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Europäische Idee LXXI

Hello, Freunde der europäischen Idee LXXI,

wo ist Europas Königin? Der Kontinent zerbirst, die Kanzlerin ist verschwunden. Was sie über den drohenden Abgang der Briten denkt, muss Staatsgeheimnis bleiben. Ihre Europapolitik liegt in Trümmern, ihre Flüchtlingspolitik ist gescheitert – und sie tritt nicht zurück. Ihr Innenminister lügt – und tritt nicht zurück. Ihr Kabinett ist heillos zerstritten – und tritt nicht zurück.

„Ich muss ganz ehrlich sagen, wenn wir jetzt anfangen, uns noch entschuldigen zu müssen dafür, dass wir in Notsituationen ein freundliches Gesicht zeigen, dann ist das nicht mein Land.“

Schland, Schland, nimm deine Herrin beim Wort und lass dich von ihr scheiden: „okay, dann bist du eben nicht mehr unsere Kanzlerin“.

Warum denn nur? Ein freundliches Gesicht zeigt sie doch unentwegt – auch wenn ihre Taten in Barbarei versinken. Ganz Europa sagt nein und überlässt Flüchtende aus Elend und Not dem Tod – doch Merkel zeigt ein freundliches Gesicht. Die europäischen Grenzen werden zu Land, Wasser und aus der Luft hermetisch abgeriegelt – Merkel macht ein freundliches Gesicht. Erdogan bedroht deutsche Abgeordnete – Merkel zeigt ihr freundliches Gesicht. Östliche Staaten verhöhnen Menschenrechte – Merkel zeigt ihr freundliches Dauergesicht. Nur kein Neid, sie ruht in sich, denn sie ruht in ihrem himmlischen Vater, der alles bewirkt, das Gute und das Böse, Sein Name sei gepriesen.

„Ist auch ein Unglück im Land, das der HERR nicht tue?“

Was der Herr tut, lässt er durch die Seinen ausführen:

„Längst verlaufen die Grenzen der europäischen Menschlichkeit nicht mehr quer durch Europa, sondern um Europa herum. Am Mittelmeer entlang, wo in diesem Mai so viele gestorben sind wie noch nie zu dieser Jahreszeit. Europas Regierungen

überwachen das Mittelmeer mit Satelliten, sie schicken Drohnen nach Nordafrika. Sie bereiten Grenzschutzverträge vor, auch mit Diktaturen wie Ägypten und dem Sudan. Sie drängen auf einen Deal mit Libyen, sie denken darüber nach, dort Gefängnisse zu finanzieren, in denen Flüchtlinge eingesperrt werden.“ (Caterina Lobenstein in ZEIT.de)

„Die deutsche Nation ist, vermöge ihrer Bevölkerung, die beynahe die Hälfte von Europa ausmacht, durch ihre Lage im Mittelpunkte Europens, und noch mehr durch ihren edeln und großmüthigen Charakter bestimmt, die erste Rolle in Europa zu spielen, sobald sie unter einer freyen Regierung in einen einzigen Körper vereint seyn wird. Wenn die Zeit gekommen seyn wird, wo die englisch-französische Gesellschaft durch den Zutritt Deutschlands sich vergrößert, wo man ein allen drey Nationen gemeinschaftliches Parlement errichtet, dann wird der Wiederaufbau der übrigen europäischen Staaten schneller und leichter von Statten gehen, denn diejenigen Deutschen, welche man berufen wird, an der gemeinschaftlichen Regierung Theil zu nehmen, werden in ihre Meinungen jene Reinheit der Moral, jenen Seelenadel übertragen, der sie auszeichnet, und durch die Macht des Beyspiels werden sie die Engländer und die Franzosen zu sich erheben, die ihres Handels-Verkehrs wegen mehr an ihre eigene Person denken, und sich nicht so leicht von ihrem Privat-Interesse losmachen können, dann werden die Prinzipe des Parlements freysinniger, ihre Arbeiten uneigennütziger, ihre Politik den übrigen Nationen günstiger seyn.“ So schreiben Henri de Saint-Simon und Augustin Thierry vor 200 Jahren voller Bewunderung über den deutschen Volkscharakter (zitiert in „Europa, Analysen und Visionen der Romantiker“, hrsg. von Paul-Michael Lützler)

