bewahrend oder vernichtend, Volksherrschaft die Herrschaft des elitären Nichtvolkes, Fortschritt demokratischer Rückschritt, Zukunft die Summe der verdrängten Vergangenheit, Bildung barbarischer Anpassungsdrill, links und rechts sind lechts und rinks. Anstatt von gerecht und ungerecht, machterhaltend und moralerhaltend zu reden, benutzen sie windige Zufallsereignisse, um verbale Jonglierkünste zu betreiben.

Wer will denn von Gerechtigkeit sprechen, dieser ollen Kamelle aus den Bleikammern der Historie? Plötzlich sind die Rechten linker als die Linken. Linke Kommentatoren wollen mit rechten Methoden das Volk an die Leine legen, um es mit linker Gerechtigkeit zu beglücken.

Merkel hat ein Pidgin-Deutsch mit nicht mehr als 99 Wörtern entwickelt. Meistens bleibt sie stumm, was sie mit Schweigen verwechselt, um den Effekt zu provozieren: hättest du geschwiegen, hätten wir dich für eine Philosophin gehalten. Ihre Hauptsätze lauten:

Ich arbeite hart. Für Spekulationen habe ich keine Zeit. Wenn‘s notwendig ist, wird das Notwendige getan werden. Ich stehe zu allem, was ich bisher gesagt habe – auch wenn die Zeiten sich geändert haben und ich das Gegenteil machen muss.

Merkels Konvergenzbegriff aus frühem Sozialismus, angelerntem Kapitalismus und alles überwölbendem lutherischem Ethos – ist Arbeit. Sie denkt nicht, kommuniziert nicht, erklärt nicht, argumentiert nicht: sie arbeitet – und betet. Ora et labora. Nicht im Sinne einer Ergänzung, sondern als Identität: arbeitend betet sie, betend arbeitet sie. Da sie immer fröhlich im Herrn ist, ist sie stets bezaubernd ausgeglichen und lässt ihre Lindigkeit aller Welt zuteil werden. Da Merkel getauft ist, erlebt sie eine tägliche Wiedergeburt. Taufen heißt, den alten Adam – es kann auch Eva sein – ersäufen und im Geiste neu beginnen. Derohalben ist die Getaufte die ideale Besetzung, um das zerrüttete Europa wieder zu erneuern.

Für BILD gibt es keinen Zweifel: die Neue aus England und die ewig Neue aus Deutschland werden das europäische Schlamassel auf Vorderfrau bringen. Wen juckt‘s, dass Merkel seit vielen Jahren eifrig an der Zerstörung Europas arbeitet. Europa, civitas terrena oder das irdische Reich des Teufels, kann doch kein Vorzeigeobjekt des Humanen sein. Dann wäre die civitas dei ja überflüssig.

Merkel will das Neue, also muss das Alte im Orkus verschwinden. Das Alte ist die ordinäre demokratische Politik. Gelegentlich, wenn es niemand sieht, lächelt Merkel still in sich hinein: wie ernst sie das Alte nehmen, die Hysteriker dieser Welt, über die das Urteil längst gesprochen ist.

Sind die Deutschen die Tüchtigsten? Und ergo die Wohlhabendsten und Einflussreichsten? Ausgerechnet Rainer Hank, Priester des Neoliberalismus, der bislang stolz darauf war, dass er als Hausmeistersohn es mit Tüchtigkeit an die Spitze der FAZ brachte, verhöhnt auf einmal die Meritokratie, die Lehre, dass den Leistungsfähigsten auch die größte Macht gebühre. Wenn das so ist, sind die Deutschen nur per Zufall an die Spitze der EU, Merkel nur per Glück zur mächtigsten Frau der Welt aufgestiegen?

„Die Verklärung der Meritokratie unterschlägt den Zufall. Wenn die Fußballer von zehn Torchancen nur eine verwandeln, ist das dann höhere Gerechtigkeit oder einfach nur Pech? Leistung wird überschätzt, der Zufall wird unterschätzt. Die Idee der Meritokratie hat zur Voraussetzung und zur Folge eine unmenschliche und unerbittliche Gesellschaft, welche die Menschen überfordert und ihnen noch nicht einmal die psychische Erlaubnis gibt, Misserfolge und Scheitern anderen Umständen – Pech, bösen Rivalen, falschem Timing, schlechten Gene – zuzuschreiben. Es hängt gottlob nicht alles von mir ab, heißt die humane Alternative, die sich gegen den elitären Machbarkeitswahn von Karrieren stemmt. Die Idee der Meritokratie moralisiert die Einkommens- und Statusverteilung. Die Verabsolutierung der Meritokratie lässt dem Untüchtigen noch nicht einmal den Trost der Ungerechtigkeit der Welt.“ (Rainer Hank in FAZ.NET)

Welch schauderhafter Gedanke, dass die Welt von transparenter Gerechtigkeit wäre. Jeder Mensch stünde in Erfolg oder Misserfolg nackt vor der Welt. Niemand hätte das Recht, sich politisch zur Wehr zu setzen, eine Revolution zu planen, Podemos zu unterstützen oder sich gegen TTIP zu wehren. Wir lebten in einer vollkommenen Welt, welch fürchterliche, unumkehrbare Utopie.

