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Europäische Idee LXXIX

Hello, Freunde der europäischen Idee LXXIX,

womit wird die Macht in Demokratien überprüft? Mit Logik. Es gibt nichts Demokratischeres als den angewandten Satz des Widerspruchs. Strenge und laue Widersprüche müssen unterschieden werden. Nur die strengen – kontradiktorischen – schließen sich vollständig aus.

Woran erkennt man Lügner, Blender und Heuchler? Indem man ihre theoretischen Sätze auf Widersprüche überprüft, die Sätze wiederum mit ihrer Praxis vergleicht.

Womit wird demokratische Macht zur Rechenschaft gezogen? Mit öffentlichen Debatten, die mit Hilfe der Logik theoretisch überprüft und durch Mehrheitswahl praktisch entschieden werden. Für eine festgelegte Zeit ist die Abstimmung auf der Agora die endgültige Entscheidung einer politischen Frage.

Der Wahlmodus des englischen NO war katastrophal und entbehrte aller Bedingungen einer sinnvollen Wahl. Weder wurde festgelegt, dass in lebenswichtigen Fragen einer Nation eine Zweidrittelmehrheit erzielt werden und eine satte Mehrheit der Bevölkerung an die Urne gehen muss, damit das Volk die Entscheidung als unverzerrtes Spiegelbild seiner politischen Befindlichkeit anerkennen kann.

Zudem war es Larifari, das Volk nur zum Schein entscheiden zu lassen, die Letztentscheidung aber dem Parlament zu überlassen. Das war demagogisches Kasperle-Theater. Viele Nein-Sager wollten den Oberen nur einen Denkzettel verpassen. Nie hätten sie für möglich gehalten, dass ihr Nein obsiegen könnte.

Hier spielten die oberen Klassen mit verhaltenem Lachen Volkstheater mit dem Volk, das man vordergründig ernst nimmt, in Wirklichkeit aber dem Spott der Außenwelt ausliefert. Hier ließen sich die unteren Klassen von den oberen ein X für

ein U vormachen.

Jedes Volk erlebt, was es verdient. Nur wenn es mit dem Kopf gegen die Wand donnert, kann es aus seinen Fehlern lernen. Lernen kann nie ein garantierter Automatismus sein. Nur Anhänger einer unverrückbaren Geschichte glauben sich in Gottes unfehlbarer Hand.

Merkel hält den Widerruf des Brexit für ausgeschlossen: sie halte sich an die Realität. Realitäten aber sind nie endgültig, wenn sie von Menschen entschieden werden. Womit klar ist, dass Merkels Realität göttlich-unwiderrufbaren Charakter haben muss. Das irdische Geschehen oder das Reich des Teufels ist in Wirklichkeit nur die verkappte Bühne des Reiches Gottes, das in, mit und unter dem Mantel des Bösen das Gute vollstreckt.

Endgültig kann ein Volksentscheid nicht für alle Zeiten sein. Menschen sind lernfähig und können ihre Meinung durch Erfahrungen oder bessere Argumente korrigieren. Bei den nächsten Wahlen, beim nächsten Volksentscheid können frühere Entschließungen widerrufen und durch andere ersetzt werden.

Logik ist ein Hilfsinstrument der Wahrheitsfindung. Nicht im Sinn neuer Lösungsmöglichkeiten und Hypothesen, sondern durch Ausschluss der Unwahrheit, die an kontradiktorischen Widersprüchen erkennbar ist. Logik weiß nicht, was besser ist, doch sie weiß, was schlecht und unwahr sein muss, weil es heute Hü und morgen Hott sagt. Logik kann lediglich die Menge unwahrer Sätze reduzieren, Hypothesen, die wahr sein könnten, kann sie selbst nicht erfinden und beisteuern.

Ein Volksentscheid ist kein logisches Seminar. Man kann nur hoffen, dass viele Meinungen zuerst überprüft wurden, bevor sie praktische Relevanz erhielten. Mehr als hoffen kann man nicht. Insofern ist kein Ergebnis einer Wahl eine unfehlbare Entscheidung. Durch demokratische Erziehung zur ernsthaften Wahrheitssuche sorgt ein Volk dafür, dass seine Abstimmungen immer solider und belastbarer werden.

