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Europäische Idee LXVII

Hello, Freunde der europäischen Idee LXVII,

Menschliches kann scheitern, Demokratien sind menschlich – also können Demokratien scheitern.

Wer ist schuld am Scheitern der Herrschaft des Volkes? Populus, demos, das Volk, wer sonst? Kein Gott, keine Geschichte, kein Markt, keine Evolution oder sonstige Chimären.

Wer die Kategorie Schuld ablehnt, lehnt Verantwortung ab. Wer die Verantwortung des Menschen ablehnt, hält ihn für eine Marionette des Gottes, der Geschichte, des Marktes, der Evolution oder sonstiger Chimären.

Schuld ist kein Vergehen vor Gott, sondern eine menschliche Kategorie. Schuldig ist, wer einen Fehler beging, einem Irrtum erlag, seine moralischen Pflichten vergaß. Schuld ist eine Ursache.

Jede Ursache hat ihre Wirkung. Weder in der Natur, noch in der Demokratie gibt es Wirkungen ohne Ursachen. Wer Schuldige sucht, muss nach Ursachen Ausschau halten, die zu unliebsamen und unerwünschten Wirkungen geführt haben.

Wer das kausale Urgesetz von Ursache und Wirkung ablehnt, verwirft die rationale Ordnung des Menschen und des Kosmos. Für ihn ist die Welt ein unberechenbares, unsteuerbares Chaos, ein schierer Zufall, eine unerkennbare Willkür höherer Mächte – oder der Glaube an einen unfassbaren Gott.

„… sondern alle trifft Zeit und Zufall.“ „Ein Mensch macht vielerlei Pläne in seinem Herzen; aber der Rat des HERRN besteht.“ „Des Menschen Herz denkt sich einen Weg aus, aber der Herr lenkt seinen Schritt.“ „Ich weiß, dass es nicht in des Menschen Gewalt steht, seinen Weg zu bestimmen, nicht bei dem Wandersmann, seinen

Schritt zu lenken.“ „Denn meine Gedanken sind nicht eure Gedanken, und eure Wege sind nicht meine Wege, spricht der HERR; sondern soviel der Himmel höher ist denn die Erde, so sind auch meine Wege höher denn eure Wege und meine Gedanken denn eure Gedanken.“ „Wie unerforschlich sind seine Entscheidungen und unausdenkbar seine Wege.“ „Kannst du die Tiefen Gottes ergründen oder die Vollkommenheit des Allmächtigen fassen? die höher als der Himmel – was willst du machen, tiefer als die Unterwelt – was willst du verstehen?“

Die Einsicht in die Gestaltbarkeit der menschlichen Dinge begann mit dem Grundsatz: nichts geschieht ohne Ursache. Sein Schicksal konnte der Mensch verändern und verbessern, wenn er die Ursachen seiner Befindlichkeit erkannte. Die Wissenschaft der Medizin wäre nicht entstanden, wenn in der Schule des Hippokrates nicht die Lehre von der Gesetzmäßigkeit der Natur zur Voraussetzung der Heilkunst geworden wäre.

„Das Wesen der Heilkunst besteht darin, dass sie keine Ursachlosigkeit anerkennt, sondern immer nach der Ursache forscht und auf Grund der Gesetzmäßigkeit der Natur ihre Prognose stellt. Deshalb darf man auch ihre Wirkungen nicht dem Zufall zuschreiben, dem die Kunst gerade entgegenarbeitet und dessen Macht sie zu beschränken sucht.“ (nach Wilhelm Nestle)

Ohne kausale Verbindung von Ursache und Wirkung keine Therapie menschlicher Zustände. Nicht nur medizinische Heilkunst, auch Demokratie gehört zu den rationalen Therapien der condition humaine. Wer das Elend menschlicher Demütigung, Versklavung, Unterwerfung unter die Herrschaft Weniger kurieren will, muss die Ursachen der sozialen und politischen Misere des Menschen erforschen, um das Zusammenleben in Gleichheit, Freiheit und Gerechtigkeit zu ermöglichen.

Ist das Schicksal des Menschen eigene Leistung, müssen alle Menschen ihre Lebensumstände in Autonomie bestimmen. Demokratie ist politische Selbsttherapie eines Volkes – oder der gesamten Menschheit.

Der momentane Rechtsruck ist kein Ruck nach rechts, sondern der Rückzug von der selbstbestimmten demokratischen Vernunft unter die Herrschaft unfassbarer Himmelsmächte.

