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Europäische Idee LXXVII

Hello, Freunde der europäischen Idee LXXVII,

wer einem Freunde Versprechungen macht und sie nicht hält, ist ein Hallodri oder Hochstapler. Wer dem Volk Versprechungen macht und nichts hält, ist ein Populist. Wer dem Volk nichts verspricht und Nichts hält, ist ein seriöser Politiker. Wer der Menschheit seit Tausenden von Jahren alles verspricht und nichts davon bis zum heutigen Tage gehalten hat, ist ein männlicher Gott des Heils. Wer den Gott der Verheißungen und Nichterfüllungen als Hochstapler und Schwadroneur bezeichnet, kommt für immer in Verschiss.

„Tröstet, tröstet mein Volk! spricht euer Gott. Denn siehe, der Herr, HERR kommt gewaltig, und sein Arm wird herrschen. Siehe, sein Lohn ist bei ihm und seine Vergeltung ist vor ihm. Siehe, sie sollen zu Spott und zu Schanden werden alle, die dir gram sind; sie sollen werden wie nichts; und die Leute, die mit dir hadern, sollen umkommen, daß du nach ihnen fragen möchtest, und wirst sie nicht finden. Die Leute, die mit dir zanken, sollen werden wie nichts; und die Leute, die wider dich streiten, sollen ein Ende haben. Denn ich bin der HERR, dein Gott, der deine rechte Hand stärkt und zu dir spricht: Fürchte dich nicht, ich helfe dir! Die Elenden und Armen suchen Wasser, und ist nichts da; ihre Zunge verdorrt vor Durst. Aber ich, der HERR, will sie erhören; ich, der Gott Israels, will sie nicht verlassen.“

Gott ist Populist der Populisten. Seinen Frommen verspricht er Heil und Segen, seinen Widersachern Fluch und Verdammnis. Er versprach, die Erde zu zerstören, eine neue zu kreieren, die Geschichte zu beenden und heilige Zeit und Ewigkeit zu erschaffen. Nichts davon hielt er bis zum heutigen Tage.

Die Wiederkunft des Herrn verzieht bis zum Sankt Nimmerleinstag. Alles müssen seine Gläubigen selbst in die Hand nehmen, die Natur verwüsten, die gottlose Menschheit drangsalieren, ausrotten und der erwählten EINPROZENT Inseln der Seligkeit erschaffen. Himmel und Hölle auf Erden wurden die auseinanderklaffenden Ziele der Weltpolitik: Himmel für wenige Lieblinge und Hölle für die

unübersehbaren Massen der Verdammten.

Der Glauben der Frommen spaltete sich in folgenloses verbales Bekennen der Kirchen und Sekten – und dem bekenntnisunabhängigen Tun der säkularen Moderne, die mit weltlichen Methoden religiöse Inhalte in selbsterfüllender Prophezeiung vollbringt und der Menschheit als Weltzivilisation aufzwingt.

Dem Bekenntnis-Gläubigen muss man sagen: sprich dein Credo, damit ich dir sage, was du – nicht tust, sondern nur schwadronierst. Dem säkularen Täter der messianischen Botschaft (die er gar nicht mehr kennt), kann man sagen: Sag mir, was du tust, und ich sage dir, was du glaubst – ob du deinen Glauben kennst oder nicht.

Das technische und politische Tun hat sich dem Credo gegenüber verselbständigt, das bekennende Credo hat sich von moralischer Eindeutigkeit und Folgerichtigkeit endgültig gelöst. Hier göttliches Schwatzen ohne moralische Folgen, dort zivilisatorisches Tun, das sich von offiziellen Glaubensbekenntnissen gelöst hat und allen Modernisten zum selbstverständlichen Streben nach Reichtum und Beherrschung der Welt geworden ist.

Die Säkularisation hat das Gleichnis von den zwei ungleichen Söhnen in die Realität übersetzt. Wie das Wort Fleisch ward, wurde das Bekenntnis zum eisernen Gehäuse der gegenwärtigen Weltzivilisation.

„Was dünkt euch aber? Es hatte ein Mann zwei Söhne und ging zu dem ersten und sprach: Mein Sohn, gehe hin und arbeite heute in meinem Weinberg. Er antwortete aber und sprach: Ich will’s nicht tun. Darnach reute es ihn und er ging hin. Und er ging zum andern und sprach gleichalso. Er antwortete aber und sprach: HERR, ja! – und ging nicht hin. Welcher unter den zweien hat des Vaters Willen getan? Sie sprachen zu ihm: Der erste.“

Die Nein-Sager haben sich als Täter des Wortes vom Hören desselben gelöst – ohne sich von ihm zu emanzipieren: längst haben sie die Frohe Botschaft als Motivation zur wissenschaftlichen Messianisierung der Welt bewusstseinslos verinnerlicht. Die Ja-Sager benötigen die offizielle Verbundenheit mit einem Glauben, obgleich sie gar nicht daran denken, ihre viel gepriesene Liebesmoral in Taten umzuwandeln.