Würden Menschen in ihren Familien, Kitas und Schulen den Geist kritischen Erkennens lernen, würden sie die Qualität ihrer Demokratie fortlaufend verbessern. Ziel muss sein, die zufällig-quantitative Mehrheit eines Volksentscheids der Qualität des Wahren anzunähern. Glücklich das Volk, dessen Volksentscheide eine nachvollziehbare Lernkurve bildeten. Würden Quantität und Qualität zusammenfallen, lebten wir in der Utopie eines wahrheitsfähigen Volkes.

Platon wollte das Volk durch Philosophen diktatorisch regieren lassen. Das war der Anfang des europäischen Faschismus. Es käme aber darauf an, alle Demokraten so weit zu Selbstdenkern zu erziehen, dass Vernunft ihre politische Praxis bestimmen könnte.

Woran erkennt man die Wahrheit der Menschen? An der humanen Praxis ihres Lebens. Die Wahrheit ist nicht dem Menschen, sondern allen Menschen zumutbar.

Woran erkennt man das Humane? Wenn alle Menschen vor ihrem Tode sagen könnten: das war ein Leben, von dem ich freudig und heiter Abschied nehmen kann. Vor dem Tod ängstige ich mich nicht, er ist die Summa einer proppenvollen irdischen Zeit. Könnte ich noch mal leben, würde ich alles genau so machen. Da capo, irdisches Leben.

Ein Interview mit Bundestagspräsident Lammert beginnt die WELT mit der erstaunlichen Frage:

„Herr Lammert, sind Eliten zu dumm für Politik?“

„Nein. Wieso?“

„Weil viele die Ergebnisse elitärer Entscheidungen für fatal halten. Sie auch?“

„Ich halte Eliten-Entscheidungen in den meisten Fällen für unnötig. Gelegentlich werden sie angesetzt, weil das Volk sich mithilfe dieses Instruments aus der eigenen Verantwortung stehlen will. Es überlässt eine schwierige politische Entscheidung aus Hasenfüßigkeit überspannten Volksführern oder gewählten Populisten, die sich für Erwählte des Himmels halten.“ (WELT.de)

Das war eine Lüge oder die Umdrehung des Interviews ins Gegenteil. Dreht man die Umdrehung wieder zurück, kann man den Urtext rekonstruieren:

„Herr Lammert, ist das Volk zu dumm für Politik?

Norbert Lammert: Nein. Wieso?

Welt am Sonntag: Weil viele die Ergebnisse von Volksentscheiden für fatal halten. Sie auch?

Lammert: Ich halte Referenden in den meisten Fällen für unnötig. Gelegentlich werden Volksentscheide angesetzt, weil Politiker sich mithilfe dieses Instruments aus der eigenen Verantwortung stehlen wollen. Sie überlassen eine schwierige politische Entscheidung aus Hasenfüßigkeit dem Wähler.“

Nach dem Brexit entpuppen sich die deutschen Eliten flächendeckend als Gegner oder Verächter des Volkes, das sie entmündigen, degradieren oder vor sich selber beschützen wollen. Sie kehren zurück in die Tradition deutscher Dichter und Denker, die sich nie für das Volk erwärmen konnten. Nur ein einziges Mal, in der Französischen Revolution, entflammte das Herz der Germanen eine historische Sekunde lang für die rasende Meute. Danach kehrten sie zu ihrem geliebten Platon zurück: wie der Mann das Weib, sollten weise Männer die emotionalen Massen lenken, die nicht wissen, was sie wollen. Erst die Einsicht der Gelehrten und Intellektuellen kann ihnen vermitteln, was sie wollen sollen. Wie die irrationale Frau sich dem kühlen Verstand ihres Göttergatten unterordnen muss, um ihr sentimentales Leben zu meistern, so muss das feminin-vernunftlose Volk sich dem überlegenen Verstand der Oberklassen fügen.

