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Europäische Idee LXVIII

Hello, Freunde der europäischen Idee LXVIII,

in einer groß angelegten TV-Debatte der BBC mit den wichtigsten EU-Politikern konnten europa-allergische Briten ihre kritischen Fragen direkt an die Vertreter Brüssels stellen. Merkel und ihre Assistenten Junker und Tusk stellten sich tapfer den angestauten Ressentiments der Insulaner. Mit Herzblut warben sie um die Sympathien der Fluchtwilligen: „Bitte geht nicht. Wir brauchen euch.“

Doch ach, es war nicht Merkel, es war nur der SPIEGEL, der um England warb. Die Mächtigen Europas müssen eisern schweigen, damit sie nicht den Eindruck erwecken, sich in Angelegenheiten zu mischen, die sie nichts angehen.

Das öffentliche Klima zwischen den EU-Partnern ist derart angespannt und feindselig, dass selbst freundschaftliche Meinungen als unliebsame Machtäußerungen zurückgewiesen werden. Das Prügeln der Hooligans zeigt den wahren aggressiven Pegelstand zwischen den Nationen. Wozu hat man den Pöbel, wenn nicht, um die verdrängten Hassgefühle der führenden Klassen auszuagieren?

Was bedeutet es, wenn die älteste und erfahrenste unter den europäischen Demokratien dem Festland den Korb gibt? Verletzte Eitelkeit einer einstigen Weltmacht, die ihre Rolle zwischen Amerika und Europa nicht finden kann? Was, wenn sie noch lebten, würden die Aufklärer Bertrand Russell und Karl Popper zum Brexit sagen?

Längst wurden die Stimmen der Vernunft durch die Herrschaft messianischer Ökonomen und Techniker erstickt. Sind es nur Ressentiments, die die britischen EU-Gegner leiten? Oder haben sie berechtigte Argumente, um den desolaten Zustand der europäischen Völkerdemokratie anzuprangern?

Nur Ressentiments? Was unterscheidet Sentiments von Ressentiments? Ein

Sentiment ist ein Gefühl, ein Re-Sentiment ein Gegen-gefühl, es ruht nicht autonom in sich selbst. Es re-agiert auf anderes, also ist es abhängig von anderem: es ist fremdbestimmt.

Trotzköpfe neigen dazu, das Gegenteil dessen zu tun, was man von ihnen erwartet. Listige Autoritäten gehen paradox vor, um ihre Neinsager wirksam zu manipulieren. Sie sagen das Gegenteil dessen, was sie wollen, um das gewünschte Ergebnis zu erzielen. Es kommt vor, dass gewisse Neurotiker „Dienst nach Vorschrift“ machen, um ein unliebsames Ergebnis für die Pädagogen zu erzielen. „Geschieht meinen Eltern ganz recht, dass ich mir die Hände erfriere, hätten sie mir doch Handschuhe gekauft.“

Ob die Reaktionsbildungen sich nun auf einzelne Methoden oder aufs Ergebnis beziehen, stets will der Gegen-fühlende den Mächtigen einen Spiegel vorhalten: Du bist dran schuld, wenn es mir schlecht geht oder wenn ich unvernünftig handle. Ich bin das Opfer, das sich wehrt, ihr Starken seid die Schuldigen.

Sind die Briten zu stolz, um auf das demokratisch zurückgebliebene Europa immer nur zu re-agieren? Können sie keine gleichberechtigten Teamplayer sein, die ständig mit anderen rangeln müssen, um ihre uralte Freiheit und Selbstbestimmung zu realisieren? Ist England ein Opfer kontinentaler Borniertheiten und nicht enden wollender Hordenzerwürfnisse?

Ein Streitgespräch unter europäischen Freunden findet nicht statt. Keine einzige deutsche Talkshow, die das Thema des drohenden Abgangs erörtert hätte. Weder die wirtschaftliche Situation Südeuropas, noch die Flüchtlingsfrage ist für Deutschland ein grenzen-überschreitendes Gespräch wert. Merkel spricht – und will Gehorsam. Das finden ihre Untertanen richtig. Wer so tüchtig ist wie sie, darf seinen Willen als kategorischen Imperativ deklarieren. „Mögen die anderen denken, was sie wollen, ich habe recht“, ist Merkels lutherischer Überlegenheitsdünkel.

