Kategorien
Tagesmail

Europäische Idee LXIX

Hello, Freunde der europäischen Idee LXIX,

der Preis des ehernen Fortschritts ist – der Rückschritt, das Kreuz der Zivilisation – die Barbarei des Kreuzes. Jedes Gute hat seine Schattenseiten, es muss mit Schlechtem bezahlt werden. Überstiegen die Schattenseiten das Maß des Fortschritts, befänden wir uns im unaufhörlichen Verfallsprozess, auch wenn wir uns einbildeten, unaufhörlich vorwärts zu schreiten. Fortschritt wäre die aufreizende Fata Morgana, die uns in den Abgrund risse.

Gibt es Umfragen, ob die Menschen der Gegenwart immer noch an den Fortschritt glauben? Werden solche schicksalsentscheidenden Fragen von der Menschheit debattiert? Alles, was dem Bewusstsein entzogen wird und den Menschen beherrscht – ist Religion.

Fortschritt ist keine Willenserklärung einer denkenden Menschheit, sondern Diktat einer Minderheit, welches von einer Mehrheit akzeptiert wird, die den Fortschrittsglauben seit Urzeiten verinnerlicht hat. Die Demokratien der Gegenwart sind weit davon entfernt, vitale und bewusste Gesellschaften zu sein. Sie folgen Imperativen, die ihrer Kontrolle entzogen sind. Wache Gesellschaften wüssten, was sie tun und warum sie es tun.

Dennoch gibt es verräterische Hinweise auf die emotionale Unterwelt der Menschen. Die Zeitgenossen sind nicht mehr davon überzeugt, dass sie für eine bessere Zukunft ihrer Kinder arbeiten. Früher sollten Kinder es besser haben. Heute ist der Satz gestrichen.

Die Flucht in eine zwanghafte und ruhelose Betätigung verbietet sich die Angst, die fortschrittliche Moderne könnte nachkommenden Generationen eine ruinierte Welt hinterlassen. Könnte es sein, dass es kleinen Führungscliquen gelungen ist, den abhängigen Massen – die keineswegs das futurische Heil erwarten – ihren Zukunftswahn einzubläuen?

Woher das Gerede über Helikoptereltern, die aus Sorge um das Wohl ihrer

Kinder ihre Beschützerpflichten scheinbar übertreiben? Wem die Welt täglich bedrohlicher erscheint, der kann seine Lieben nicht entspannt den Gefahren immer aggressiver werdender Zeitgenossen überlassen. Es gehört zu den Fachidiotien atomisierter Berufe, dass sie Probleme nicht im Gesamtzusammenhang der Weltentwicklung sehen können. Ein nassforscher Lehrer, dem es nicht passt, dass er sich zunehmend mit besorgten Eltern herumschlagen muss, schreibt im SPIEGEL:

„Kinder werden heute vor allen potenziellen Gefahren bewahrt: Mama hält sie auf der Rutsche fest und bestimmt auch, welche anderen Geräte auf dem Spielplatz tabu sind. Dabei sollten das die ersten wichtigen Entscheidungen im Leben eines Kindes sein: das Wagnis der Höhe und das Risiko des Scheiterns.“ (SPIEGEL.de)

Unbemerkt hat die neoliberale Ideologie die Hoheit über die Pädagogik übernommen. Gibt es eine erzieherische Pflicht zum Wagnis der Höhe? Ist das Mantra des Fortschritts: höher, schneller und weiter, zum Dogma der Pädagogik geworden? Gehört es zur Pflicht der Erzieher, ihre Heranwachsenden mit dem Risiko des Scheiterns vertraut zu machen?

Kinder werden selbstbewusst durch verlässliches Können und fortschreitendes Erkennen. Scheiternde Kinder werden ängstlich und neurotisch. Wohl besteht Lernen aus Versuch und Irrtum. Doch auf die Dosierung kommt es an. Nur, wer seiner Sache grundsätzlich sicher sein kann, für den ist Scheitern eine schöpferische Herausforderung.

Dass erfolgsverwöhnte Alphamännchen das Scheitern in den Vordergrund stellen, ist eine durchsichtige PR-Aktion. Wäre Bill Gates zum Erfolgsgiganten geworden, wenn er in seiner Garage vor allem gescheitert wäre?

Das verdächtige Preisen des Scheiterns soll die Scheiternden daran hindern, tatsächlich an ihrer Mission der Welteroberung zu zweifeln. Zweifel ist heute keine Prüfmaßnahme eines selbstkritischen Denkens, das sich in der Wahrheitssuche nicht beirren lässt. Der propagierte Sinn des Zweifelns muss eine paradoxe Funktion erfüllen: hoffentlich kommt niemand auf die Idee, den Zweifel wörtlich zu nehmen – um dem ganzen Zukunftsklamauk den Abschied zu geben. Kein Erlöserglauben duldet Zweifel am Heil des Himmels, kein Fortschrittsglaube duldet die geringsten Skrupel am Sinn einer phantastischen Zukunft.

Würde jemand auf die verwegene Idee kommen, den Menschen ein Moratorium des Überdenkens und Zweifelns vorzuschlagen – er würde in die Psychiatrie eingeliefert werden. Moratorium (Aufschub) würde als hinterlistige Prokrastination verfemt werden – ein krankhaftes Aufschieben aller Dringlichkeiten.