„Es ist eine gefährliche Voraussetzung, dass das Volk allein Vernunft habe“, verurteilt Hegel die westliche Idolisierung der Völker. Das englische Volk sei das am wenigsten politische, sagt der angebliche Freund der britischen Verfassung. Die Völker würden über die Philosophen lachen, und begriffen nicht, dass die Philosophen über sie lachen. Was bei Hegel lachende Philosophen waren, sind heute grinsende Eliten, die noch gebildeter sind als frühere Philosophen, welche in Deutschland von Wirtschaft und sonstigem Kleinkram keine Ahnung hatten. Jeder Betrieb besitzt heute eine eigene Betriebs-Philosophie und muss sich vor keinem Denker schämen.

Voltaire war noch kein Freund des Volkes. Erst die zweite Generation der französischen Aufklärer waren überzeugte Demokraten.

Für Kant war Demokratie ein „Despotismus, da alle, die doch nicht alle seien, beschließen“ würden. Das sei ein Widerspruch des allgemeinen Willens mit sich selbst. In einer Demokratie wolle jeder Herr sein, erklärte der Königsberger, der jeden Menschen zur Mündigkeit und zum Gebrauch des eigenen Kopfes aufgerufen hatte. Doch denken und tun sind für Kant zweierlei. Räsonniert so viel ihr wollt – aber gehorcht, berief sich der Bewunderer Friedrichs des Großen auf den aufgeklärten König Preußens, der zwar selbstdenkende, aber gehorsame Untertanen haben wollte.

Der allgemeine Wille war der volonte generale Rousseaus, der ebenfalls allergisch war gegen bloßes Abstimmen der Menge, deren Willen er abwertend volonte de tous benannte: den quantitativen Willen der zufällig Meisten.

Im Geiste Rousseaus formulierte Schiller in gewählten Worten: man solle die Stimmen wägen und nicht zählen. Heute gibt es vor allem im SPIEGEL wieder Vorschläge, das Dreiklassenwahlrecht einzuführen. Wer am meisten Steuern zahlt, soll am meisten mitreden. Man könnte die Massen auch nach IQ oder Schönheit selektieren. Dann hätte die Berliner Regierung geringe Chancen, erneut gewählt zu werden.

Selbst in wachen Basisgruppen herrscht zurzeit die Neigung zur Einstimmigkeit. Bloße Mehrheiten würden die jeweilige Minderheit unterdrücken. Auch auf höchster EU-Ebene herrscht das absolute Konsensprinzip. Weshalb die desolate Völkergemeinschaft keine Chance hätte, sich sinnvoll weiter zu entwickeln – meinte ein SPIEGEL-Kommentar. Da liegt der Verdacht nahe, dass der Zwang zur Einstimmigkeit eben zum Zweck eingeführt wurde, die Weiterentwicklung der Gemeinschaft zum Stillstand zu bringen.

Wie können Länder unterschiedlicher Interessen in wichtigen Fragen einer Meinung sein? Das Konsensprinzip ist jedoch nur eine Attrappe, hinter der die Mächtigen ihre Strippen ziehen und ihren besonderen Willen als allgemeinen gegen den der Überflüssigen durchsetzen. Merkel herrscht mit dem Konsensprinzip wie eine ungekrönte Königin.

Selbst Linke halten Rousseaus volonte generale für das demokratische Ei des Kolumbus. Er war aber die Wurzel aller totalitären Sozialismen späterer Zeiten. Zur demokratischen Kompetenz gehört die Fähigkeit, als Minderheit den Willen der Mehrheit so lange zu akzeptieren, bis es den Verlierern gelingt, die politische Atmosphäre und die Quoten zu verändern.

Wer Konsens will, will lähmenden Stillstand. Ein fortschreitender Konsens kann nur in einem Volk stabiler Vernunft heranreifen und irrationale Mehrheitsentscheidungen allmählich ad acta legen. Eine utopische Schwarmintelligenz wäre die Meisterleistung einer allgemeinen Vernunft, die von allen getragen wird.