Welche Identität ist die wahre europäische? Was ist das Eigene der einzelnen Nationen bei so vielen nachbarlichen Konkurrenten und rivalisierenden Biografien der Völker?

Marc Jongen, Schüler Sloterdijks, gilt als Philosoph der AfD, der für eine Politik der Identität wirbt.

„Wir waren jetzt länger in einer historischen Phase der Differenz und der Nichtidentität, der Abkehr vom Eigenen. Diese Phase ist offenkundig an ein Ende gelangt, daraus geht nichts Produktives mehr hervor. Wir rücken jetzt in eine neue Identitätsphase ein. Davor muss man keine Angst haben, denn die Hauptgefahr liegt heute ja nicht darin, dass wir in Identität erstarren und in einen aggressiven Nationalismus verfallen, sondern dass wir das Eigene ganz verlieren.“ (ZEIT.de)

Was ist das Eigene der Deutschen? Für Martin Walser, der die Kanzlerin für eine Lichtgestalt hält, ist es das Wahre und Schöne. Für Gauweiler ist es Wagner, der Lieblingskomponist des Führers. Für Merkel ist es die Wirtschaft, die sich im Konkurrenzkampf der Kontinente als überlegene zeigen muss. Nur dumm, dass es in Europa so viele ökonomische Versager gibt. Sie müssen scharf rangenommen werden, damit sie sich zusammenreißen und die EU zu einer vorbildlich dampfenden Wirtschaftslok aufrüsten. Wer sich nicht an die Spitze setzt, wird die davoneilende Völkerkolonne von hinten verbellen.

Wir waren in einer Phase der Nichtidentität, der Differenz? War das Lernen der Demokratie, das Aufarbeiten unserer schrecklichen Vergangenheit, die neue Verbindung zu den ehemals feindlichen Völkern das Programm einer Nichtidentität? Spielten wir nur die Rolle der Musterschüler, um endlich wieder die Maske fallen zu lassen und zur historischen Identität der Deutschen zurückzukehren? Zu welcher? Des religiösen Mittelalters, der Aufklärung, der Graecomanie der Klassiker, der vernunftfeindlichen Romantiker, der machtbestimmten Weltbeherrschungsrolle à la Nietzsche?

Jongen begnügt sich mit empirischen Peanuts. Die Frage nach dem Volk ist ihm zu „metaphysisch“. Wenn deutsche Philosophen von Religion sprechen wollen, ohne sich mit diesem Begriff zu verunreinigen, reden sie von Metaphysik. Es gab Zeiten, da war alles Meta. Meta heißt über. Deutschland über alles in der Welt. Alles Religiöse ist meta.

Doch nichts auf der Welt ist meta, alles ist irdisch und natürlich. Kein Mensch ist über dem anderen, keine Nation über der anderen. Und dennoch will der Westen über allen anderen sein. Jede christliche Nation will die wahre erwählte, die jüdische Nation will noch immer das Original des auserwählten Volkes, die muslimischen Nationen wollen die Lieblinge des Himmels sein.

Der Kern der Weltpolitik besteht aus der Beantwortung der Frage: welches Volk, welche Erlöserreligion wird am Ende der Zeiten die Trophäe des Gesamtsiegers der Geschichte in Händen halten?

„Man ist nicht mehr bereit, wie es für eine Kulturnation selbstverständlich sein sollte, das Eigene zu schützen und zu verteidigen, vielmehr stellt man in einem übertriebenen, letztlich neurotischen Humanitarismus das Fremde über das Eigene. Zu erkennen ist das an vermeintlichen Nebensächlichkeiten wie der typisch deutschen Tendenz, bei Anwesenheit auch nur eines Englischsprachigen im Raum sofort zum Englischen überzugehen.“

Als die Deutschen das Demokratische lernten, mussten sie das Eigene ihrer Geschichte verwerfen. Menschenrechte, Gleichheit und Freiheit sind nicht auf dem Mist der Neugermanen gewachsen.