So edel und uneigennützig schätzten Franzosen die Deutschen ein, solange ihre Nachbarn keine politische Macht waren, sondern das seltsame Land der Dichter und Denker, hochgerühmt von Madame de Stael, der erbittertsten Feindin Napoleons. Die Deutschen sollten das moralische Gegengewicht bilden gegen die eigennützig-wirtschaftlich denkenden Franzosen und Engländer. In einem vereinigten Europa wären sie das leuchtende Vorbild für die ökonomischen Egoisten-Staaten.

Heute sind es die Franzosen, die am meisten Wert legen auf gerechte Löhne – ausgenutzt vom Land aufgestiegener Proletenführer und einer Pastorentochter, die die „Wettbewerbsbedingungen“ der Nationen durch Schädigung ihrer eigenen Lohnabhängigen verbesserten, um den Franzosen und anderen Konkurrenten ein Schnippchen zu schlagen.

Wettbewerbsbedingungen im Kapitalismus verbessert man, indem man Konkurrenten hintergeht und Betrug als Fairness ausgibt. Hollande muss sich sputen, um seine sozialistischen Fisimatenten abzulegen, damit sein Land mit nachbarlichen Wettbewerbsbetrügern gleichziehen kann. Es sind immer dieselben Wirtschaftsignoranten, die in nuit debout und anderen Lärmveranstaltungen die eisernen Gebote der Eigennützigkeit – der führenden Klassen – missachten und blauäugig Gerechtigkeit fordern.

Merkel hintergeht schamlos ihren besten Freund Hollande – und denkt nicht daran, zurückzutreten. Ein echter deutscher Mann kann keinen Franzen leiden. Doch ihre Weine trinkt er gern. Eine echte deutsche Frau noch weniger, doch ein freundliches Gesicht zeigt sie allemal.

Nicht die deutsche Moral – die es als politische nie gab – hat sich durchgesetzt, sondern der gesamteuropäische Amoralismus der Ökonomie. Für Hayek, den Ober-Ideologen des europäischen Stechens und Hauens aller gegen alle, darf der Mensch sich Moral nicht nach Gutdünken aussuchen:

„Wir sind gezwungen, um die Welt am Leben zu erhalten, uns gewissen moralischen Regeln zu unterwerfen, die beispielsweise dem Sozialismus widersprechen“. Hayek, der Sozialismus mit Gerechtigkeit gleichsetzt, glaubt, dass ein gerechtes System „zum Massensterben der Menschheit führen werde, weil wir in einem gerechten System nicht in der Lage wären, die vielen Millionen (heute: Milliarden) Menschen am Leben zu erhalten.“ Soziale Gerechtigkeit verhöhnt Hayek als „Illusion“, als „Fata Morgana“ oder als „Atavismus“, geleitet vom Wunsch nach „Rückkehr in primitivere Gesellschaftsformen“. Als da sind Familien und Sippen, die noch von der Illusion gegenseitigen Akzeptierens leben. Kein Wunder, wenn es im Hayek‘schen Europa um die systematische Zerstörung stabiler persönlicher Beziehungen in Familien und Großfamilien geht, die man als hinterwäldlerische Dinosauriereinrichtungen bewerten muss.

(Zusatz für Schlaumeier: Familie ist keine Erfindung des Christentums. Christliche Familien sind Herrschaftsbereiche des himmlischen und weltlichen Mannes mit Unterwerfung der Frau und autoritärem Drill der Kinder.)