Bei so viel Verachtung der gefühlsgesteuerten Massen oder des irrationalen Großen Rüpels, kann es nicht verwundern, dass im Land der Dialektik das verachtete Volk zum Urvolk, zum Volk aller Völker erhoben wurde, das sich anmaßte, andere Völker und Rassen vom Erdboden zu vertilgen. Mit der Begründung, sie wären eine Bedrohung der Natur und die Feinde der Besten, die nun einmal die Deutschen waren.

„Der Sinn der Revolution, die wir gemacht haben, ist die Volkswerdung der deutschen Nation“, sagte der Propagandaminister Hitlers, ein promovierter, feinfühliger Germanist. Das verachtete Volk erhob sich zum Mittelpunkt der Welt, gesegnet durch einen vom Himmel geschickten Sohn der Vorsehung.

Deutsche kennen nur schreckliche Widersprüche und faule Harmonien – wie man ihren dialektischen Wahn umschreiben könnte. Dialektik ist die Logik denkfauler Kerle, die die Gesetze folgerichtigen Denkens nicht mehr beherrschen. Irgendwie ist alles dialektisch, kämpft alles mit allem und harmoniert am Ende mit allem, dank des versöhnlichen Willens Gottes.

Der Mangel an gesundem Menschenverstand und kritischer Klarheit hat bei den Deutschen zum Verfall der instrumentellen Vernunft geführt. Instrumentelle Vernunft ist die Dienerin der alles frei überblickenden, autonomen Vernunft. Wer Maschinen bedienen kann, weiß noch lange nicht, ob sie ökologisch verträglich sind. Wer Zaster zusammenraffen kann, ist noch lange kein Denker der Gerechtigkeit. Es ist nicht nur bloße Schlamperei, dass die gesamte Infrastruktur der Republik und grandiose Einzelprojekte immer mehr in den Sand gesetzt werden. Sie können es nicht mehr.

Wenn Professoren die zunehmende Dummheit ihrer Studenten beklagen, wenn kaum noch ein Wissenwollender die Chance besitzt, durch Lesen die immer öder werdenden Katheder-Offenbarungen ihrer Professoren zu überprüfen, dann ist das einstige Land der Denker zu Merkels Land bornierter BIPlinge geworden. Merkel kennt nur Wettbewerbskompetenzen, die man ständig optimieren müsse, um in der Welt „eine angemessene Rolle zu spielen“. Die Lutheranerin kriegt den Hals nicht voll. Schon jetzt ist sie die mächtigste Frau der Welt, will sie zur mächtigsten Herrin des Universums aufsteigen?

Was ist das deutsche Volk? Die Gesamtnation minus Eliten. Die führenden Klassen zählen sich nicht zum Volk. Sie schweben in einer aristokratischen Blase oberhalb des Pöbels. Es wäre eine ehrenrührige Beleidigung, Grillo und Zetsche als Volk zu bezeichnen. Wenn‘s hochkommt, definieren sich selbsternannte Eliten als Freunde des Volkes, das man vor sich selber schützen müsse. Dem Volk nützt man durch patriarchalische Zwangsbeglückungen à la Platon. Wie man die Menschheit erlöst durch Schmerzen und Tod, so fördert man das Volk durch Entmündigung und Kastration.

Fast immer war Volk das Gegenteil zu Adel, Klerus, Rittern, Reichen, Mächtigen und Gelehrten. Am Ende rächte sich das verachtete Volk und erhob sich zur überlegenen Blut- und Bodenrasse, die alles ausschloss, was nicht ihrem arischen Niveau entsprach.

Die Nachkriegsreaktion war voraussehbar. Himmelhochjauchzend und zu Tode betrübt. Eben noch das mustergültige Volk der Völker, jetzt ein grauer, ungebildeter und apathischer Massenauflauf, dem man nur unter Mühe das Einmaleins des ökonomischen Siegens durch Schwächung der Schwachen beibringen musste.

Merkels Rezept zur Maximierung der deutschen Wettbewerbsfähigkeiten ist simpel: nehmt‘s den Losern, gebt‘s den Gewinnern und sie werden Europa beherrschen und zu den planetarischen Gewinnern gehören. Die Solidarität der Arbeiterklassen wurde zerfetzt, die bisherigen Proletenparteien am Boden zerstört. Die SPD wurde zur neoliberalen Möchtegernpartei, verlor ihre Gerechtigkeitskompetenz und dümpelt nun im Nirwana der ewigen Mehrheitsbeschafferin der CDU.

