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Europäische Idee LXVI

Hello, Freunde der europäischen Idee LXVI,

„Simplici, was thust du? Du ligst halt hier auf der faulen Berrenhaut und dienest weder Gott noch den Menschen!“

Das Land des zur Liederlichkeit und Gottlosigkeit neigenden Simplicius Simplicissimus liebt keine einfachen Lösungen. Sie müssen komplex, überkomplex, unlösbar sein. Dann können sich die komplexen Simpel guten Gewissens davonstehlen. Über sein Können hinaus kann niemand verpflichtet werden.

Das Land der Komplexen bereitet sich auf das Einfache vor. Auf Schporrdd. Auf Pizza, kaltes Bier und Spiele. Komplexe Politik fällt aus. Wochenlang von morgens bis abends panem et circenses.

Die Öffentlich-Rechtlichen müssen keine lästigen Programme mehr gestalten. Die Medien reiben sich die Hände. Für Stoff in der schrecklichen Urlaubszeit ist gesorgt. Alle Talkshows schwirren ab in die Sommerpause. Das Simple hat die Nation am Kragen, Politik hat Sendepause. Merkel kann sich mit deutschem Trikot und Besuch in der Männerkabine ihre verlorenen Beliebtheitspunkte zurückholen.

BILD ist begeistert, dass die Mutige ein harmlos Wörtchen gegen Europas Pascha flüsterte: „Merkel zeigt Kante“. Weshalb die Kanzlerin ab jetzt Kantslerin gerufen werden will.

Brot-und-Spiele genügen nicht, um den populus in Dämmerschlaf zu versetzen. Es muss auch eine tüchtige Prise Shitstorm dabei sein und die obligaten Prügel gegen Rechts- und Linkspopulisten – so wollen es die Mittepopulisten oder Volksfreunde der Regierung.

Woran erkennen wir den verdammenswerten Populisten? Daran, dass er einfache Lösungen verspricht – und nicht einhält. Wahre Populisten hingegen versprechen nichts – und halten dies auch ein. Das unhörbar Versprochene verschieben sie an

den Sankt Nimmerleinstag – dem Tag der Parusie, an dem sie trotz aller Nichterfüllung zäh festhalten – damit sie nicht in Versuchung kommen, das Einfache zu finden.

An das Einfache glauben kann jeder, doch das Unmögliche und Absurde für wahr halten erfordert einen komplexen Glauben. CDU und CSU können sich nicht mal auf das Einfachste einigen, auf einen Ort ungefähr in der Mitte zwischen Preußen und Bayern, an dem sie sich treffen könnten. Und schaffen sie es wider Erwarten doch, steht das Ergebnis des Treffens apriori fest: keine Einigung. Was nicht bedeutet, dass man sich auf Nichteinigung geeinigt hätte. Sich einigen – das wäre ja einfach.

Politik ist zur komplexen Kunst geworden, das Einfache zu unterlassen, ohne dass es dem Populus auffiele. Was aber völlig unmöglich ist. Das Volk bemerkt die Arbeitsverweigerung seiner Mächtigen und beginnt, seinen Stammparteien zu entfliehen. Ränder-Populisten nutzen die Schwäche der gewählten Populisten bösartig aus, um zu versprechen, was diese hartnäckig verweigern: ihren Job zu tun.

Job jedoch ist ein blasphemischer Ausdruck für die Würde des Berufs, die unantastbar ist. Wenn die Würde der Arbeit, des Berufs oder des Amtes, die Würde der Wortgewalt, die Würde des Komplexen gewahrt ist, blüht und gedeiht die deutsche Würde. Warum lieben die Deutschen das Wort Würde? Weil es ein Konjunktiv ist: kann sein – oder auch nicht.