Von Fremden ist immer zu lernen, aber auch zu verlangen, dass sie sich – nicht an das Eigene der Deutschen, sondern an das mühsam Erlernte und ursprünglich ganz und gar Fremde halten. Das aber ist das Humane, das sich demokratisch und menschenrechtlich konkretisiert.

Toleranz gegen alles, nur nicht gegen Intoleranz und Menschenhass. Die Begegnung mit Fremden ist ein Geben und ein Nehmen. Was ist unabdingbar für mich, was ist verhandelbare Folklore? Das Grundgesetz, die UNO-Charta sind unabdingbar, alles andere Sache der Übereinkunft. Die deutsche Sprache ist eine herrliche, kein Grund, sie aufzugeben. Und dennoch: die Sprache der alten Germanen verstehen wir auch nicht mehr – und sie würden von unserem mittelhochdeutsch-griechisch-lateinisch-französisch-englischen Sprachensalat kein Wort verstehen.

Gibt es einen übertriebenen Humanitarismus? Jongen meint Humanität, die er zum Ismus degradieren muss. Das klingt nach Arnold Gehlen und dem glühend katholisch-nationalsozialistischen Carl Schmitt. Humanität und universelle Gleichheit aller Menschen: das war die Hypertrophie des Westens, der ins Allgemeine flüchtete, weil er nichts mehr Eigenes vorzuweisen hatte. Universelle Moral war ein Ressentiment, entstanden aus der Reaktion des Neides auf das ursprüngliche Volk der Mitte, das seine gottgewollte Physiognomie noch nicht in der Uniformität gesichtsloser Nationen verloren hatte.

Für den christlichen Carl Schmitt galt das Gebot der Nächstenliebe: liebe deinen Nächsten wie dich selbst. Doch wer war der Nächste? Der Volksgenosse, der Angehörige der eigenen Rasse, der dieselbe Sprache spricht und dieselbe Nation anbetet wie ich. Nicht aber soll er den Mongolen lieben, den Chinesen oder Afrikaner jenseits der Berge.

Humanität ist ein selbstbestimmtes Ideal, eine irdische Utopie – nicht zu verwechseln mit einem messianischen Neukaanan, dem Geschenk eines Erlösers.

Gibt es eine Grenze der Humanität? Wenn allen Menschen geholfen würde, ein menschenwürdiges Leben zu leben, dann wäre die Grenze erreicht. Vorher nicht. Der christliche Westen verabscheut die Idee einer autonomen Utopie – weil er auf das heteronome zweite Paradies des kommenden Herrn warten muss.

Als Merkel das „obergrenzenlose Recht auf Asyl“ betonte, hatte sie theoretisch recht. Nicht aber pragmatisch-politisch. Ist das kein Widerspruch?

Die Forderung nach idealer Humanität kann nicht auf einen Schlag verwirklicht werden. Der beste Mensch, die humanste Nation haben ihre praktischen Grenzen. Wenn ich in vermessener Selbstüberschätzung das Unmögliche will, ohne meine realen Kapazitäten zu berücksichtigen, gefährde ich nicht nur das Mögliche, sondern auch das Ideale. Indem ich mich übernehme und daran scheitere, gerate ich in Gefahr, mein ganzes Vorhaben wütend und enttäuscht zu widerrufen. Ich hab‘s probiert – und bin krepiert.

Das ist der Fehler vieler Deutscher, die ihre Moral nicht in Einklang bringen können mit ihren realen politischen Möglichkeiten. In der Jugend wollen sie das Unmögliche, um nach dem erwartbaren Desaster für immer in das Lager der Machiavellisten überzuwechseln.