Wie hätte der Kapitalismus sich in einer Kultur halten können, in der Armut als Voraussetzung zum Seligkeitserwerb gilt?

Inzwischen ist es belanglos geworden, ob man Ja oder Nein zum Credo sagt. Entscheidend ist, ob man Ja tut und sich am Fortschritt der heilsgeschichtlichen Vollendung beteiligt. Die Täter des Wortes haben das Stadium des Hörens längst hinter sich gebracht. Sie haben es nicht mehr nötig, ihr Tun mit religiösen Worten zu unterlegen.

Das christliche Glaubensbekenntnis ist zur allpräsenten Realo-Substanz des Weltgeschehens geworden. Das Umwandeln des Heiligen in Weltliches ist als religionsunabhängiges Gesetz der Moderne überall auf der Welt anerkannt und wird nur noch von Winkel-Utopisten und Naturschwärmern in Frage gestellt. Mögen sie Nein sagen und sich noch so gottlos gebärden: allein ihr Ja-Tun entscheidet, ob sie Berge versetzen und das „Geschaffene“ aus dem Verkehr ziehen, damit sie das NEUE herbeizaubern können.

Luther, noch in folgenloses Bekenntnisschwafeln verliebt (solo verbo, sündige tapfer, wenn du nur glaubst) hatte seine Probleme mit dem Jakobusbrief. Denn bei diesem findet man jenen Schlüsselsatz der Moderne, der Luthers Passivität und sola-gratia-Demut vom Tisch wischt:

„Du hast Glauben und ich habe Werke. Zeige mir deinen Glauben ohne die Werke und ich will dir aus meinen Werken den Glauben zeigen.“

Freilich waren es keine Werke der Moral, die das Abendland als Erfüllung seines Glaubens betrachtete. Sondern Werke technischer Beherrschung der Natur und des Erwerbs wissenschaftlicher Erkenntnisse als Methoden zur Eroberung der Welt. Wissen wurde Macht.

Dieser Prozess beginnt bei dem mittelalterlichen Mönch Roger Bacon, der zum ersten Mal den weltlichen Nutzen (utilitas) in den Rang einer religiösen Pflicht erhebt. Roger Bacon – nicht zu verwechseln mit seinem späteren Landsmann Francis Bacon – riet dem Papst, die Welt durch „Wissenschaft zu missionieren, um durch sie seine Weltherrschaft zu errichten. Da er die Endzeit schon in den Tataren heraufkommen sah als den Vorboten des Antichrist, müssen die Christen schon um der Notwehr willen ein Wissen beherrschen, das ihnen Reichtum und jene Waffen schenkt, die ihnen die Weltherrschaft sichern. Er verbürgt sich, dem Papst die Erde zu Füßen zu legen mit Hilfe neuer Waffen, deren Vision mit dem Ausbruch technischen Allmachtsgefühls als Mittel zur Massenvernichtung ans Licht tritt. Bacons Vernichtungswaffen sind nur für den Kampf gegen Ungläubige bestimmt, die man seiner Meinung nach ausrotten muss, um die christliche Weltherrschaft zu errichten. Ludwig der Heilige kann sich sein Kreuzzugsheer sparen, wenn er mit Verbrennungsspiegeln, die jedes Heer und jede Stadt auf Entfernung vernichten, und mit wenigen technischen Experten das heilige Land betritt.“ (Alles nach Friedrich Wagner, „Die Wissenschaft und die gefährdete Welt“)

Bacons Machtphantasien sind so visionär, dass erst die Gegenwart in der Lage ist, sie aus dem Bereich heiliger Träume in die Wirklichkeit zu übersetzen. Silicon Valley wäre für beide Bacons die Erfüllung ihrer technisch-religiösen Allmachtsträume gewesen. Roger Bacon dachte nicht nur an Verbrennungsspiegel, die ganze Heere und Städte vernichten könnten oder an Strahlenwaffen, kombiniert mit biologischen Gift- und Verseuchungsstoffen. Er phantasierte auch von Zukunftswaffen, die „durch die Luft“ in die Physis der Völker eindringen und „ohne Zwang“ deren Willen manipulieren und über ihre „Seelen verfügen“ könnten. „Als Ratgeber des Papstes“ wollte er den Vater aller Christen mit seinem Wissen zum Herrn der ganzen Welt machen. Das sind bereits Orwell‘sche Überwachungsphantasien – für heutige Digitalkünste ein Kinderspiel.