Was darf‘s denn sein, wenn‘s eine Moral nach menschlichen Kriterien nicht sein darf? Man muss sich an die Welt halten, wie sie ist. Und wie ist sie? „Es gibt einen weiten Bereich kultureller und sozialer Errungenschaften, die der Mensch weder planen noch verstehen könne, sondern die er nur aufnehmen könne, um das Richtige zu tun, ohne die sozialen Regeln der Welt völlig zu verstehen.“

Die Welt, das Überkomplexe und Vernunftüberschreitende, ist nichts für einfache Lösungen. In diesem Hayek‘schen Dogma, dem ideologischen Kern der Gegenaufklärung, liegen die Grundlagen des heute so beliebten Spiels gegen die „Populisten einfacher Lösungen“. So im heutigen SPIEGEL-Kommentar von Henrik Müller:

„Die Komplexitätskrise ist nicht nur ein europäisches Problem, sondern ein westliches. Sie spielt den großen Vereinfachern in die Hände. Populistische Politiker scheuen sich nicht, simple Lösungen für komplexe Probleme zu versprechen – von Donald Trump über Boris Johnson bis Viktor Orbán. Ihr Appeal besteht darin, dass sie in einer globalisierten, hochtechnisierten Welt, die schwer zu durchschauen und manchmal schlicht unberechenbar ist, all die komplizierten und gelegentlich widersprüchlichen Fakten ausblenden und einfache, allgemein verständliche Geschichten erzählen.“

Die Vereinfacher wären die Totengräber Europas und der Vernunft, so der Komplexdenker Müller.

„Die Antwort auf eine zentrale Frage allerdings bleiben die Populisten schuldig: Wie kann eigentlich auf Dauer eine Demokratie funktionieren, wenn die Vernunft in der politischen Auseinandersetzung keine Chance mehr hat?“

Merkwürdig, wie will Müller der Vernunft eine Chance geben, wenn er sie gerade abgeschafft hat?

Vernunft ist die Fähigkeit, die Welt prozessweise zu verstehen und das menschliche Zusammenleben nach menschlichen Maßstäben zu gestalten. Genau das bestreiten Hayek und sein heutiger Schüler. Merkwürdig auch, dass der Name des Vordenkers Hayek nirgendwo fällt. Die Ökonomen kennen gerade noch seinen Namen. Da sie keine Bücher lesen können, wissen sie nicht, was er geschrieben hat. Da sie nur rechnen können, lehnen sie es ab, den Streit der Meinungen mit ausformulierten Gedanken auszutragen. Jeder Übergangssatz zwischen zwei Gleichungen fällt ihnen schwer.

Aufklärung war keineswegs der Meinung, der Mensch könne die ganze Welt verstehen. Solche Dinge glauben nur Männerreligionen, die an die Stelle des Erkennens den Glauben setzten. Dennoch waren die Freunde der Vernunft davon überzeugt, so viel von der Welt zu erkennen, dass der Mensch ein gutes Leben in Gemeinschaft führen könne. Das war die Erfindung der Demokratie in Athen, von der heutige „Demokraten“ – ja, selbst Althistoriker – nichts mehr lernen können. Kein Wunder: wenn sie die Vernunft abschaffen und das Unerklärbare anbeten.

Sokrates sagte nie: ich weiß, dass ich nichts weiß, sondern: ich bilde mir nicht ein, etwas zu wissen, wenn ich es nicht weiß. Lernen und Erkennen ist die Fähigkeit, zwischen Wissen und Nichtwissen mit Hilfe der Logik und überprüfbarer Sensualität zu unterscheiden.

Hayek, Müller und die neoliberalen Gegenaufklärer sind auf das Niveau des Kirchenvaters Tertullian zurückgefallen, dessen Credo er knackig so formulierte: ich glaube, weil es absurd ist. Dieser Glaubenssatz wurde zur Grundlage der modernen Ökonomie: sie glauben an den Markt, weil er absurd ist und sie ihn nicht verstehen können, sondern sich ihm gehorsam beugen dürfen. Das Beuge-Bedürfnis ist das beherrschende der neoliberalen Charakterbildung.

