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Europäische Idee LXV

Hello, Freunde der europäischen Idee LXV,

selber schuld, wer geboren wird. Warum verbot er seinen Eltern nicht, ihn in freventlicher Lust zu zeugen, in ein ungewolltes Leben zu werfen, das er wie eine unaufhörliche Strafe empfindet? Seine Geburt muss er nachträglich rechtfertigen – oder lebenslang dafür büßen. Oder? Er muss sich rechtfertigen – indem er lebenslang büßt. Geborenwerden heißt schuldig sein. Rechtfertigen heißt büßen. Durch Leistung, die belohnt wird – oder unbelohnt bleibt.

Jede Leistung, die abhängig ist von fremdbestimmtem Lohn, ist eine Strafe. Immer lebt sie in Angst und Unsicherheit, der Lohn könne ungerecht sein, er könne ausbleiben oder als Erpressung zu erzwungenen Taten führen. Die Strafe bestünde im Sein-in-der Angst, im Sein-in-der-Abhängigkeit.

Wer in ständiger Existenzangst lebt, kann kein frei bestimmtes Leben führen. Er ist Sklave seiner Versagensängste und jener Mächte, von deren Lohn er lebenslang abhängig ist.

Leistung gegen Lohn ist immer ungerecht. Ein autonomer Mensch will seine Lebensleistung aus Freude am Dasein, als freie Sinngestaltung, als Energieüberfluss, als selbstbestimmten Beitrag zur gemeinsamen Lebensbewältigung bringen. Das BGE ist ein sinnvoller Zwischenschritt, doch die Frage nach einem gerechten Wirtschaftssystem kann es nicht ersetzen.

Selbstbestimmte Leistung kann keine Vor-leistung sein, um einen willkürlich festgesetzten Lohn zu erwarten, der von fremden Mächten in Gnadenstimmung gewährt oder vorenthalten wird. Keine Leistung will durch Sorge, Lebensangst und Furcht vor Versagen genötigt und erzwungen werden.

Das Dasein im Kapitalismus ist eine lebenslange Strafe für die Schuld des Geborenwerdens. Identisch mit dem neutestamentlichen Fluch: wer nicht arbeiten will, soll auch nicht essen. Ein interessantes Motto für eine Religion der Nächstenliebe: Todesstrafe für Arbeitsverweigerer. Arbeit wird im Christentum zum

Mysterium tremendum et fascinosum (zum Geheimnis der Eliten, das Furcht und Faszination auslöst).

Es ist eine Beleidigung des Menschen, dass er sich ohne Zwang wie ein Parasit verhielte. Außer Machtmännern gibt es keine Menschen auf der Welt, die ihren Beitrag zur gemeinsamen Lebenssicherung verweigern würden. Der Mensch ist ein Gemeinschaftswesen, nicht aus Zwang und saurer Pflicht, sondern aus dem Bedürfnis, ein wertvolles, anerkanntes und gleichberechtigtes Mitglied der Familie, Sippe und Gesellschaft zu sein.

Männer, die Geld und Macht besitzen, sind die einzigen Parasiten der Welt, die es verstanden haben, ihren Mammon für sich arbeiten zu lassen – um sich als Wohltäter der Menschheit aufzuspielen. Wer sein Geld für sich arbeiten lässt, arbeitet nicht. Wer Liebe mit Geld kauft, liebt nicht.

Nicht nur der Lohn-Empfänger ist ein Bestrafter, auch der Lohn- und Arbeitgeber bleibt ewig von allen sozialen Befriedigungen entfernt. Niemals kann er sich um seinetwillen geliebt fühlen. Immer muss er mit dem Verdacht leben: was, wenn ich ein armer Schlucker wäre und mir die mammonistische Befriedung meiner Urbedürfnisse nicht leisten könnte?

Jede lohnabhängige Leistung ist eine Kränkung und Demütigung des Menschen. Sei es als Lohnempfänger oder als Lohngeber, als Arbeitgeber oder Arbeitnehmer. Schon die Bezeichnungen sind Dauerdiskriminierungen. Der Arbeitnehmer ist es, der Arbeit verrichtet und damit gibt, der Arbeitgeber tut alles, um andere stellvertretend für sich arbeiten zu lassen.