Wäre der Deutsche ein simpler Demokrat, würde er die Volksherrschaft durch übermäßigen Nießbrauch niemals abnutzen. Er würde sie gar nicht antasten – und sie behutsam im Trophäenkeller deponieren, wo er sie regelmäßig vom Feinstaub befreien würde. Er würde sie auch nicht Demokratie nennen, denn das röche nach säuerlichem demos. Gravitätisch nennt er sie Staat und betet sie nach Vätersitte wie eine vom Himmel gesandte Obrigkeit an. Gauck hat das hohe Amt durch pastorale Würde wieder hergestellt, so liest man. Woher nun würdevolle Nachfolger? Keine Sorge, die fromme TAZ hat die frommen Namen schon ins Rennen geworfen:

„Oder wenn es sein muss, auch Friedrich Schorlemmer oder Margot Käßmann. Rote Ampel hin, Nervensägen her: Gebraucht wird eine von Dunkelrot bis Grün wählbare Person, die ein Zeichen setzt.“

Zeichen setzen ist die Kunst der Himmlischen: Versprechen – und nichts halten. Oh heilige Prokrastination, gib uns die Geduld, dass wir uns mit Reden begnügen und nicht in hektische Betriebsamkeit fallen, in der überheblichen Meinung, wir könnten die Menschheit retten. Retten, das kannst nur Du. Uns windigen Zeichensetzern bleibt nur Harren und Hoffen. Warum weigern wir uns, unsere Probleme zu lösen? Damit Du uns erlösen kannst. Die Kanzlerin zeigt uns, wie man, bei aller Würde rastlosen Herumwuselns, effektive Arbeitsverweigerung erzielen kann – ohne dass der Pöbel aufjault.

Bei den heiligen Namen fehlt noch der asketische Huber. Oder die joviale Göring-Eckart. Auch Bedford-Strohm verfügt über ein gewinnendes Lächeln. Kauder ist ein wiedergeborener Evangelikaler, Rauschebart Thierse ein wertvolles Mitglied des Zentralrats der Katholiken. Auch Kretschmann ist ein fleißiger Pilgersmann. Nicht zu vergessen der linke Ramelow, seines Zeichens ein begabter Laienprediger. Und wenn alle Stricke reißen: haben wir in Rom nicht einen ausgeruhten deutschen Papst, der den Deutschen die Flötentöne beibringen könnte? Und selbst wenn es mit einem samtenen Rollator wäre?

Das rechte Thema hätten wir nun gefunden als Überbau monatelanger Brot und Spiele. Da lacht das Herz der wahren Volksbeglücker. Wer wagt es, von einer „abgestumpften Gesellschaft“ zu sprechen, „deren Interesse über elementare Bedürfnisse und „niedere Gelüste“ nicht hinausgeht? Die massive Ausweitung der Sportberichterstattung führt dazu, dass wichtige politische oder gesellschaftliche Fragen in den Massenmedien in den Hintergrund gedrängt werden?“ Das ist zu simpel, um wahr zu sein.

Der Sport ist korrupt – und überbezahlt. Die Wirtschaft ohnehin. Finanzhaie sind Terroristen gegen die Menschheit. Alle Autobauer lügen. Politiker lügen mit. Die Wissenschaft stützt die Lügeneliten. Die Medien segnen unterschiedslos alles, was ist. Wäre es denn, wenn es nicht die Weihe des Seins hätte? Halt, das ist zu einfach. Gibt es denn seriöse Alternativen zu den herrschenden Fakten und Tatsachen? Also shut up.

Machen wir‘s uns einfach, lösen wir unsere Probleme. Die Verweigerung des Einfachen wäre identisch mit dem Untergang der Gattung. Ach, wenn das Einfache nur nicht so schwierig wäre. Es schimmert in allen Farben:

„dasz gott durch mich simplen idioten … vil tausent bekhert hat.“

Der Narr Christi ist der wahre Einfältige, der seinem Erlöser das Denken überlässt. Nur gottlose Heiden denken kompliziert. Mit Denken wollen sie den Urgrund des Seins, ja Gott selbst ergründen. Welch eine Hybris!

„wie glücklich wir, die nicht so simpel sind. Shakespeare winterm. 4, 3;“

Glücklich sind nicht die Ein-Fältigen, sondern die Viel-Fältigen, die dem Einfachen misstrauen und das Komplexe der Natur und des Menschen bestaunen.

„der simple mensch sieht immer zehn auswege, einem beschwernisz zu entkommen, wo ein denker oft stockt und stottert. Fr. Müller 3, 147“

Das klingt modern. Nur der Simpel sieht einfache Problemlösungen, der Denker sieht keinen Ausweg – oder vor lauter Bäumen den Wald nicht.

Göthe 16, 21; sie hat eine melodie, die sie auf dem klaviere spielet mit der kraft eines engels, so simpel und so geistvoll.“

Goethe und Hegel dulden keine Widersprüche: Nur Engel sind simpel und geistvoll in einem.