Das Ergebnis der phantastischen Grandiosität ist das klägliche Scheitern der Angela-guck-in-die-Luft, die gespalten ist in die harte Pragmatikerin, die nichts Moralisches zulässt und in die überschwängliche und grenzenlose Phantastin, die die momentane Grenze ihrer Kräfte nicht akzeptieren will:

Wenn Angela zur Schule ging,
Stets ihr Blick am Himmel hing.
Nach den Dächern, Wolken, Schwalben
Schaut sie aufwärts allenthalben:
Vor die eignen Füße dicht,
Ja, da sah die Fromme nicht,
Also daß ein jeder ruft:
„Seht die Angela Guck-in-die-Luft!“

Einst ging sie an Ufers Rand
Mit der Mappe in der Hand.
Nach dem blauen Himmel hoch
Sah sie, wo die Schwalbe flog,
Also daß sie kerzengrad
Immer mehr zum Flusse trat.
Und die Fischlein in der Reih‘
Sind erstaunt sehr, alle drei.

Noch ein Schritt! und plumbs! Die Angela
Stürzt hinab kopfüber ganz! –

Vom Erhabenen zum Lächerlichen ist nur ein kleiner Schritt. Der Plumbs in den Abgrund war das unvermeidliche Ende der „epiphanischen“ (so der britische Historiker Niall Ferguson) Barmherzigkeitserleuchtung der Pastorentochter, die für einen kurzen Moment ihren harten Panzer vergaß, um die „Erscheinung“ des ganz Anderen zu spüren. Für einen kurzen Augenblick sah Merkel die unsichtbare Hand ihres Gottes in unverhoffter plastischer Realität.

Werden wir genauer. Etwas Grenzenloses gibt es für Menschen nicht. Unbegrenztheit ist das Wesen des Übernatürlichen und Göttlichen – das es nicht gibt.

Auch das Ideal hat seine Grenzen: wenn alle Menschen human leben, ist das Ideal erreicht. Eine grenzenlose Menschheit existiert nicht. In diesem Sinne gibt es keine Obergrenzenlosigkeit. Das Ideal des Menschen ist nie grenzenlos. Die Grenze des idealen Tuns ist die Grenze der Menschheit auf der begrenzten Erde. Die Menschheit könnte sich glücklich preisen, wenn sie diese Grenze erreichen würde.

Aus Marc Jongen spricht die Stimme der Deutschen Bewegung. Der abgeschottete Sonderweg der Deutschen muss die Leitlinie der hiesigen Politik sein. Hier spricht das mangelnde Selbstbewusstsein eines Identischen, der nicht das Humane als Identität definiert, sondern das zufällig Biografische und Völkisch-Abgesonderte.

Das Eigene einer demokratischen Nation aber ist das Demokratische. Eine selbstbewusste Nation, die sich ihrer demokratischen Stärke sicher ist, hat keine Angst vor einem Fremden, das das „Eigene“ der allgemeinen Vernunft über den Haufen rennen könnte.

Auch die Fremden sind nicht unter Gefahren nach Europa gezogen, um ihr feindlich erlebtes Eigenes der Fremde aufzuoktroyieren. Sondern um Freiheit und Humanität zu finden. Muslimische Menschen sind längst vom Virus der Freiheit angesteckt und wollen nicht mehr zurück ins eiserne Gehäuse ihrer Mullahs und Despoten.

Jongen bekennt sich als Jünger Nietzsches – ohne ein Wörtchen darüber zu verlieren, dass Nietzsche ein Vordenker des Nationalsozialismus war. Auch die kläglichen ZEIT-Interviewer fallen vor Nietzsche und Schopenhauer auf die Knie. In Deutschland genügt es, einen hohen Dichter und Denker zu nennen und das Gespräch ist beendet.

Die deutschen Bildungsheroen sind zu unangreifbaren Götterbildern geworden. Wie in der Interpretation der Bibel sucht man sich aus vielen Widersprüchen das Positive heraus – und weist jede Verantwortung des Denkers für das deutsche Verhängnis von sich.

In einem System von Widersprüchen ist das Gute aber nicht für sich zu betrachten. Solange das Böse nicht widerlegt oder verbannt ist, erhält das Gute die Funktion, das Böse zu rechtfertigen. Mephisto, der stets das Böse will und stets das Gute schafft, ist die Phantasmagorie eines Alchimisten. Goethe erkannte nicht, dass in seinem dualistischen System das Gute der Rechtfertigung des Bösen dient.