Die Begriffe rechts und links müssen wir vernichten, sie sind hohl, leer und lenken vom Wesentlichen ab. „Links“ ist selbstbestimmt und human für alle, „rechts“ ist fremdbestimmt und bezweckt die Macht der Wenigen und die Ohnmacht der Vielen.

Noch immer hat das Naturrecht der Starken das Naturrecht der Schwachen im Würgegriff. Heute mit den Methoden der Wirtschaft, die die Volksherrschaft völlig unterwandert hat.

Es gehört zu den Methoden des Rückzugs ins Religiöse, dass Schuldige nicht gesucht werden sollen. Schuldige suchen, das bringe nichts – repetieren die Hauptschuldigen der Gegenwart, deren Verantwortlichkeit für die Krise nicht aufgedeckt werden soll.

Zwar ist das Volk als Ganzes allein schuldig, doch die Summe der Schuld setzt sich bei näherer Betrachtung zusammen aus verschieden großen Schuldanteilen der verschiedenen Klassen. Die führenden Klassen entscheiden am meisten, ergo tragen sie die größte Schuld. Es ist die Gesamtschuld des Volkes, diese Klassen zugelassen zu haben, obgleich es die theoretische Macht gehabt hätte, sie demokratisch zu zähmen. Gleichwohl steht diese Macht erst auf dem Papier und konnte noch nicht zur selbstverständlichen Praxis des Volkes werden, welches Mühe hat, die uralten Herrschaftskünste der Oberen zu durchschauen und einzudämmen.

Demokratie ist eine kontinuierliche Aufgabe. Leben wir in einem aufgeklärten Zeitalter? Nein, erst im Zeitalter der Aufklärung. Leben wir in demokratischen Verhältnissen? Nein, erst im Zeitalter permanenter Demokratisierung. Solange wir in der Lage sind, den Prozess der Demokratisierung fortzuführen, leben wir unter demokratischen Vorzeichen. Erst wenn Despoten, Diktatoren oder Faschisten die Macht hätten, den demokratischen Prozess vollständig zu stoppen, wäre die Demokratie gestorben.

Es gehört zu den Herrschaftskünsten der oberen Klassen, dass sie – von ihren medialen und intellektuellen Lakaien – die Tatsachen und Machtverhältnisse mit falschen und irreführenden Begriffen bezeichnen lassen. Das Volk besitzt noch zu viel Respekt vor diesen selbst ernannten Autoritäten, denen sie sich – wenn auch mit lärmenden Shitstorms – unterordnen, wie sie sich in früheren Zeiten klerikalen Autoritäten unterordneten. Jahrhundertelang wurde dem Pöbel mit Furcht und Schrecken eingebläut, sein Selberdenken einzustellen und den unfehlbaren Stimmen von Oben zu gehorchen und zu glauben.

Fast alle politischen Hauptbegriffe der Gegenwart sind schief, empirisch ungenau, philosophisch widersprüchlich oder betrügerisch und therapeutisch irreführend. Was man nicht adäquat benennen kann, kann man auch nicht therapieren. Jede Diagnose setzt präzis beobachtete und benannte Symptome voraus, damit eine angemessene Therapie erfolgen kann.

Demokratien können scheitern. Die Deutschen zeigten exemplarisch, wie man mit demokratischen Methoden eine Demokratie zerstören kann. Sie waren selber schuld. Scharfsichtige Beobachter konnten über das Fiasko nicht erstaunt sein, denn sie wussten, dass die meisten und einflussreichsten Deutschen die Demokratie seit Jahrhunderten als Dekadenz des Westens ablehnten. Für ihre demokratischen Selbstzerstörungskräfte mussten die Deutschen ein schreckliches Lehrgeld zahlen – von den Folgen anderer Schandtaten ganz zu schweigen.

Wider Erwarten erhielten die Deutschen nach dem Debakel des Zweiten Weltkrieges von den Völkern der Welt eine zweite Chance. Es gehört zur Logik des Lernens, dass man die Folgen des Scheiterns akzeptieren muss, um die Gründe des Versagens zu erkennen. Lernen ist Versuch und Irrtum, vor allem Wahrnehmen und Verstehen des Irrtums – um richtige Konsequenzen aus den Fehlern zu ziehen.

Was ist der Kern der Schuld eines demokratischen Scheiterns? Leichtfertig kann man komplizierte Überlegungen über das Versagen der institutionellen Mechanismen anstellen. Das ändert aber nichts am Wesentlichen: dass die Demokraten nicht demokratisch genug waren.

Eine Demokratie ist keine automatische Maschine, die man nur richtig einstellen müsste, damit sie fehlerlos funktioniere. Die Qualität einer Demokratie hängt ab von der demokratischen Qualität jedes einzelnen Demokraten. Es ist der Geist, der die Materie trägt, nicht die Materie, die den Fortgang der Geschichte automatisch besorgt.