„der (bauer) iszt, trinkt, arbeitet, schläft und liebt, so simpel weg.“

(Alle Zitate aus Grimms Wörterbuch)

Bauern sind keine Engel. Was früher der Bauer war, ist heute der Demokrat: er liebt das Simple, weil er ein Einfaltspinsel ist. Nur Eliten halten dem Komplexen stand – wie sie sich selber einbilden.

Gott hasst die Weisheit der Weisen. Er liebt die Einfältigen, worunter er die Kinder zählt. „Wenn ihr nicht werdet wie die Kinder, werdet ihr nicht in das Reich der Himmel kommen.“

Kinder sind nicht einfältig, sie sind lernfähig und die schärfsten Denker – sofern man sie mit Mythen nicht am Denken hindert.

„Sehet an, liebe Brüder, eure Berufung: nicht viel Weise nach dem Fleisch, nicht viel Gewaltige, nicht viel Edle sind berufen. Sondern was töricht ist vor der Welt, das hat Gott erwählt, daß er die Weisen zu Schanden mache; und was schwach ist vor der Welt, das hat Gott erwählt, daß er zu Schanden mache, was stark ist; und das Unedle vor der Welt und das Verachtete hat Gott erwählt, und das da nichts ist, daß er zunichte mache, was etwas ist, auf daß sich vor ihm kein Fleisch rühme.“

Das ist der ultimative Vernichtungsangriff gegen das natürliche Denken oder die Weisheit der Frauen, die ihre Klugheit der Natur verdanken. Eva respektierte nicht das Denkverbot des Männergottes. Dafür wurde sie mit allen Kindern und Kindeskindern bis zum heutigen Tag geächtet, gedemütigt, geschändet und vernichtet. Als wissende Frau wurde sie zur Hexe erklärt, die gepfählt, gefoltert und verbrannt wurde.

Auch der Kampf der gegenwärtigen Eliten gegen das Einfache und für das Komplexe ist keineswegs ein Kampf für komplexes Denken. Sonst würden sie den demos auffordern, den eigenen Kopf einzuschalten und selbständig zu denken. Genau dies tun sie nicht. Sie verachten das Einfache und das Komplizierte, vor dem sie selbst kapitulieren.

Wer hat denn mit unverständlichen Papieren die Weltwirtschaft ins Wanken gebracht? Wer beteuerte, die Krise nicht vorher gesehen zu haben? Wer steuert heute in vollendeter Verblendung die nächste Weltkrise an? Die Überkomplexen, die nicht mehr eins und eins addieren können.

Welche Kohorten wollen die größten Genies der Gegenwart sein? Diejenigen, die glauben, gottähnliche Unbegrenztheit und Unsterblichkeit des Menschen mit algorithmischen Methoden herstellen zu können. Krankhafte religiöse Phantasien werden als wissenschaftliche Beweisbarkeiten der nahen Zukunft gehandelt.

Wir leben in Zeiten, in denen die Aufgeklärtesten sich nicht trauen, solchen Wahnwitz zu verlachen. Die Moderne als heiliger Fortschritt ins Unendliche und Unbegrenzte ist Glaubensparagraph Nummer eins der Gegenwart. Wer sich gegen ihn versündigt, ist ein Modernitätsverlierer und Loser. Wer heilige Röcke anbetet und naturwidrige Wunder für möglich hält, der wird zwischen Lourdes und Silicon Valley keinen großen Unterschied erkennen.

Ist das Einfache das Gegenteil des Komplexen? Das Einfache, das schwer zu machen ist. Bei vollendeten Meistern sieht alles einfach aus. Doch welche Mühe und Anstrengung kostete es, diese Einfachheit zu erarbeiten? Wie lange war das Einfache das Signum des Genialen?

Festingers Reduktion der kognitiven Dissonanz war die Beschreibung des Denkens überhaupt. Nicht anders als bei den Griechen, die mit Widersprüchen nicht leben konnten und solange über Irrungen und Wirrungen nachdachten, bis sie die logische Einfachheit der Widerspruchslosigkeit gefunden hatten – oder das Problem für vorläufig unlösbar erklärten.