Wie man früher – und heute wieder bei Merkel – sich gehorsam der Obrigkeit untertänig machte, so unterwirft man sich heute dem überkomplexen – sprich göttlichen – Markt. Wer einfache Lösungen verspricht, entspricht dem weltlichen Ketzer, der sich anmaßte, mit Hilfe seines irdischen Verstandes den Glauben an das Heilige zu verabschieden. Forscher haben Genaueres über die Entstehung der Welt erkannt als alle mythischen Weltentstehungsmärchen zusammen.

Wie heute der Name des Urvaters Hayek verschwiegen wird, so auch der Begriff der Gegenaufklärung. „Aufklärung“ wird heute als Kontrastfolie benutzt, um den Übergang zum allwissenden Glauben zu rechtfertigen: Experte, wie kann der Verfall Europas und der Welt erklärt werden, da wir die ganze Zeit an Vernunft und Aufklärung – glaubten?

Auch die Linken als Gegner Hayeks denken nicht daran, sich als Aufklärer zu bezeichnen, um die neoliberale Gegenaufklärung im Namen der Vernunft in die Flucht zu schlagen. Haben sie doch das Wort ihrer Frankfurter Matadore im Ohr, Aufklärung sei totalitär. Kein Wunder, dass Horkheimer im Schopenhauer‘schen Pessimismus und Adorno in der Erlösung landeten.

Da die Linken ihr Bewusstsein für irrelevant halten, fühlen sie sich nicht genötigt, die überlieferten Gedanken ihrer Autoritäten zu erinnern und durchzuarbeiten. Auch für sie ist das Sein zu komplex, als dass sie in der Lage wären, es auf die schmale Ebene ihres Bewusstseins „herunterzubrechen“. Abgesehen von Verteilungsfragen des Profits, sind Linke auch nur praktizierende Hayekianer. Es lebe die Unerkennbarkeit der Welt und die Unfähigkeit der Vernunft. Oder kurz: das komplexe Sein bestimmt das simple Bewusstsein.

Wir leben in einer dunklen Welt und müssen uns blind tastend an zufälligen und unberechenbaren Ecken und Kanten der Welt orientieren. Merkel würde von durchwursteln reden. Der unerkennbare Markt erklärt uns nichts, er dirigiert: was er auszeichnet, zeichnet er aus. Was er verwirft, verwirft er:

O Mensch, jawohl, wer bist du, dass du mit dem Markt rechten willst? Oder hat der Markt nicht Macht über den Konsumenten, aus der nämlichen Masse den einen zum Gefäss des Reichtums und der Ehre und den anderen zur Hartz4-Verachtungsmasse zu machen?

Der Markt ist wie Gott: weder lässt er sich berechnen, noch mit Vernunft beherrschen. Man muss sich ihm beugen:

„Ich wandte mich und sah, wie es unter der Sonne zugeht, daß zum Laufen nicht hilft schnell zu sein, zum Streit hilft nicht stark sein, zur Nahrung hilft nicht geschickt sein, zum Reichtum hilft nicht klug sein; daß einer angenehm sei, dazu hilft nicht, daß er ein Ding wohl kann; sondern alles liegt an Zeit und Glück.“ Hayeks Lieblingsstelle im Buch des Predigers.