Ein Arbeitsplatz ist noch lange keine Arbeit. Gäbe es keine Menschen, die auf solche fremdbestimmte Maloche angewiesen wären, könnten sich die Arbeitgeber ihre Arbeitsplätze an den Hut stecken. Ein Fabrikant mitten in einem autarken Gemeinwesen wäre zum Untergang bestimmt. Welches Vernunftwesen, das sich autonom ernähren könnte, würde sich an ein Fabriktor stellen, um einen Ausbeuter um Gnade und Barmherzigkeit anzuwinseln?

Wenn ein reziproker Vorgang ein gerechter Tausch sein soll, müssen Nehmen und Geben im Gleichgewicht stehen. Adam Smith beginnt mit der Analyse des gerechten Tauschs zwischen Metzger und Bäcker – um wenige Seiten später bei dem „Tausch“ zwischen reichen Arbeitgebern und lohnabhängigen Arbeitnehmern zu landen. Das aber ist kein Tausch, sondern die Perversion desselben. Die Machtverhältnisse, bei Bäcker und Metzger auf gleicher Ebene, sind in Schieflage geraten.

Die einstmals selbständigen Bauern wurden von den Reichen und Mächtigen ihrer Allmende und Lebensgrundlagen beraubt, damit sie genötigt werden, vor dem Fabriktor Schlange zu stehen und um Arbeit zu betteln.

Sind Angebot und Nachfrage nicht im Gleichgewicht, kann von gerechtem Tausch keine Rede sein. Ein Starker steht vielen Schwachen gegenüber. Marx spricht von industriellen Reservearmeen. Sollte das Machtgefälle die Voraussetzung eines gerechten Tausches sein, wäre jede Vergewaltigung der gerechte Austausch sinnlicher Körperleistungen.

Adam Smiths stillschweigender Übergang von der symmetrischen Ebene der Bäcker und Metzger zur Asymmetrie der Habenden und Nichtshabenden war ein kapitaler Denkfehler, der sein ganzes System ruinierte. Zu spät erkannte er seinen Denkfehler, den er am Ende seines Werkes verschämt mit der unsichtbaren Hand eines Gottes retuschieren wollte. Zu spät, das Ganze war nicht mehr zu retten.

Bei aller Sympathie für die Arbeiter entlarvte er sich als gefügiger Sohn der frühkapitalistischen Verhältnisse seiner Heimat, der nicht mehr in der Lage war, die erforderliche Rekonstruktion der Ökonomie objektiv und von vorne zu beginnen. Er erzeugte den Eindruck, als entwickele er das wirtschaftliche System ab ovo, machte jedoch einen historisch unzulässigen, riesigen Sprung aus idyllischen Anfängen in die schon seit Jahrhunderten ungerechten Verhältnissen seiner Gegenwart, in der von Ur-Tausch keine Rede mehr sein konnte.

Doch selbst die Analyse des Urtauschs misslingt Smith auf der ganzen Linie. Er erfindet die Psychologie des „homo oeconomicus“, den es im ganzen Universum nicht gibt – außer in der krankhaften Phantasie von Machtmännern.

„Wir erwarten unser Essen nicht vom Wohlwollen des Metzgers, Brauers oder Bäckers, sondern von deren Bestehen auf ihrem eigenen Interesse. Wir wenden uns nicht an ihre Humanität, sondern an ihre Eigenliebe, und wir sprechen zu ihnen nicht von unseren eigenen Erfordernissen, sondern von ihren Vorteilen. Nur der Bettler will allein vom Wohlwollen seiner Mitbürger leben – und selbst der verlässt sich nicht allein darauf.“

Oberlord Ralf Dahrendorf hielt diese Stelle für die Geburt des neuen Menschen:

„Homo oeconomicus ist geboren, der Mensch als Träger von Interessen, die er unerbittlich verfolgt. Die ökonomische Wissenschaft hat diesen Begriff der Rationalität vielfältig verfeinert; doch bleibt er die Grundlage ihrer Theorien.“ (ZEIT.de)

Was, bitte schön, ist die Verfeinerung des Unerbittlichen? Gott? Der Teufel? Oder eine seelenlose Maschine? Ist homo oeconomicus überhaupt ein Mensch? Er ist ein roboter stupidus. Eine Glanzleistung der Männerwelt, die die natürliche Geburt des schwachen Weibes verachtet, um eine Wiedergeburt aus dem Geiste der Omnipotenz zu kreieren.