Die Kunst der Volksherrschaft besteht im unauffälligen Kampf gegen die Befugnisse des Volkes.

„Weit besser ist’s, sie einzuengen, daß man sie wie Kinder halten, wie Kinder zu ihrem Besten leiten kann. Glaube nur, ein Volk wird nicht alt, nicht klug; ein Volk bleibt immer kindisch.“ Gibt es nennenswerte Unterschiede zwischen Volksverächter Goethe und der elitären Schickeria von heute?

Im demokratischen Urmodell trägt jede Stimme gleich viel bei zur Auszählung des Volkswillens. In modernen Riesenstaaten ist direkte Demokratie nur auf regionaler Ebene möglich. Aus Gründen der Praktikabilität müssen die unübersehbaren Massen an Menschen gebündelt werden zu gewählten Repräsentanten der Vielen.

Das Parlament ist nicht das Gegenteil zur direkten Demokratie, sondern ein Notbehelf derselben unter gigantischen Bedingungen. Wer gewählt werden will, stellt der Bevölkerung sein Programm vor und muss warten, ob es dem Willen der Wähler entspricht. Wer gewählt wird, hat seine Versprechungen gefälligst einzuhalten.

Doch hier baute das Grundgesetz eine Schutzmauer gegen das Volk ein – für den Fall, dass dieses zu ernst nehmen sollte, was die Kandidaten versprachen. Wird der Gewählte seinem Versprechen untreu, entdeckt er sein Gewissen und treibt, was er will. In hiesigen Breitengraden ist Gewissen die Stimme Gottes, das Mit-wissen des himmlischen Über-Ichs. Heiden und Gottlose kennen kein Gewissen, denn sie haben keinen omnipotenten Gott. Man stelle sich vor, demnächst entdeckten Abgeordnete muslimischen Glaubens ihr Korangewissen, um Gesetzesvorlagen in Richtung Scharia zu drängen. Eine christliche Kontaminierung des Politischen ist nicht nur erlaubt, sondern wird religiös geadelt.

„Lammert: »Der Begriff des Volksvertreters findet sich im Grundgesetz. Die Abgeordneten sind demnach Vertreter des ganzen Volkes, allein ihrem Gewissen verpflichtet und an Aufträge oder Weisungen nicht gebunden. Das heißt, nach ihrer Wahl sind sie streng genommen weder Vertreter ihrer Partei noch ihres Wahlkreises. Nimmt man das wirklich ernst, könnten die Parlamentarier mehr Souveränität zeigen.«“

Fraktionszwang ist mittlerweilen zur heiligen Pflicht geworden, doch eigene Versprechungen kann man mit Verweis auf das eigene Gewissen nach Belieben brechen und verfälschen. Das Gewissen wurde zum legalen Einbruchstor der Böckenförde-Doktrin. Demokratie muss religiös infiltriert werden, damit sie durch Heiligen Geist zu sich kommen kann.

Was war ein Populist? Jemand, der etwas verspricht und nichts hält? Das Grundgesetz legalisiert den Wortbruch gewählter Populisten und segnet ihn ab durch Berufung auf eine christliche Scharia. Wer sein Wort gab und nicht hält, muss die Konsequenzen ziehen und sich aus dem Staube machen wenn er noch ein bisschen Aufrichtigkeit in seinem demokratischen Gewissen kennt. Er muss sein Mandat stante pede zurückgeben. Das Gewissen mündiger Menschen ist die Stimme der Vernunft, die keinen Spezial-Offenbarungen folgt, sondern den Maximen einer allgemeinen Moral.