Dissonanzen kann man nur empfinden, wenn man logische Denkregeln als Erkenntnismittel akzeptiert. Wem Dissonanzen und Widersprüche Jacke wie Hose sind, der darf sich beruhigt aufs Faulbett des Glaubens legen. Er glaubt, weil es absurd ist.

Im Glauben sind das Einfache und Komplexe ein Einheitsbrei. Weder das eine noch das andere ist dem menschlichen Urteilsvermögen zugänglich. Alles muss der Fromme der überlegenen Weisheit des Himmels überlassen.

Erkennen ist Reduktion des bislang Unerkannten. Habe ich etwas von der Natur erkannt, habe ich das Reich des Unerkannten um einen Teil vermindert.

„Das Schlimmste ist, dass wir die einfachsten Fragen mit Tricks zu lösen versuchen, darum machen wir sie auch so kompliziert. Man muss nach einfachen Lösungen suchen.“ – Anton Tschechow, Notizbücher

„Die Genialität einer Konstruktion liegt in ihrer Einfachheit. Kompliziert bauen kann jeder.“ – Sergej P. Koroljow.“

Auch das KISS-Prinzip der Amerikaner will das Einfache als Lösung des Problems:

„Das KISS-Prinzip besagt, dass eine möglichst einfache Lösung eines Problems gewählt werden sollte. Keep it simple, stupid. („Halte es einfach, Dummkopf!“; sinngemäß: Mach’s so einfach wie möglich“. (Wiki) 

Erkennen ist Überführen des Unbekannten in Bekanntes. Gestein vom Mond erkenne ich, wenn ich es als Variante irdischer Elemente einordnen kann. Wenn die Gegenwarts-Eliten das Einfache verhöhnen, wollen sie nichts weniger als das Erkennen zur Strecke zu bringen. Ihr Plädoyer für das Komplexe ist eine Bankrotterklärung vor dem folgerichtigen Denken und Erkennen des Menschen.

Warum hat die Religion keine Mühe, ihre uralten Machtbastionen zurückzuerobern? Weil Erkennen ans Kreuz der Dummheit geschlagen wird, die man als höhere Weisheit anpreist. Sie kennen keine Lösung, wissen aber, dass jede Lösung eine Scharlatanerie des Simplen sein muss.

Sie betrachten nicht den Inhalt oder die Substanz einer Aussage, sonder kleben am äußeren Etikett: Welch ein Klischee! Immer das Alte! Nie etwas Neues! Diese ewigen Wiederholungen! Old School! Das Gewäsch von gestern!“ – und wie all diese seichten Verrisse von außen klingen. „Kapitalismus? Na klar, der muss für alles herhalten. Immer das alte Lied von der Gleichheit und Gerechtigkeit.“

Solche substanzlosen Attacken ähneln zum Verwechseln früheren Angriffen der Deutschen Bewegung gegen die Menschenrechte des Westens. „1914 gegen 1789“.

Ausgerechnet das Volk der Geniereligion will das Einfache – als Signum des Genialen – am Boden zerstören. Wie erklären wir uns das?

Im Griechischen erkannte das Genie die Natur, wie sie ist. Ab der christlichen Moderne löst sich das Erkennen vom simplen Kopieren der Natur. Diese Abhängigkeit von der sündigen und weiblichen Natur erschien christlichen Genies unerträglich. Erkennen darf kein sklavisches Abbilden des Vorhandenen, es muss dem Vorhandenen seine eigene creatio ex nihilo entgegen setzen. Bei Leibniz schafft das Genie „mögliche Welten, es wird zum Schöpfer und damit quasi zum Gott („poeta alter deus“ – der Dichter als zweiter Gott).“

Das Gesetz, sich von der ersten Natur unabhängig zu machen, indem man eine zweite aus der Tiefe seiner Gottähnlichkeit erfindet, wurde zum Grundgesetz der gesamten Moderne. Die Naturgläubigkeit der Griechen wurde umgewandelt in Naturverachtung und Naturzerstörung der christogenen Gegenwart. Erkennen durfte kein minderwertiges Abkupfern und Plagiieren einer teuflischen Substanz bleiben, sie musste die nichtswürdige Vorlage überwinden und ein neues, himmlisches Sein erschaffen. Erkennen wurde zum Kreieren aus Nichts. Ich erkenne, was ich selber mache.