Subjektiv waren die deutschen Schergen keine Bösen. Nur instrumentell mussten sie das Böse tun – um des guten Endzwecks willen. Die heilige Schuld mussten sie auf sich nehmen, um das finale Gute triumphieren zu lassen. Die Posener Geheimrede Himmlers wird noch immer nicht ernst genommen:

„Ich meine jetzt die Judenevakuierung, die Ausrottung des jüdischen Volkes. Es gehört zu den Dingen, die man leicht ausspricht. – ‚Das jüdische Volk wird ausgerottet’, sagt ein jeder Parteigenosse‚ ‚ganz klar, steht in unserem Programm, Ausschaltung der Juden, Ausrottung, machen wir.’ […] Von allen, die so reden, hat keiner zugesehen, keiner hat es durchgestanden. Von Euch werden die meisten wissen, was es heißt, wenn 100 Leichen beisammen liegen, wenn 500 daliegen oder wenn 1000 daliegen. Dies durchgehalten zu haben, und dabei – abgesehen von Ausnahmen menschlicher Schwächen – anständig geblieben zu sein, das hat uns hart gemacht und ist ein niemals geschriebenes und niemals zu schreibendes Ruhmesblatt unserer Geschichte.“

Für ihre Schandtaten wollten die Deutschen nach dem Kriege von allen Völkern gepriesen werden. Stellvertretend für die ganze Menschheit, die nie den Mut zu dieser außerordentlichen Tat gehabt hätte, haben sie – unter dem trügerischen Schein des Bösen – das Gute exekutiert.

Mit dem Begriff Ressentiment will Nietzsche das antike Naturrecht der Starken wiederbeleben – gegen das Naturrecht der Schwachen oder das universelle Menschenrecht. Moral als humane Solidarität mit allen Menschen ist für den Pastorensohn das Produkt von Neid, Schwäche und Lebensverkrümmung. Nur Starke, die sich nichts verbieten müssen, leben aus dem Vollen und sind freie Geister. Das Ziel der Menschheit ist der Starke, der keine moralischen Selbstbeschränkungen duldet: der Typus des höheren Menschen, des Übermenschen.

„Wie, wenn im „Guten“ auch ein Rückgangssymptom läge, insgleichen eine Gefahr, eine Verführung, ein Gift, ein Narkotikum, durch das etwa die Gegenwart auf Kosten der Zukunft lebte? So dass gerade die Moral daran schuld wäre, wenn eine an sich mögliche höchste Mächtigkeit und Pracht des Typus Mensch niemals erreicht würde? So dass gerade die Moral die Gefahr der Gefahren wäre?“ (Nietzsche, Vorrede zur Genealogie der Moral)

Für Nietzsche war das Christentum eine typische Ressentimentbildung der Schlechtweggekommenen gegen die Pracht der antiken Kraftmenschen. Er täuschte sich. Auch das Christentum will den gelungenen Kraftmenschen der ewigen Seligkeit, der mit seinem allmächtigen Gott identisch ist. Nur die irdischen Moral-Instrumente waren antithetisch zum Kristallinen und Bedenkenlosen eines Kallikles oder Thrasymachos. Die Griechen wollten die Ersten sein, indem sie Erste sein wollten. Die Christen hingegen mimten Demut und taten, als wollten sie die Letzten sein. Die Mittel waren diametral verschieden, die Endziele dieselben. Die Griechen taten, was sie sagten, die Christen hingegen spielten das Schauspiel der Unterwürfigen und Demütigen, die am Ende der Tage zu Herren des Universums aufsteigen werden. Im platonischen Dialog Gorgias plädiert Kallikles für das Recht der Starken:

„Wie könnte wohl ein Mensch glückselig sein, der irgend wem diente? Sondern das ist eben das von Natur Schöne und Rechte, was ich dir nun ganz frei heraus sage, daß wer richtig leben will, seine Begierden muß so groß werden lassen als möglich, und sie nicht einzwängen; und diesen, wie groß sie auch sind, muß er dennoch Genüge zu leisten vermögen durch Tapferkeit und Einsicht, und worauf seine Begierde jedesmal geht sie befriedigen. Allein dies, meine ich, sind eben die Meisten nicht im Stande, weshalb sie grade solche Menschen tadeln aus Scham, ihr eignes Unvermögen verbergend, und sagen, die Ungebundenheit sei etwas Schändliches, um, wie ich auch vorher schon sagte, die von Natur besseren Menschen einzuzwängen; und weil sie selbst ihren Lüsten keine Befriedigung zu verschaffen vermögen, so loben sie die Besonnenheit und die Gerechtigkeit, ihrer eigenen Unmännlichkeit wegen.“

Besonnnenheit, Gerechtigkeit und das ganze moralische Gedöns ist nichts als Neid, Scham und feige Unmännlichkeit. Wahre Moral ist unbegrenzte Antinomie des Starken, dessen Ich das Zentrum des Universums bildet. Tugenden sind Gegengefühle gegen das herrlich Bedenkenlose der Amoralisten, die nur einen Zweck kennen: die Bedürfnisse des eigenen Ich ohne Hemmungen zu befriedigen. Moral ist, was Mir Spaß macht – und sei es auf Kosten der ganzen Welt.

Das also ist die Welt des Marc Jongen, der die Moral der Menschenrechte als Verkümmerung des deutschen Übermenschen betrachtet.

Es ist heute salonfähig geworden, sich als Nietzscheaner zu erkennen zu geben. Die Verehrung des Anbeters der Macht scheut sich nicht, diesen von allem Verdacht des Antisemitismus frei zu sprechen. Dabei waren es für Nietzsche die Juden, die die hinterlistige Ressentiment-Moral der Christen erfanden. Sie waren die Urheber des ganzen Elends der Gegenwart:

„Die Juden sind es gewesen, die gegen die aristokratische Wertgleichung (gut=vornehm=mächtig=schön=glücklich=gottgeliebt) mit einer furchteinflößenden Folgerichtigkeit die Umkehrung gewagt und mit den Zähnen des abgründlichsten Hasses (des Hasses der Ohnmacht) festgehalten haben, nämlich „die Elenden sind allein die Guten, die Armen, Ohnmächtigen, Niedrigen sind allein die Guten, die Leidenden, Entbehrenden, Kranken, Hässlichen sind auch die einzig Frommen, die einzig Gottseligen, für sie allein gibt es Seligkeit – dagegen ihr, ihr Vornehmen und Gewaltigen, ihr seid in alle Ewigkeit die Bösen, die Grausamen, die Lüsternen, die Unersättlichen, die Gottlosen, ihr werdet auch ewig die Unseligen, Verfluchten und Verdammten sein!“ … Man weiß, wer die Erbschaft der jüdischen Umwertung gemacht hat … Ich erinnere in betreff der ungeheuren und über alle Maßen verhängnisvollen Initiative, welche die Juden mit dieser grundsätzlichsten aller Kriegserklärungen gegeben haben: dass nämlich mit den Juden der Sklavenaufstand in der Moral beginnt: jener Aufstand, welcher eine zweitausendjährige Geschichte hinter sich hat und der uns heute nur deshalb aus den Augen gerückt ist, weil er – siegreich gewesen ist …“ (Genealogie der Moral)

Die Juden mussten beseitigt werden, weil sie der Realisierung des prachtvollen deutschen Übermenschen im Wege standen.

Das also ist das Eigene der Deutschen, das Jongen gegen die Überfremdung durch die Flüchtlinge bewahren will. Ist die AfD eine blitzblank neue Erfindung der Deutschen? Nein. Jongens Partei verrät lediglich das bislang best gehütete Geheimnis der kollektiven deutschen Seele: erneut sind die Deutschen dabei, sich den Gespenstern ihrer Vergangenheit in wachsender Unverfrorenheit zu unterwerfen.

Wer Klarheit liebt, sollte der Partei dankbar sein – und sie mit allen Mitteln bekämpfen.

 

Fortsetzung folgt.