Da Volk immer das Gegenüber – besser: das Unterhalb – der Eliten darstellt, zerfällt deutsche Demokratie a priori in zwei Parallelklassen, die immer weniger gemein haben. Außer, dass Führungskasten den Parias zeigen müssen, wo Bartels den Most holt. Längst sind wir zur Neuauflage einer früheren feudalen Gesellschaft regrediert, in der Adel & Klerus sich wesensmäßig vom niederen Volk unterscheiden. An die Stelle des Adels traten Reiche, Politiker und Medien; an die Stelle des Klerus algorithmische Risikospieler und Zukunftsspekulanten.

Das Gewissen der Demokraten ist die allen Menschen gemeinsame Vernunft, deren unbestechliches Prüfmittel die Logik ist.

Geht es nach der Logik, müsste die Kanzlerin – im Nebenberuf Physikerin – schon längst ihr Bündel gepackt haben. Im „Sommerinterview“ des ZDF behauptet sie, ohne zu erröten:

„Ich stehe zu jeder der Entscheidung, die ich, die wir, die die Bundesregierung getroffen haben“, sagte die Kanzlerin und CDU-Vorsitzende mit Blick auf die Flüchtlingspolitik.“

Sagte sie vor kurzem nicht den vollmundigen Satz: „Wir schaffen das? Eine Obergrenze lehne ich kategorisch ab?“ Und wie ist die Situation der Flüchtlinge heute? Katastrophal:

„Tatsächlich kommt die Lösung der weltweiten Flüchtlingskrise überhaupt nicht voran. Nichts läuft in geordneten Bahnen. Tatsächlich gibt es immer mehr Flüchtlinge, tatsächlich ist die Welt nicht friedlicher geworden, tatsächlich tobt der Krieg in Syrien weiter mit unverminderter Gewalt. Nur eines hat sich geändert: Viele Flüchtlinge kommen nicht mehr nach Europa, weil sich Europa konsequenter abgeschottet hat mithilfe des Türkei-Deals und durch die Schließung der Balkanroute.“ (SPIEGEL.de)

Merkel gelingt es, sich in einem kurzen Gespräch fundamental zu widersprechen. Einerseits will sie ihr früheres Versprechen nicht gebrochen haben, andererseits erklärt sie unverblümt:

„Europa muss aus Sicht von Merkel etwas gegen das tausendfache Sterben von Flüchtlingen insbesondere im Mittelmeer unternehmen. „Wir können Menschen nicht zumuten, dass sie unter unsäglichen Umständen zu uns kommen, und Hunderte, im Mittelmeer sogar Tausende ihr Leben verlieren“, sagte sie. Deshalb müsse illegale Migration unterbunden werden.“ (BILD.de)

Wir schaffen es, ohne Obergrenzen Flüchtlinge aufzunehmen, indem wir sie an den Außengrenzen Europas gewalttätig abwimmeln. Eine Meisterleistung populistischer Logik und Heuchelei.

Wenn Medien gegen linke und rechte Demagogen wettern, lenken sie nur ab von den Mitte-Populisten, die alles versprechen und nichts halten. Und dies mit Verweis auf ihr christliches Gewissen. Eine christliche Lüge ist eine heilige und geschieht in demütigem Gehorsam gegen Gottes Willen.

Die Eindeutigkeit der Sprache haben die Europäer mit phantastischen Deutungen und Verfälschungen der Heiligen Schrift außer Kraft gesetzt. Nun folgt der nächste Schritt rationaler Selbstentleibung: die Verspottung und Verhöhnung der unerbittlichen Logik.

Versteht sich, dass kein ZDF-Interviewer es wagt, der Kanzlerin ihren logischen Bankrott zurückzumelden. Nur scheinkritische Fragen dürfen gestellt werden. Das gebietet die „Fairness“ deutscher Medien, die sich selbst zum Lager der Eliten zählen. Echte Kritik wäre Selbstkritik das ist mit dem Staatsvertrag der Öffentlich-Rechtlichen nicht vereinbar.

Wenn Logik die unterste Bedingung der Wahrheit, Wahrheit die oberste Bedingung des gelingenden Lebens ist, läutet die sterbende Logik den Untergang der Demokratie ein.

Bimbimbim, hört ihr das Totenglöckchen in der Ferne klirren?

 

Fortsetzung folgt.