„Aber nicht das Geistige ist das erste, sondern das Natürliche, hernach das Geistige. Der erste Mensch ist von der Erde, irdisch, der zweite Mensch ist vom Himmel. Wer aber von oben kommt, der ist über allen.“

Der Männertraum von der Überwindung des Weiblichen und Natürlichen: siehe, in der Männerreligion wurde er zum gläubigen, im Kapitalismus zum wirtschaftlichen und politischen, in Silicon Valley zum technischen Ereignis.

In einer Face-to-Face-Gruppe mit geringer Arbeitsteilung gibt es kein Misstrauen zwischen den Mitgliedern. Jeder tut das Seine, die Leistungen werden zusammengeworfen und jeder erhält seinen Teil. So ungefähr verhält es sich in einer stabilen Familie, einem Urdorf, einem intakten Urwaldstamm. Welchen Grund sollte es geben, den Geliebten und Vertrauten zu misstrauen? Jedes Misstrauen wäre tödlich für das Zusammenleben der Gruppe. Mangelndes Vertrauen wäre Selbstmord.

Woher das Misstrauen in die Humanität der Mitmenschen beim Aufklärer Smith, der ein Riesenwerk über die menschliche Moral schrieb? Aus Hass gegen den heuchlerischen Altruismus der Kirchen macht der Schotte eine Reaktionsbildung ins Gegenteil und betet den heiligen Egoismus an. Eine halbherzige Aufklärung traut sich nicht, die antinomistische Amoral der Kirchen radikal zu entsorgen.

Der unerbittliche Egoismus des Kapitalismus ist ein Spaltprodukt der unerbittlich-heuchelnden Nächstenliebe des Klerus. Vertrauensgruppen benötigen keine penible Aufrechnung des gleichwertigen Tausches. Jeder erhält, was er benötigt – im Rahmen des Vorhandenen. Niemand hat die Absicht, den Tauschpartner übers Ohr zu hauen. Niemand will reicher werden als der andere. Eine Konkurrenz um Geld und Macht gibt es nicht. Fortschritt ins Grenzenlose? Der Traum von Wahnwitzigen.

Die Welt des Vertrauens war die Welt der Frauen und ihrer natürlichen Geburten. Jetzt der Bruch: die Männer sind mit der „Statik“ des ewig Gleichen nicht mehr einverstanden und wollen den natürlich geborenen Menschen durch eine amoralische Kopfgeburt ablösen. Die natürliche Geburt taugt nichts, der Mensch muss wiedergeboren werden aus dem fortschrittlich-dynamischen Geist des gottebenbildlichen Himmelsstürmers Mann. Die erste Geburt des Weibes wird verfemt:

„Besser der Tag des Todes als der Tag der Geburt.“

Besser als der Tag des Todes aber ist der Tag der Wiedergeburt – nicht mehr aus dem befleckten und erbsündigen Leib der Frau, sondern aus dem göttlich-unbefleckten Geist des Mannes. „Gott hat uns gerettet durch das Bad der Wiedergeburt und Erneuerung.“

Sich täglich neu erfinden ist Pflicht des Mannes, um die defekte Natur des Weibes zu vernichten und den heiligen Geist des Mannes zu etablieren. Die Hochkultur, inklusive Technik, Fortschritt und Kapitalismus, ist das eiserne Gehäuse der männlichen Wiedergeburt, die die erbarmenswerte Natur des sündigen Weibes ablösen und vernichten soll. Das Natürliche, Weibliche ist das Erste, der Geist des Mannes ist das Zweite, Erfolgreiche und Endgültige.

Die Minderwertigkeit der Frau beginnt mit dem Satz des Sündenfalls:

„Du hast Verlangen nach dem Mann, er aber wird über dich herrschen.“

Dabei ist der Mann der Triebgesteuerte, der es der Frau übel nimmt, dass sie durch dosierte Sexualverweigerung für einen begrenzten Nachwuchs sorgt, welcher der Mutter Natur nicht die Haare vom Kopf frisst. Der Mann hingegen braucht die unübersehbare Flut uniformer Kinder, um die Erde unter Kontrolle zu kriegen. „Seid fruchtbar und mehret euch und füllet die Erde und machet sie euch untertan.“

Das Prinzip des Mannes ist die Grenzenlosigkeit, das Prinzip der Frau das nüchterne Einhalten natürlicher Begrenztheit.