Griechische Rationalität und wissenschaftliches Erkennen wurden vom mittelalterlichen Christentum übernommen und zu Waffen der Naturdestruktion pervertiert. Griechen wollten den Kosmos erkennen, wie er unabhängig von ihnen in reiner Objektivität existierte. Platon verabscheute jeden Gedanken an Experimente zum Zwecke der Naturvergewaltigung. Maschinen gab es so gut wie keine. Natur war nicht minderwertig und hatte nicht den Zweck, dem Menschen hündisch zu dienen. Dem Menschen war sie in jeder Hinsicht überlegen und ein Objekt staunender Bewunderung.

Wie Gott zur Natur, stand der Mann zum Weib. Als Magd des Menschen hoffte die Frau auf Erlösung durch das männliche Ebenbild Gottes. Durch Unterjochung sollte sie vom Manne erlöst werden. Indem sie sich opferte, wurde sie heil.

„Denn das ängstliche Harren der Kreatur wartet auf die Offenbarung der Kinder Gottes. Sintemal die Kreatur unterworfen ist der Eitelkeit ohne ihren Willen, sondern um deswillen, der sie unterworfen hat, auf Hoffnung. Denn auch die Kreatur wird frei werden vom Dienst des vergänglichen Wesens zu der herrlichen Freiheit der Kinder Gottes. Denn wir wissen, daß alle Kreatur sehnt sich mit uns und ängstet sich noch immerdar.“

Die Rolle der Natur war die Rolle der Frau, die als Sexualobjekt, Gebärende, Erziehende und als Sklavin des Mannes sich aufzehren sollte.

Zeitgleich mit Roger Bacons Wissenschafts-Messianismus entwickelte sich in Nord-Italien die Basis des heutigen Kapitalismus. Bis dahin war Wirtschaft eine autarke Produzentin von Gebrauchsgütern zum guten und genügsamen Leben gewesen, keine hinterlistige Methode zum Reichwerden durch quantitativen Tauschwert. Doch jetzt schlug die Stunde des „Panmensurismus“, die Umwandlung aller Qualität in messbare und vergleichbare Quantität.

Das kalkulatorische Rechnen des Leonardo Pisano wurde die Grundlage sowohl für die Kalkulation der Wirtschaft wie für die beginnende exakte Wissenschaft. Messen, was messbar ist und was es noch nicht ist, messbar machen: die Maxime Galileis zur Erforschung der Natur wurde auch die Grundmaxime der welterobernden Ökonomie.

Die Natur verlor ihre farbige und sinnliche Physiognomie und wurde zu einem Reservoir nackter Zahlen, mit denen man Maschinen produzieren, aber kein lebenswertes Leben führen konnte. Technik wurde im Bereich der Natur, was in der machtakkumulierenden Wirtschaft Kredit, Zins, Zinseszins und sonstige Finessen des Reichwerdens waren.

Wirtschaften, das im Mittelalter und in der Antike dem Unterhalt und der Nahrung diente und keine Tauschwerte, sondern nur Gebrauchswerte herstellte, gehörte, wie die religiös infizierte Naturwissenschaft, zu jener „Säkularisation“ des Abendlandes, die in Wirklichkeit eine Sakralisierung weltlicher Erkenntnismittel war.

Auch die Entdeckungsfahrt des Kolumbus stand unter dem Motto eines Jesajawortes vom „Neuen Himmel“ und der „Neuen Erde“. Im tief empfundenen Auftrage Gottes unternahm der Genuese seine Westreise und betrachtete sein erbeutetes Gold als Pforte zum Paradies. Es waren keine weltlichen, es waren ecclesiogene Antriebkräfte, die sich des Irdischen bemächtigten, die die Abenteurer in die Welt trieben, um den Völkern die Frohe Botschaft zu bringen und sie mit Hilfe der Mission dem Abendland zu unterwerfen.