(Im Marxismus gibt es kein Lernen. Erkennen der Realität ist weder möglich noch nötig. Das materielle Sein – nicht anders als der christliche Gott – bewirkt alles, unabhängig von allem Rennen und Laufen unmündiger Proleten.)

Wie kann man dem Scheitern einer Demokratie vorbeugen? Nicht durch bloße Veränderungen der Institutionen. Die beste Gewaltenteilung, die perfektesten Wahlen, eine üppige Presse: all dies wird nicht ausreichen, wenn die Citoyens in ihrem persönlichen Leben nicht genug demokratische Kompetenz zeigen, um die Mechanismen der Republik mit Leben zu erfüllen. Wenn ängstliche, feige, unterwürfige Untertanen die Mehrheit der Gesellschaft bilden, werden sie unmöglich in der Lage sein, eine Demokratie am Leben zu erhalten.

Was zeichnet einen mündigen, selbstbewussten Demokraten aus? Die Beantwortung dieser Frage ist das A und O jeder selbstkritischen Überprüfung einer stabilen Volksherrschaft. Warum reden die Deutschen immer vom Staat und so gut wie nie von Demokratie? Weil Staat die Maschinerie einer gottgewollten Obrigkeit ist, bei der man den „persönlichen Faktor“ getrost vernachlässigen kann. Demokratie muss wie ein gut geölter Motor funktionieren, um jedes moralische und philosophische Gefasel über persönliche Tugenden überflüssig zu machen. Der Markt, die perfekte Maschine, hat die Demokratie mit Haut und Haaren gefressen. Eine moralfreie Maschine benötigt keine individuellen Belehrungen – die ohnehin jenseits der Wahrheit und somit nicht einigungsfähig wären.

Eine Demokratie kann man nur mit demokratischen Methoden retten: mit Appellen an die Einsichtsfähigkeit und Moral jedes Einzelnen. Vernunft in Rede und Gegenrede, in Mitdenken und Mitfühlen, ist gefragt und kein einsilbiges Herumbosseln von Experten am Vergaser des demokratischen Motors.

Appellieren heißt nicht von Oben belehren, sondern den Mut aufbringen, die eigene Meinung als vorläufig überlegene im Streit der Meinungen überprüfen zu lassen. Nicht recht haben wollen, ist heuchelnde Demut, die im Modus des Nichtrechthabenwollens – recht haben will.

Wer letztlich recht hat, entscheidet nicht der Einzelne, sondern die Mehrheit. Nicht im Sinne absoluter Wahrheit, sondern des erreichten Standes kollektiver Lernfähigkeit. Jederzeit können Mehrheitsentscheidungen wieder in Frage gestellt und neu debattiert werden – bis zur ausgereiften Konsensbildung nach langen Irrungen und Wirrungen.

Auch in der Demokratie ist Schwarmintelligenz nicht ausgeschlossen. Wär‘s anders, wäre jede Demokratie unterschiedslos zum Scheitern verurteilt. Menschen sind klug genug, um sich auf ein Besseres zu einigen.

Haben die Deutschen ihre zweite Chance genutzt? Auf den ersten Blick muss man die Antwort geben: im nationalen Sinne durchaus. Auf den zweiten Blick, im Hinblick auf den „demokratischen“ Zusammenschluss mit den europäischen Nachbarn, fällt die Antwort keineswegs positiv aus.

Europa steht am Abgrund. Fast in allen Bereichen zeigen sich unüberwindbare Konflikte. Sollten die Briten den Abgang wählen, wird es zum Erdbeben kommen. Da die Qualität der deutschen Demokratie von der Qualität der EU abhängt, ist ihre Stabilität in hohem Maße gefährdet. Beginnen wir mit Europa:

„Wir erleben Schicksalstage für Europa. Vor der Abstimmung über einen Austritt aus der EU am übernächsten Donnerstag ist Großbritannien tief gespalten: In den Umfragen steht es derzeit ungefähr fifty-fifty. Dass es überhaupt so weit kommen konnte, ist eine Blamage. Die Europäische Union hat durch intransparente Entscheidungsprozesse, das Basargeschacher in der Schuldenkrise, ihr Versagen in der Flüchtlingskrise das in den Nachkriegsjahrzehnten gewachsene Vertrauen in ihre Institutionen und Protagonisten schwer erschüttert. Brüssel ist für viele Europäer zum Schimpfwort geworden.“ (SPIEGEL.de)