(Ein typisch maskuliner Satz als Hypertrophie der Moral: unsere Barmherzigkeit kennt keine Obergrenzen – bis die absurde Allmachtsphantasie in sich zusammenbricht, um ins schändliche Gegenteil zu kippen – anstatt das Menschheitsproblem des Hungers durch eine gerechte Weltwirtschaft prophylaktisch und vor Ort zu lösen. Menschen wollen in ihrer vertrauten Umgebung menschlich leben – nicht in Todesgefahren in unbekannte Länder fliehen, wo sie um Notgroschen betteln müssen.)

Im Patriarchat werden Kinder zu Hilfskohorten der Macht. Sei es im Militärischen – „Soldaten für den Führer“ –, sei es im Wirtschaftlichen. Ein aussterbendes kinderarmes Land hat keine Chancen zum Wirtschaftswachstum. Kinder werden benötigt als Nachwuchsmatadore der Produktion und als Subjekte der Konsumption. Ökonomen betrachten Flüchtlinge als willkommene Aufstockung unserer produktiven und konsumierenden Habgier-Meuten.

Kinder stören, wenn sie das Heimchen am freien Herd daran hindern, Heimchen am maskulinen Schreibtisch zu werden. Der Trend der jungen Unternehmen geht zum Ersatz der Heimchenfamilie durch die wohl funktionierende, symbiotisch verbundene „Ersatzfamilie“ männerbestimmter Betriebe. Das geht bis zum gemeinsamen Kochen, Picknicken, einige meditieren bereits zusammen als Vorstufe gemeinsamen Betens zum Gott aller Kapitalisten.

Die natürliche Familie muss ausgerottet werden zugunsten der ökonomischen Geist-Familie der Obergrenzenlosen, deren Motto aus Amerika stammt: der Himmel ist nicht die Grenze, er ist der Anfang, fliegt los! Absoluter kann der Hass auf die erste Natur nicht sein:

„Die Kirchen bekämpften zäh das Recht der Frauen, zu bestimmen, wann, wo und wie viele Kinder sie bekommen wollten, vor allem aufgrund des tiefsitzenden Wunsches der Männer, die Kontrolle über das lebensspendende Wunder zu behalten, bei dem die Männer bloß eine untergeordnete biologische Rollen spielen. Es kann kaum bestritten werden, dass sich die männlich dominierten Religionen seit ihren frühesten Anfängen überall auf der Welt diesem Ziel verschrieben haben. Als Folge davon bedroht die Überbevölkerung die Erde mit praktisch unvorstellbaren ökologischen und sozialen Katastrophen. Selbst jetzt, im Angesicht dieser Schrecken, bleiben die religiösen Führer bei der Ansicht, dass sich die Gläubigen in alle Ewigkeit immer weiter vermehren sollen.“ (Walker)

Was ist eine gerechte Wirtschaft für Männer? Die Wachstumswirtschaft – die keinerlei Rücksicht auf ökologische und demokratische Schäden nimmt. Verteilt werden kann nur das kleine Sahnehäubchen, das jährlich mehr produziert wird. Eigentum hingegen ist heiliges, für alle Zeiten eingefrorenes Eigentum. Eigentum verpflichtet – ein Satz aus dem wunderbaren deutschen Grundgesetz – zu nichts.

Die Würde des Menschen ist antastbar, Eigentum hingegen unantastbar geworden. Dabei hat es sich über Jahrhunderte hinweg durch moralfreie Gesetzgebung ins Monströse vermehrt. Seine Reform wäre eine überfällige Korrektur historischer Fehlentwicklung seit 100en von Jahren. Wir leben auf einem glühenden Vulkan der Ungerechtigkeit.

Für die Griechen hatte die Wirtschaft nur die dienende Funktion, das Leben zu sichern, um das Gute und das Glück zu realisieren. Reichtum als Zweck des Lebens war für sie eine Perversion. Die Moderne hat die Perversion zur Normalität erklärt, die der Westen allen Völkern überstülpte, ob sie wollten oder nicht.

Wie echte Männer den sterbenden Neoliberalismus retten wollen, zeigt Henrik Müller im SPIEGEL. Das System gnadenlos auseinandernehmen, um die „Schuldigen“ der Krise zu suchen? Niemals. Die Kategorie der Schuldigen ist gestrichen. Sonst müssten alle Eliten turnusmäßig in den Knast.