Die ersten Humanisten der Renaissance, der Wiedergeburt antiken Denkens, erhoben bereits ihre warnende Stimme. Petrarca formulierte den humanistischen Widerspruch gegen die neue Verrechenbarkeit der Natur im Dienste ihrer Domestizierung, sie sei eine Grenzüberschreitung des Menschseins, das sich durch Nachahmung des „unnachahmlichen Blitzes“ als göttliche Macht präsentierte. „Dieser verhängnisvolle Aufbruch des Ungeheuren, der hier zum ersten Male in der Geschichte unbekannte Naturkräfte von unerhörter Zerstörungsgewalt in die Hände des Menschen brachte“, hält bis zum heutigen Tag in wachsender Beschleunigung an.

Doch erst Francis Bacon war der radikale Begründer der Moderne, indem er der Antike den Charakter des Vorbildlichen rabiat absprach. In der Antike war der Mensch die Mitte eines geordneten Alls, durch zyklisches Denken jeglichem Fortschrittsdenken abhold, sodass seine Wissenschaft jeder praktischen Zwecksetzung und jedem Nutzen entfremdet blieb. Bedenkenlos griff Bacon die zweckfreie Wissenschaft der Griechen an und stempelte sie zum Bildungshochmut von Menschen, die sich vor aller Arbeit drückten, um in müßiger Schau ihre heidnische Hybris zu feiern. In einem Zug verwarf er alle Kosmologie von den Hellenen bis zu Campanella und Bruno und setzte die Wissenschaften an ihre Stelle, die Wissen als Macht akkumulieren sollten.

Ziel der Wissenschaft war nicht die Mehrung der Wahrheit, sondern ihrer praktischen Verwertbarkeit. Die Entwicklung des Kompasses und des Schießpulvers – obzwar von Chinesen längst erfunden –, war für Bacon weitaus wichtiger als alle philosophischen Systeme des Altertums zusammen genommen. Die technische Überlegenheit der Europäer über die Wilden Neu-Indiens begründete für ihn die „Gottgleichheit des westlichen homo faber“. Zugleich transformiert er die Weissagung einer jenseitigen Endzeit in ein Zeitalter des Fortschritts.

Das war noch nicht alles. Die „Erdung“ der eschatologischen Jenseits-Sicht in eine diesseitige Wissenschaft wurde für Bacon zur Vision einer „Rückkehr des Menschen in seine Machtstellung vor dem Sündenfall mit Hilfe von Erfindungen und Entdeckungen“. Die Machtstellung des neugeborenen Menschen aus dem Geist der Wissenschaft sollte Natur nach Belieben in ein Instrument des Menschen verwandeln, um sich die Welt nach seinem Bilde untertan zu machen.

Die heidnische ratio als Bewunderin einer unveränderten Natur wurde in der babylonischen Gefangenschaft des christlichen Okzidents zur allseits verfügbaren Hure und Dienerin des göttlichen Mannes, der alle Spuren der Erbsünde durch eine omnipotente Technik bei sich abwusch.

Der Sündenfall war ungeschehen gemacht. Der homo novus der grenzenlosen Zukunftstechnologie hatte durch wissenschaftliche Domestizierung der Natur alle Makel seiner Herkunft getilgt und war zum gleichberechtigten Genossen Gottes aufgestiegen – der zum Sündigen unfähig geworden war. Die Antinomie der christlichen Heilsmoral hatte ihr Ziel erreicht: die Unfehlbarkeit des einstigen Sündenkrüppels. Und wenn er die ganze Welt in Asche verwandelte: es ist heilig und gut.

Die Royal Society sah in Bacon den Moses, der sein Volk ins gelobte Land führen würde und folgte ihm in blinder Ergebung. Wissenschaft war nicht mehr zum Erkennen, sondern um des Nutzens willen da. In ihren Statuten definierte die Royal Society ihre Aufgabe: für die „Mehrung des Wissens von natürlichen Dingen und von allen nutzbaren Künsten, Manufakturen, mechanischen Fähigkeiten und Maschinen durch Experimente zu sorgen – ohne Berücksichtigung von Fragen der Moral, Politik, Grammatik, Rhetorik und Logik.“ Also zum Nutzen auf Teufel komm raus.

Ob das Ganze moralisch, logisch und politisch vertretbar ist, sind Skrupulositäten, die sich eine moderne Wissenschaft nicht leisten könne. Freilich werde der „mechanische Genius“ der Christenheit erst fruchtbar, wenn er seine Macht über die unterentwickelten heidnischen Völker ausdehnte.

Nicht nur die bald beginnende Ökonomie, sondern die Wissenschaft insgesamt wird zum amoralischen Herrschaftswissen. Der heutige Neoliberalismus und die digitalen Genies von Silicon Valley haben nichts Neues erfunden. Sie sind Erben einer fast 1000 Jahre alten unheilvollen Instrumentalisierung griechischen Erkenntnisstrebens im Sklavendienst einer religiösen Erdherrschaft.