Um die kläglichen Reste ihrer Barmherzigkeitspose zu retten, hat sich Samariterin Merkel dem Wirt – dem sie die Flüchtlinge gegen 30 Silberlinge aufhalste – ehrlos ausgeliefert. Kuzmany im SPIEGEL:

„Die deutsch-türkischen Beziehungen sind auf Grund gelaufen. Man nennt sich noch gegenseitig Partner, man ist verbündet in der Nato, aber das scheinen nur noch hohle Beschwörungsformeln zu sein, kindische Zaubersprüche, die heil machen sollen, was zerbrochen ist. Weil der Flüchtlingsdeal der EU mit der Türkei unbedingt halten soll, tut man weiter so, als seien es nur Meinungsverschiedenheiten in einzelnen Punkten, die die ansonsten engsten Beziehungen kaum beeinträchtigen.“

Jan Feddersen, TAZ, nähert sich der Wahrheit, dass der Rückfall vieler europäischer Länder in antidemokratische Werte mit christlicher Religion zu tun haben könnte:

„Wenn osteuropäische Staaten jetzt in Brüssel äußern, man trage eine europäische Moral nicht mit, weil man eigene Werte eingebracht wissen will, muss man sagen: Nein, das wollen wir nicht. Was jene wollen, hat keinen Wert, es ist giftig und falsch. Dann ist das EU-Projekt lieber tot als lebendig. Eine Europäische Union, in der sich viele Länder ihre Werte und Moralvorstellungen vom Klerus oder vom Kreml vorgeben lassen, ist wertlos.“

Eric Bonses Fazit der europäischen Flüchtlingspolitik in der TAZ beschreibt ein einziges Fiasko. Die EU hat ihre Humanität verraten. Sie besticht die korruptesten und despotischsten Regimes in Afrika, damit sie ihre fluchtwilligen Untertanen einsperren:

„Dass die EU-Kommission nicht zimperlich ist, zeigt auch die Liste der Staaten, die in den „Migrationspakt“ aufgenommen werden sollen. Der „failed state“ Libyen gehört ebenso dazu wie die brutalen Regimes in Niger, Eritrea und sogar im Sudan, wo Menschenrechte mit Füßen getreten werden.“ (TAZ.de)

Von welcher Humanität sprechen wir? Von der Humanität des christlichen Abendlands?

Jeder amerikanische Biblizist durchschaut den Trug dieser christlichen Humanität, die er für die Erfindung des Teufels hält. Die christliche Religion kennt keine trennscharfen und widerspruchsfreien Werte. Sie ist antinomische Gesinnungsunfehlbarkeit. Was immer sie tut – Gutes oder Böses – ist richtig, wenn es nur im Namen Gottes geschieht.

Merkel selbst entlarvt ihre Werte der Solidarität mit dem Satz: „Scheitert der Euro, dann scheitert Europa.“ Die Gesetze der Ökonomie sind die Werte, auf die sich die Kanzlerin beruft. Das sind die Werte der bedingungslosen, fremdschädigenden Konkurrenz. No bail out, keine Solidarität: das ist der Kern der Merkel‘schen Predigt.

„Eine radikalere Reduktion Europas auf die blanke Ökonomie ist kaum denkbar. Gibt es außer der finanziellen und wirtschaftlichen keine andere Form der Stabilität?“ fragt der Althistoriker Karl-Wilhelm Weeber in seinem wichtigen Buch: „Hellas sei Dank, Was Europa den Griechen schuldet“. Im Gegensatz zu seinen meisten Kollegen hält Weeber daran fest, dass das moderne Europa von der athenischen Polis noch viel lernen könne.

Was kann man von den alten Griechen lernen? Alles, was eine demokratische Persönlichkeit auszeichnet: „Was heute als „bürgerschaftliches Engagement“ hoch gepriesen wird, ist für den griechischen Politen selbstverständliche Pflicht: der Einsatz für die Gemeinschaft, deren Teil er ist. Man könnte sogar von einer großen Familie sprechen, das macht es einfacher für den heutigen Bürger, sich den erwarteten Grad der Anteilnahme an den öffentlichen Dingen in einer Polis klarzumachen.“

Solche moralischen Appelle sind für amoralische Demokratie-Maschinisten ein Ärgernis. Jochen Bittner analysiert in der ZEIT lieber die „Überdehnung der Institutionen“, als dass er sich auf Grundfragen der demokratischen Charakterbildung einließe. Er konstatiert, die Demokratie „könne ihre eigenen Versprechungen nicht mehr halten.“ Bittner verwechselt irdische Demokratie mit einem religiösen Verheißungsstaat. Seriöse Demokraten können nur versprechen, was sie selbst zu halten gedenken.