„Die Wirtschaftspolitik sollte deshalb dringend die tieferliegenden Gründe für die schleichende Wohlstandskonzentration angehen. Die Suche nach Schuldigen und Sündenböcken, im politischen Geschäft beliebt, hilft nicht. Wer ernsthaft das allmähliche Auseinanderdriften der Einkommen bremsen will, muss sich einem ökonomischen Grundproblem widmen: der stagnierenden Produktivität.“ (SPIEGEL.de)

Müller leugnet nicht die immer asymmetrischer werdende Verteilung des Reichtums. Doch ungerechte Milliardenvermögen anzugreifen, um sie der Gesellschaft zurückzuerobern, der sie mit legalen Gesetzen gestohlen wurden? Nur über seine Leiche. Die historische Gerechtigkeitsfrage wird von ihm gar nicht gestellt. Was ist, das ist. Das Reale ist vernünftig, das Vernünftige real. Hegels Absegnung der göttlich regierten Macht ist das Grundgesetz der ummauerten EINPROZENT und ihrer hochbeflissenen Security-Kräfte in Medien und Politik. Was aber tun? Antwort: Bildung.

„Es geht um Bildung (von der Kita bis zur Spitzenuni), um Energie-, Verkehrs- und Netzinfrastruktur, um Steuerpolitik, Wettbewerbspolitik auf digitalen Märkten, Finanzmarktregulierung, Geld und Währung.“

Schon die Kinder in der Kita sollten – wie die Kinder in Nordkorea zum Wehrdienst – bei uns zu Soldaten der Wirtschaft dressiert werden. Ökonomen haben keine Probleme, Bildung zur Hure des Aufstiegs zu deklarieren.

Doch niemals war Bildung ein Mittel zu Macht- und Erfolgszwecken. Bildung sollte den Menschen die Fähigkeiten vermitteln, das Menschsein zu erlernen. Damit alle Menschen sich auf allen Ebenen als gleichwertige Wesen begegnen können.

Heute ist Bildung zum Treibmittel des Aufstiegs geworden. Aufstieg wohin? Zu jenen, die die globalen Probleme der Menschheit ins Unermessliche expandieren lassen? Zu jenen, die über Gerechtigkeit und andere Tugenden nicht mal grinsen können? Wer gebildet ist, steigt nicht auf. Wer aufsteigt, kann nicht gebildet sein. Sind denn Aufgestiegene gebildete Menschen? Sie sind getriebene Amokläufer, die das Schiffchen blind und taub in den Abgrund steuern.

Dämliche Frage: welche Probleme sollen eigentlich gelöst werden durch den Aufstieg einiger weniger, wenn die meisten unten in der Bedeutungslosigkeit verharren müssen?

Die Privilegierten wechseln, die Privilegien aber bleiben. Es ist wie in der Revolution. Die Mächtigen werden ausgetauscht, die stählerne Macht bleibt.

Der demokratische Hammer kommt zuletzt:

„Der Staat kann einiges tun, aber Umverteilungspolitik stößt an Grenzen. Und die werden letztlich von der Wirtschaft gesetzt.“

Abgesehen davon, dass eine Demokratie kein Staat ist, zeugt der Satz von der Hybris der Wirtschaftler, die die Volksherrschaft in eine Herrschaft des Mammons verschandelt haben. Nicht das Volk bestimmt über das Geld, das Geld bestimmt über das Volk.

Über die Krise der Demokratie brauchen wir uns keine Sorgen mehr zu machen: sie hat auf der ganzen Linie gesiegt. Wirtschaft boomt, Demokratie röchelt.

Der SPIEGEL übertrifft sich mit Todesmeldungen der Demokratie. Man solle Demokratie nicht überschätzen und von strammen Diktaturen lernen, man solle das Volk vor sich selber schützen, weil es unfähig sei, seine Belange zu vertreten – oder man sollte überhaupt den Löffel abgeben: machen wir Schluss, gehen wir sterben. So liest man von Woche zu Woche im Sturmgeschütz der Demokratie.

„Also lassen Sie uns als Freunde von dieser Welt verschwinden.“ (SPIEGEL.de)

Übertroffen werden Müllers Formeln: „mehr, schneller und produktiver“ nur noch vom obersten Hüter des deutschen Neoliberalismus in einem Spiegel-„Interview“ mit Florian Diekmann. Was ist das für eine Clowniade, wenn Journalisten, die das herrschende Wirtschaftssystem für alternativlos halten, sogenannte kritische Fragen stellen – deren Antworten sie bereits auswendig können?