Gibt es keine gestaltbare Gerechtigkeit, walte das raffgierige Verhängnis: „Die Verdrängung des auf den Nächsten ausgerichteten Altruismus durch Gewinnstreben, durch das der einzelne unbeabsichtigt positive Wirkungen auslöst, wird zum Kennzeichen einer Evolution, die eine gemeinsame Moral durch gemeinsame Nützlichkeitsregeln ersetzt. Das bedeutete nicht nur eine fortschreitende Veränderung des Charakters der moralischen Verpflichtungen, sondern vielfach sogar eine Unterdrückung des eingefleischten moralischen Impulses durch neue, die dem Individuum nun nicht mehr angeboren waren, sonder die es erst lernen musste.“ „Altruistische Sozialisten“ seien wir alle von Natur aus, doch diese Natur müsse radikal ausgerottet werden. Das Menschsein bestünde darin, all jene Impulse rücksichtslos zu eliminieren, die uns verpflichten, „zunächst für den Nachbarn zu sorgen, bevor wir der Welt Leistungen anboten“. (Alles nach der Biografie über Hayek von H. J. Hennecke)

Kann es irgendjemanden verwundern, dass die Hayek-Ökonomen in regelmäßigen Abständen die Welt in den Abgrund reiten, wenn sie selbst gestehen, nichts von dem undurchdringlichen Markt zu verstehen? Sie versprechen hoch und heilig, keine Lösungen zu haben, dafür wollen sie gewählt werden. Warum nicht gleich einen Wettbewerb in Inkompetenz durchführen? Der Begriffsstutzigste und Bornierteste soll es werden, Halleluja. Hätten wir unter diesem Maßstab momentan nicht die Richtigen gewählt? Heil uns, alles geht schief, gottlob sind die Eliten überfordert.

Halten wir fest: Probleme, die von Menschen gemacht werden, sind von Menschen immer lösbar. Gabriel fordert von Merkel mehr Populismus, wenn er sie drängt, ihre Partei mehr nach rechts zu rücken – um die Rechten wieder einzufangen: der Populismus der Mitte bleibt unantastbar. Doch es wird Zeit, den Begriff Populismus als demokratischen Urwert auszuzeichnen. Wer nichts fürs Volk tun will, ist Auserwählter à la Hayek. Zu durchschauen, ob jemand Trügerisches verspricht, muss dem Volk – also jedem Einzelnen – überlassen werden. Wer keine Lösungen für die menschlichen Probleme sieht, ist entweder Er-Löser oder Apokalyptiker. Also beides.

Sind die Dinge des Daseins undurchdringlich und unlösbar, benötigen wir das Wunderbare, um es in Zukunft zu lösen. Wir benötigen brillante Maschinen, die die Intelligenz des Menschen übersteigen. Jetzt schlägt die Stunde der drei deutschen Weisen aus dem Morgenland, die in der schlichten Krippe das Außerordentliche erschauen.

Vor vielen Jahren war Claus Kleber, wiedergeborener ZDF-Moderator, bereits in Silicon Valley – und sah nur einen einsam vor sich hin bastelnden Freund des Digitalen. Jetzt war er wieder dort – und siehe, der Glanz des Heilandmäßigen erstrahlte aus der Krippe in die ganze Welt. In der Tradition deutscher Prophetenentdecker à la Schirrmacher, Augstein, Diekmann, Döpfner und vielen anderen, bewundert Michael Hanfeld den Bewunderer des kalifornischen Bethlehem, das alle Regierungen dieser Welt um Längen schlägt und die Zukunft des Planeten totalitär bestimmt:

„Mit der DNA von Viren fängt es an, mit kompletten Organismen wird es enden. „Die DNA wird redigiert wie ein Word-Dokument“, sagt Kleber. Die Unternehmenschefin Jennifer Doudna meint, sie wünsche sich darüber eine transparente, weltweite Diskussion. Doch die gibt es schon allein deshalb nicht, weil das Silicon Valley das Rennen vom Hasen und vom Igel immer wieder gewinnt. Bevor über gesellschaftliche Folgen auch nur ansatzweise debattiert werden kann, ist die Entwicklung schon da und schafft Fakten. Die Regierung sei langsam und das sei auch einer der Gründe, warum das Silicon Valley so erfolgreich ist.“ (FAZ.NET)

Die Deutschen, einst Weltmeister in totalitärem Faschismus, bewundern erneut denselben, wenn er als unaufhaltsamer technischer Fortschritt verpackt wird. Demokratisches Abstimmen über die Zukunft der Welt? Da lachen alle Hühner im Mekka der Erfinder, die nichts weniger – als die Menschen abschaffen wollen. Das wäre kein Völkermord, das wäre ein Gattungsmord mit algorithmischen Methoden.