Demokratie ist auch nicht identisch mit Wohlfahrts-Kapitalismus. Im Gegenteil, Kapitalismus hat die Demokratie von innen her ausgehöhlt. „Europäer und Amerikaner waren es seit 1945 gewohnt, dass Demokratie und wachsender Lebensstandard zusammengehörten. Diese Gewissheit ist spätestens seit der globalen Finanzkrise dahin.“ (ZEIT.de)

Es war ein Riesenbetrug und eine trügerische Verheißung, dass die demokratische Erweiterung der EU auf die Ostblockstaaten mit dem Neo liberalismus aufs engste verflochten wurde. Die Davongekommenen der sozialistischen Diktatur hatten Freiheit und Gerechtigkeit erwartet und – Kapitalismus erhalten. Den Schock haben sie bis heute nicht verarbeitet. Die trügerische Identifikation der Polis mit einer amoralischen Wirtschaft war der frühe Selbstmord der neuen Demokratien.

Ein Versprechen, das man nicht hält, gilt als Populismus. Sollten europäische Eliten, die immer versprechen und nichts halten, Populisten der GaGroKo sein?

Augstein, der das Volk retten will, indem er es in platonischer Zwangsbeglückung knebelt, verfällt gar in Katastrophenstimmung. Zu spät, es ist alles zu spät, jammert er, als ob das Schiffchen schon untergegangen wäre. Das sind die rechten „linken“ Demokraten, die die Schlacht verloren geben, bevor sie überhaupt begonnen hat. Panische Weltuntergangsstimmung exekutiert, was sie selbst prophezeit: den Untergang. Eine Ursachenforschung sucht man bei Augstein vergeblich.

„Wir wissen jetzt: In der Postdemokratie gibt es keinen liberalen Weg der Korrektur sozialer Schieflagen. Nur illiberale Wege stehen noch offen. Alle haben zu viele Kompromisse gemacht.“ (SPIEGEL.de)

Postdemokratie? Noch sind wir frei genug, um unsere Demokratie zu verteidigen. Von „post“ kann keine Rede sein.

Nur illiberale Wege stünden noch offen? Liberalität, halten zu Gnaden, ist Freiheit. Illiberale Wege wären unfreie Wege – müssen wir etwa an illegale Putschversuche des SPIEGEL-Kolumnisten denken?

„Der Rechtsruck der Gesellschaft ist ein Produkt der „demokratischen Kräfte“, die die Sozialdemokraten selber freigesetzt haben.“

Absurder geht’s nicht. Rechtsruck ist kein demokratisches Erzeugnis, sondern das genaue Gegenteil. Je undemokratischer Merkel & Gabriel agierten, umso heftiger war die „rechte“ Reaktionsbildung des Volkes, das sich – zu Recht – getäuscht fühlte.

Wer Demokratie just in dem Augenblick im Stich lässt, wo sie gefährdet scheint, kann kein „linker“ Demokrat sein. Er ist ein windiger Apokalyptiker und Mitläufer des Zeitgeistes, der heute dies und morgen das Gegenteil in die Öffentlichkeit emittiert. Er wird sich doch nicht jeden Tag neu erfinden wollen? Augsteins Offenbarungseid: Demokratie taugt nicht für die Demokratie:

„Offenbar ist die Demokratie kein geeignetes Instrument, um für Gerechtigkeit zu sorgen. Die Welt hat ihren Siegeszug gesehen. Aber das Wort Demokratie bedeutet nichts mehr. Alle sind jetzt Demokraten.“ (SPIEGEL.de)

Der Kampf zwischen „rechts“ und „links“ ist der 2000 Jahre alte Kampf zwischen autoritärem Glauben und emanzipierter Vernunft.

Nach dem Zweiten Weltkrieg gab es einen Lernschub der Humanität, um nach der Katastrophe neu zu beginnen. Es war ein Schub des Naturrechts der Schwachen gegen die Vorherrschaft der Starken.

Inzwischen sind die schrecklichen Erfahrungen verblasst. Europa fällt in jene Muster zurück, die es längst überwunden glaubte. Die Moderne in der unermesslichen Eitelkeit ihres Fortschrittsdünkels hält es unter ihrer Würde, aus der Vergangenheit zu lernen.

Doch Lernen schert sich nicht um Vergangenheit und Zukunft. Das Vorbildliche bleibt vom Verlauf der Zeiten unberührt. Vorwärts, Freunde, wir müssen – zurück.

 

Fortsetzung folgt.