Das war eine kurze Erinnerung an die Versprechungen eines Gottes, der nichts hielt und alles seinen Gläubigen überließ. In selbsterfüllender Prophezeiung haben die Geschöpfe viele religiöse Verheißungen in Strukturen der Moderne gegossen. Doch das Heil werden sie niemals herstellen. Das Unheil der unendlich Vielen wird dem Heil der wenigen das Licht ausblasen. Der Mensch darf keine göttlichen Aufträge erfüllen. Er muss tun, was seine autonome Vernunft von ihm fordert.

Gott wurde Mensch, um seine Erwählten zu retten. Das Wort ward Fleisch, das Fleisch war das Volk. Kann man sich einen ehrgeizigeren Populisten vorstellen als einen Gott, der seine überirdische Aura aufgibt, um in Not und Tod seine verlorenen Kreaturen zu erlösen? „Denn er wird sein Volk erretten von seinen Sünden.“

Die Exklusivität der Kinder Gottes wurde von Jesus aufgebrochen, damit das Heil allen Menschen zuteil würde. Doch die unbarmherzige Selektion wurde nicht gestrichen. Die Linie der Auswahl ging jetzt mitten durch die Völker. Viele sind berufen, aber wenige auserwählt. Auch das jüdische Volk war nicht komplett auserwählt. Trotz aller Zusammengehörigkeitsappelle sollten viele Juden verloren gehen. Nur ein heiliger Rest würde das Endziel erreichen. Gott ist kein Freund der Gleichheit. Er bevorzugt jene Ungleichheit, die die heutige Welt in Klassen zerreißt.

Der Hass gegen Populisten nimmt täglich zu. Sie sind zu Sündenböcken aller gegenwärtigen Politdefizite geworden. Das Volk wird zur dümmlichen und kritiklosen Kinderhorde degradiert, der man nach Belieben paradiesisches Nasch- und Zuckerwerk versprechen kann. Jedem Versprechen rennen sie blind hinterher. Die Geister zu scheiden, die Scharlatane von seriösen Problemlösungspessimisten zu trennen; dazu sind Massen nicht fähig.

Populisten nannte man früher Demagogen. Ob Volksführer vertrauenswürdige Autoritäten oder verantwortungslose Volksverführer sind, können ewig unerwachsene Massen niemals unterscheiden. Wer aber vor Populisten warnt, sitzt selbst in der Populistenfalle. Auch er verspricht dem Volk das Blaue vom Himmel, nämlich die unbedingte Wahrheit über die Unlösbarkeit aller komplexen Probleme.

Doch woher kennen sie die Wahrheit, die sie in postmoderner Verblendung lange Zeit verleugnet haben? Sie versprechen etwas, was es aus ihrer Perspektive gar nicht geben kann. Eine strikte Wahrheit wäre für sie just das, was sie hassen wie die Pest: ein „manichäisches“ Schwarz oder Weiß. Dieses bedingungslose Entweder–Oder nannten sie bislang die verdorbene Frucht einer totalitären Vernunft. Und plötzlich soll Hell-Dunkel wieder richtig sein, nur weil sie einen bequemen Sündenbock benötigen, um von eigenen desaströsen Fehlern abzulenken? Wer vor Populisten warnt, will nicht zum Volk gehören.

Mit rasendem Furor müssen die leitenden Klassen vom Irrsinn ihres eigenen Tuns ablenken. Täglich müssen neue Sündenböcke ausgewürfelt werden, damit ihre gottgegebene Macht nicht untergraben wird.

Zuerst wird Volk zur vernunftlosen Rotte erklärt, sodann die Herrschaft des Volkes zur Despotie der Vernunftlosen. Im SPIEGEL kann man bereits die Forderung nach einem Dreiklassenwahlrecht lesen. Man könnte auch den IQ aller Untertanen testen und nach Intelligenz wählen lassen. Das Beste freilich wäre eine Wahl nach dem Kontostand. Dann könnten die Superreichen sich die politische Macht, die sie ohnehin besitzen, nachträglich mit legalen Mitteln aneignen.

Was nichts kostet, taugt nichts, schrieb ein Edelschreiber der FAZ. Der Eintritt ins Leben kann nicht kostenlos sein. Seine Geworfenheit in eine 3 Sterne-Demokratie muss der Mensch sich erst – verdienen.

 

Fortsetzung folgt.