Amerikas Offenbarungen schwappen unaufhörlich nach Europa und die Deutschen beten an. Erneut sind sie Mitläufer unheilvoller Entwicklungen, die unvermeidbar über uns kommen werden. Hanfeld schreibt im uraltdeutschen Stolz quietistischer Messias-Erwartungen. Wie er sprachen alle Bengels und Oetingers aus Schwaben, als sie die Ankunft des Herrn mit genauem Datum prophezeiten:

„Das Unwiderrufliche ist im Silicon Valley schon längst im Gange.“

Plötzlich ist das Komplexe nicht mehr unlösbar – freilich nur für das Wunder, das aus Neu-Kanaan kommen muss. Da lässt sich der SPIEGEL von der FAZ nicht übertreffen. Der amerikanische Wundermann und Sozialpsychologe Sheldon Solomon hat die einfache und geniale Erklärung für alles menschliche Verhalten:

„Journalisten suchen nach Gründen für das Verhalten Einzelner, das kann kompliziert sein, und da ist es erfreulich, von einem Wissenschaftler zu lesen, der behauptet, dass alles menschliche Handeln sich tatsächlich aus einer einzigen Quelle speise. Der amerikanische Sozialpsychologe Sheldon Solomon sagt: »Das Bewusstsein unserer Sterblichkeit ist der Dreh- und Angelpunkt unseres ganzes Verhaltens.«“ (SPIEGEL.de)

Wo liegt die Ursache alles menschlichen Verhaltens? Im Bewusstsein der Menschen, dass sie sterben müssen. Mit anderen Worten: Menschen verhalten sich, weil sie Menschen sind. Eine unerhörte, noch nie da gewesene, rasende Genieleistung.

Das Überkomplexe ist nicht nur einfach, es ist simpel geworden. Jeder europäische Trottel-Philosoph wie Heidegger, der das Sein zum Tode predigte, kann sich heimgeigen lassen. Memento mori, sagte das Mittelalter, um dem Leben schon hienieden abzusterben. Lerne sterben, um richtig zu leben, erklärte Platon. Alles Mumpitz in den Augen messianischer Fundamentalisten mit Spezialausbildung.

Haben deutsche Medien keine Wissenschaftstheoretiker in ihren Reihen, die Popper gelesen haben? Da wundern wir uns, dass in Deutschland Brücken einstürzen, Flughäfen und Bahnhöfe nicht vollendet werden – und keiner versteht: warum? Es ist derselbe Grund, warum deutsche Edelschreiber jeder Scharlatanerie zum Opfer fallen, wenn sie nur in digitaler und eschatologischer Kostümierung aus dem fernen Wunderland herüberweht.

Wenn Populismus ein Schimpfwort ist, kann das nur bedeuten, dass populus schimpflich geworden ist. In BILD, jener Edelgazette, die sich vor kurzem erkühnte, das Volk zu sein („wir sind das Volk“), degradiert der Historiker Michael Wolffsohn den Demos zur wütenden und irrationalen Meute, die man an die Kandare legen müsse. Nach Hobbes ist der Mensch dem Menschen ein Wolf, eine Volksabstimmung mit Wölfen müsse unterbleiben. Es sei brandgefährlich, das Volk über wichtige Lebensfragen der Nation entscheiden zu lassen:

„Hände weg von Volksentscheiden. Von Volksentscheiden bei nationalen oder internationalen Grundsatzfragen wie dem Brexit. Volksentscheide sind mordsgefährlich!