Grundlegende Fragen hören wir nicht: wie verträgt sich ewiges Wirtschaftswachstum mit ökologischen Grenzen? Ständig lesen wir Meldungen, dass die Superreichen der Welt schon wieder reicher geworden sind – wie lang soll dieses Spektakel noch andauern?

Die beiden Herren seifen sich gegenseitig ein, um sich nicht auf die Zehen zu treten. Hüther vertritt ungeniert die Ungleichheit.

War Ungleichheit nicht das Haupthindernis beim allmählichen Erbauen der Demokratie? Wie verträgt sich wirtschaftliche Ungleichheit mit demokratischer Gleichheit? Sind die Herren über solche Petitessen schon hinaus? Ist ökonomische Ungleichheit nicht gleichbedeutend mit Machtgefälle? Lebt Demokratie nicht von Macht- und Gewaltenteilung? Sind die EINPROZENT in aller Welt nicht schon derart mächtig geworden, dass sie die Völker nach Belieben gegeneinander ausspielen?

Hüther bevorzugt die Methode der Dreistigkeit. Während der IWF das Ende des Neoliberalismus konstatiert, Kollege Fratzscher die deutsche Lage immer kritischer sieht, meint Hüther lapidar:

„Noch nie seit der Wiedervereinigung waren die Sorgen um die eigene wie die allgemeine wirtschaftliche Lage so niedrig wie heute.“ (SPIEGEL.de)

Deutschland, Insel der Seligen. Wozu überhaupt noch etwas ändern, wenn alles im rosaroten Bereich ist?

Hüthers Reformvorschläge klingen noch schriller als die von H. Müller. Auch bei ihm ist Bildung der nervus rerum, der alles verändern muss. Aber keine Wischiwaschibildung, sondern – man höre und staune – die präembryonale Suggestion der Säuglinge im Mutterleib. Doch womit? Früher sollten Mütter Beethoven hören, damit sie musikalische Wunderkinder gebären. Wie wär‘s mit eindringlich geflüsterten Hayek-Texten, damit die Kinderlein bei Geburt den unstillbaren Mut zum riskanten Zocken schon mit sich bringen?

„Eine intensive und individuelle Betreuung, und zwar eigentlich schon vor der Geburt. Wie bei den Babylotsen, die bereits in der Geburtsklinik eine frühe Brücke in die Kinder- und Jugendhilfe bauen. Alle Maßnahmen im frühkindlichen Bereich sind wichtig – auch die Prüfung der Deutschkenntnisse zum vierten Geburtstag und die Qualität der Kindergärten allgemein.“

Es wird Zeit, dass Kinder wirtschaftlich denken lernen, solange sie in die Windeln kacken. Wirtschaftsinspekteure müssen regelmäßig alle Kitas und Kinderstuben überwachen, um die Beglückungspädagogik des homo oeconomicus nicht dem Zufall zu überlassen.

Heil uns, wir gehen platonischen Zeiten entgegen. Eine perfekte Wirtschaft braucht den perfekten Nachwuchs. Hebammen ohne wirtschaftliche Zusatzausbildung dürfen sich keiner Schwangeren mehr nähern. Der SPIEGEL wird zum Vorreiter der Postdemokratie: hinweg mit blauäugigen Vorstellungen von der Herrschaft des Volkes. Weder das Volk (so Augstein), noch das allgemeine Bildungswesen (so Müller), schon gar nicht die präembryonale Suggestionspädagogik (so Hüther) dürfen dem tumben Volk überlassen werden. Die Eliten beginnen, sich ihres ehrgeizvergessenen Fußvolkes zu schämen.

Es wird Zeit, dass die letzten Rückzugsbezirke der Frauen der Oberaufsicht männlicher Männer unterstellt werden. Die Herrschaft der Priester muss durch die Herrschaft der Ökonomen komplettiert werden. Hierauf folgt das Regiment der Futuristen.

Der Siegeslauf des homo oeconomicus wird gekrönt durch den triumphalen Schlussspurt des homo algorithmicus. Nicht geboren zu werden, ist für Sterbliche das Beste. Das Schlimmste aber ist, zu sterben, ohne die Freuden des Kapitalismus erlitten zu haben.

 

Fortsetzung folgt.