Das ist der Grund, warum Arbeit zum Kern des Kapitalismus wurde. Durch Arbeit erschaffe ich etwas, was weitaus wertvoller ist als die Natur. Nehmen wir Locke, der das Arbeitsprodukt des Menschen um 99 Hundertstel höher einschätzt als den natürlichen Rohstoff. Das Natürliche ist das Rohe und Unvollkommene, das durch menschliche Tätigkeit und Invention zur göttlichen Qualität veredelt wird. „Natur und die Erde lieferten nur die an sich fast wertlosen Rohstoffe“. (Hans Immler, Natur in der ökonomischen Theorie)

Das ist auch der Grund, warum männliche Veredelungsarbeit der Natur allein bezahlungs- und lohnwürdig ist. Die gesamte Frauenarbeit der Kindererziehung und Hausarbeit ist minderwertig. Das Weib produziert nichts durch Arbeit. Also muss sie abhängig bleiben vom Lohn und Gehalt des göttergleichen Gatten.

Kann es Zufall sein, dass Kinder als Erziehungs-„Produkte“ der Frauen – umgekehrt zu Locke – nicht mehr als 20% von der Mutter geprägt sein können und zu 80% von der Natur determiniert sind, wie Eysenck es vermutete? Das Weib als Naturwesen schafft es nicht, dem Mann gleich zu werden und die kindliche Naturvorlage um ein fast 100-faches zu überwinden. Das Kind als Produkt des Weibes bleibt sündige und minderwertige Natur.

In seinem Gedicht Prometheus verachtet Goethe zwar den Gott Zeus, in Wirklichkeit aber verachtet er die Vorzüglichkeit und Vorbildhaftigkeit der Natur – von der er sich in einem titanischen Kraftakt löst:

„Hier sitz‘ ich, forme Menschen

Nach meinem Bilde,

Ein Geschlecht, das mir gleich sei,

Zu leiden, weinen,

Genießen und zu freuen sich,

Und dein nicht zu achten,

Wie ich!“

Das deutsche Genie will nicht am Bändel der Natur gehen. Es reißt sich los von der Natur und erschafft in göttlicher Eigenmächtigkeit seine zweite und vollendete Natur. Natur nachzuahmen wäre – zu einfach. Ja, für himmlische Supermänner ist es schlechthin verboten, sich nach Vorlagen umzuschauen. Dass Goethe, der Naturliebhaber, noch zwiespältig war, zeigt sein Gedicht „Den Originalen“:

Ein Quidam sagt: »Ich bin von keiner Schule;

Kein Meister lebt, mit dem ich buhle;

Auch bin ich weit davon entfernt,

Daß ich von Toten was gelernt.«

Das heißt, wenn ich ihn recht verstand:

»Ich bin ein Narr auf eigne Hand.«

Wer Natur als Autorität akzeptiert, anstatt seine eigene Unvergleichlichkeit ins Spiel zu bringen, der mag prometheisch sein, in Wirklichkeit bleibt er ein Narr auf eigene Hand. Doch die zwiespältige Rückkehr Goethes zum griechischen Denkmodell blieb eine unwesentliche Episode.

Der Narr auf eigene Hand wurde zum Gott der Gegenwart. Die Verachtung des Einfachen war Ergebnis der Verachtung der Natur, die überwunden werden muss, auf dass die unvergleichliche Gottebenbildlichkeit des Menschen die Natur zuschanden mache.

Die Hypertrophie der Moderne beginnt mit dem Satz: Ich denke, also bin ich.

Darauf folgte der Satz: Ich arbeite und produziere, also bin ich.

Um schließlich im absoluten Triumph des naturüberwindenden Gottmenschen zu kulminieren: Ich erkenne aus Nichts, um das Vollendete aus Nichts zu erschaffen.

Die Kehrseite der gigantesquen Selbstüberschätzung der Moderne lautet:

Wer aus Nichts erkennen und kreieren kann, der kann auch ins Nichts zerstören. Seine Allmacht wird er sich eines tollkühnen Tages beweisen, wenn er sich in jenes Nichts auflöst, in welchem er einst begonnen hat.

Der Nachruf unbekannter Wesen wird im Weltall verwehen: Von nichts zu nichts: das war die Geschichte einer genialen Gattung.

 

Fortsetzung folgt.