Wer würde die unfehlbare Ordnung der Dinge ertragen? Wir lebten in der besten aller Welten und hätten es nicht bemerkt? Wie recht hätten jene, die mit Hölderlin warnten: wer den Himmel auf Erden verwirklicht, produziert stets die Hölle. Wäre die Meritokratie verwirklicht, lebten wir im Himmel – der die Hölle ist. Noch schlimmer: nichts davon hätten wir bemerkt.

Dank Rainer Hank sind wir nun aufgeklärt und gottfroh, dass alles so zugeht, wie der klischeehafteste Linke es schon immer wusste: der Kapitalismus ist eine Hölle aus Zufall und unverdientem Glück. Nur die Bewertung des Linken ginge in die Irre. Die Hölle des Zufalls ist der Himmel der wahren Gerechtigkeit. Gottlob leben wir im Chaos, niemand kann Rückschlüsse auf unser wahres verborgenes Wesen ziehen. Der Mensch bleibt das nicht definierte, unbekannte Wesen. Die Linken, die die ungerechte Welt in eine gerechte verwandeln wollen, sind Barbaren. Sie wissen nicht, dass ihre Gerechtigkeit die Hölle der Transparenz aller Menschen wäre.

Hank beherrscht die Logik wie seine vielbewunderte Kanzlerin. Wenn unsere Gesellschaft keine Meritokratie ist: sollten wir dann die angebliche Leistungsgesellschaft nicht verschreddern und zur Wahrheit übergehen, dass es ungerecht hergeht unter Merkels undurchdringlichem Zufallsprinzip? Das sei ferne von uns:

„Man muss deswegen nicht ins andere Extrem fallen und die Leistungsgesellschaft verdammen. Man braucht aus der Relativierung der Meritokratie schon gar keine zusätzlichen politischen Schlüsse für die Steuer- und Sozialpolitik zu ziehen: Wohlfahrtsstaaten waren ohnehin noch nie große Freunde der Meritokratie. Kein einziges Argument der üblichen Verdächtigen unter den Umverteilern muss man kaufen, wirklich keines. Und trotzdem kann man den unaufrichtigen Kern des Meritokratie-Mythos entlarven. Oder sogar gerade deshalb: Glück und Zufall sind die großen Unbekannten der Leistungsgesellschaft. Wir sollten besser auf sie achtgeben. Das relativiert die eigenen Macht- und Größenphantasien, dämpft den Narzissmus und macht uns sozialverträglicher.

Da hatten wir aber Glück, dass wir zufällig Glück gehabt haben und nicht nach Leistung bewertet wurden. Just die Ungerechtigkeit macht uns sozialer, die Diskrepanz zwischen Leistung und gesellschaftlicher Stellung macht uns – demütig. Ob dies die Kaesers, Grillos und Maschmeyers auch wissen?

Dasselbe muss auch umgekehrt gelten. Wenn wir Merkels Demut schätzen, kennen wir nun den Grund unserer Sympathie: mit ihrer politischen Leistung hat sie nichts zu tun. Sie hatte einfach Glück, Fromme würden von Erwählung sprechen. Hanks und Merkels Welt ist die Welt des unberechenbaren Gottes, der erwählt, wen er will und verwirft, wen er will. Der Name des Herrn sei gepriesen.

Und nun das große Rätsel. Hank als Anhänger Hayeks will nicht gewusst haben, dass dessen Neoliberalismus nichts anderes ist als die Theologie des Predigers? Hank, der katholische Theologie studierte, hat keineswegs das Fach gewechselt. Wirtschaft ist für ihn nur angewandte ökonomische Theologie. Hayek selbst zitiert die Verse aus dem Alten Testament:

„Ich wandte mich und sah, wie es unter der Sonne zugeht, daß zum Laufen nicht hilft schnell zu sein, zum Streit hilft nicht stark sein, zur Nahrung hilft nicht geschickt sein, zum Reichtum hilft nicht klug sein; daß einer angenehm sei, dazu hilft nicht, daß er ein Ding wohl kann; sondern alles liegt an Zufall und Glück.“

Liegt alles an Glück und Zufall, ist das ganze irdische Leben ein Va-banque-Spiel. Wer riskiert, gewinnt – vielleicht. Vielleicht riskiert er auch nur das Überleben der Menschheit. Und selbst wenn? Mensch, bleibe wesentlich, bleibe gottergeben. Dein Leben auf Erden hat mit deinen Fähigkeiten, deiner Vernunft und Weisheit nicht das Geringste zu tun.

Wenn wir Gnade finden, ist alles möglich. Wenn nicht, lag es nicht an uns, dass wir das irdische Spiel in den Sand setzten. Gottes Gerechtigkeit erkennen wir – an seiner würfelnden Ungerechtigkeit. Rien ne va plus.

 

Fortsetzung folgt.