Auch Schiller muss herhalten, um die Gefährlichkeit des Pöbels zu beweisen. Doch nicht der junge Schiller, der Freund der Französischen Revolution, sondern der Enttäuschte und Verhärmte, der sich von Volk, Politik und Demokratie abgewandt hatte:

»Wo rohe Kräfte sinnlos walten, / Da kann sich kein Gebild gestalten, / Wenn sich die Völker selbst befrein, / Da kann die Wohlfahrt nicht gedeihn.«

Der resignierte Schiller war zum Propagandisten der deutschen Innerlichkeit geworden, die den hörigen Untertanen pries und jeder autonomen Empörung von Unten die rote Karte zeigte.

Der Angstpegel der gegenwärtigen Eliten vor dem Volk steigt. Augstein wollte das Volk vor sich selber schützen, Wolfssohn erinnert mit dem Rohrstock an den totalitären Hobbes. Wenn jeder des andern Menschen Wolf ist, muss eine allmächtige Obrigkeit mit Gewalt für die nötige Ordnung im blutrünstigen Rudel sorgen. Mit diesen Ansichten steht Hobbes „in vollem Gegensatz zu den Ansichten Lockes und Montesquieus. In Hobbes System sind die Machtbefugnisse des Herrschers unbegrenzt.“ (Bertrand Russell, Die Philosophie des Abendlandes)

Wer das Volk abstimmen ließe, würde den Parlamentarismus abschaffen. „Der Parlamentarismus schafft sich auf diese Weise selbst ab. Die Parlamentarier sägen den Ast ab, auf dem sie und wir alle bestens leben und überleben. Jo Cox würde noch leben, wenn man das bedacht hätte.“ (Wolffsohn in BILD.de)

Wer ist schuld am Tode der englischen Abgeordneten? Der große Rüpel. Parlamentarier sollen den Volkswillen nicht realisieren, sondern ihn stutzen und knebeln. Eliten werden zu Despoten des Volkes. Obgleich sie die Hauptschuldigen für den Absturz Europas sind, werfen sie alle Schuld hemmungslos aufs Volk, das sie zum Sündenbock der Nation machen. Freiheit und Gleichheit, die Parolen der Revolution, werden zu Losungen des alles niederreißenden, wahnhaften Pöbels.

„Freiheit und Gleichheit! hört man schallen;
Der ruh‘ge Bürger greift zur Wehr,
Die Straßen füllen sich, die Hallen,
Und Würgerbanden ziehn umher, …
Nichts Heiliges ist mehr, es lösen
Sich alle Bande frommer Scheu;
Der Gute räumt den Platz dem Bösen,
Und alle Laster walten frei.
Gefährlich ist’s, den Leu zu wecken,
Verderblich ist des Tigers Zahn;
Jedoch der schrecklichste der Schrecken,
Das ist der Mensch in seinem Wahn.“

Was hilft gegen den gottlosen Mob? Der Ruf der Glocke ruft die Innerlichen zum Gebet:

„Doch der Segen kommt von oben.“

Über die Segensgrüße des martialisch-frommen Bundeswehr-Historikers wird sich die Königin Europas gefreut haben. Die himmlische Glocke wird die Erweckung der BRD in ein Land des Glaubens mächtig beschleunigen:

„Hoch überm niedern Erdenleben
Soll sie im blauen Himmelszelt,
Die Nachbarin des Donners, schweben,
Und gränzen an die Sternenwelt,
Soll eine Stimme seyn von oben,
Wie der Gestirne helle Schaar,
Die ihren Schöpfer wandelnd loben.“

Wer national gesinnt ist, lernt das Gedicht auswendig. Hierauf die Deutschlandhymne. Solche Forderungen zu stellen, würde sich die AfD nicht trauen.

 

Fortsetzung folgt.