Neoliberale Oberhirten wie Michael Hüther, Direktor des Instituts der deutschen Wirtschaft, haben schon fast das Ziel einer ökonomie-dominierten Erziehung der Kinderstube erreicht, wenn modern sein wollenden Pädagogen nichts anderes einfällt, als ihren Zöglingen das Einmaleins riskanten Zockens und einer höhenbewussten Karriere einzutrichtern.

Der alleinseligmachende Aufstieg in die Höhe erfordert schwindelfreie Solipsisten, die sich von allen gewachsenen Lebensbeziehungen „lösen“ können, um sich als einsame Götter des Universums nicht fürchten zu müssen. Selbst Gott ertrug nicht das Alleinsein und – erfand Welt und Menschen, um sich mit ihnen in heilsgeschichtlicher Dramatik mit mehreren Akten zu vergnügen und seine übermäßige Zeit ein wenig tot zu schlagen, indem er am Ende aller Tage seine ganze Schöpfung tot schlagen wird – mit Ausnahme weniger Lieblinge. Die Langeweile im leeren All wäre unerträglich geworden.

Ray Kurzweil hat aus seinem Namen eine Berufung gemacht und ist dabei, gottgleiche Unsterblichkeit in maschineller Kreativität zu erfinden. Damit die Unsterblichen von Silicon Valley sich nicht langweilen, werden sie mit Sicherheit – auf welche Idee kommen? Richtig, sie werden die Schöpfung erneut von vorne beginnen und Kreaturen nach ihrem Bilde konstruieren. Wahrscheinlich wieder aus Lehm, der sich algorithmischen Gesetzen beugen muss. Vermutlich war der Gott der Heiligen Schrift nichts anderes als ein urzeitlicher Tüftler und Erfinder, der sich die Schöpfungsgeschichte ausdachte, um seine endlose Freizeit ein wenig zu verkürzen.

Fortschritt lebt von Zukunft, also brauchen wir Zukunftsdeuter und Propheten. Deutsche Edelschreiber sind keine Denker, aber mit Leib und Seele sekundäre Propheten der Propheten. Schirrmacher, sekundärer Prophet des Original-Propheten Kurzweil, wurde von einem tertiären Propheten namens Augstein in den Himmel gehoben. Deutsche Gazetten sind Emanationen amerikanischer Primär-Offenbarungen.

„Seit Jahren treibt es ihn um, dass in Amerika der Code unserer Zukunft geschrieben wird und wir davon nichts wissen. Im Jahr 2000 klagte Schirrmacher: „Der amerikanische Theoretiker und Computerexperte Ray Kurzweil verkündet unter dem Beifall des amerikanischen Publikums, dass Computer noch zu unseren Lebzeiten den menschlichen Verstand übersteigen werden, und in Deutschland kennt man noch nicht einmal seinen Namen.“ (SPIEGEL.de)

Hüthers Kollege Marcel Fratzscher ist wesentlich kritischer als der wissenschaftliche Lakai der Industrie, dennoch landet er bei denselben Schlussfolgerungen einer frühkindlichen Hayek-Pädagogik.

„Wir brauchen erstens: den Ausbau der frühkindlichen Bildung. In den ersten sechs Jahren des Lebens werden die Weichen gestellt. Der Ausbau der Kitas ist richtig, die Qualität muss aber deutlich verbessert werden, beim Betreuungsschlüssel etwa. Zweitens: Wir brauchen ein Schulsystem, das viel mehr Wert auf Betreuung legt, viel mehr Ganztagsschulen. Über 80 Prozent der Schulen sind keine wirklichen Ganztagsschulen.“ (TAZ.de)

Die Ökonomen haben komplett den Verstand verloren – aus Mangel an solider Bildung? Was treiben diese ungebildeten Horden an einer Universität, die sich der Bildung der Menschen verschrieben hat? Bildung ist kein Konkurrenz- und Karrieremittel, sondern Selbstbesinnung des Menschen auf sich selbst und seine Stellung im Kosmos. Wer auf Teufel komm raus reich werden will, kann nicht gebildet sein. Gebildete Menschen sind unabhängig von wachsenden Profitraten. Wirtschaft ist keine herrschende, sondern eine dienende Wissenschaft. Sie dient dem Überleben und einem guten Leben.

Ein gutes Leben ist kein Dasein in naturschädlichem Überfluss, keine privilegierte Luxusenklave auf Kosten unendlich vieler Menschen, Tiere und Pflanzen. Ist der Begriff Ökologie bei den Ökonomen noch immer nicht angekommen? Leiden Wirtschaftler an Seinsvergessenheit, an Seinsverdrängung? Wissen sie nicht, dass Ökologie so viel wie „Lehre vom Haushalt“ bedeutet, im Grunde nicht anders als Ökonomie: das Gesetz des Hauses? Das Haus ist keine privatistische Zufluchtshöhle, sondern das Gehäuse der Polis, ja der gesamten Menschheit, die friedlich und freundlich auf einem Planeten zusammenwohnt.

Höchste Zeit, dass diese amoralische und menschenschädigende „Wissenschaft“ als Afterwissenschaft aus der alma mater mit Schimpf und Schande vertrieben wird. Husch, husch, ihr Advokaten jahrhundertelanger Ungerechtigkeit, schlüpft unter bei denen, deren demokratiefeindlichen Machtkomplexe ihr stützt und fördert.

So weit ist es gekommen, dass Zahlenfetischisten die Seelen der Kinder mit erbarmungslosen Konkurrenzgefühlen und gefährlichen Zockerrisiken infiltrieren und beschädigen – in untertänigem Gehorsam einer immer totalitärer werdenden EINPROZENT der Weltoligarchie.

Früher lehnten Kapitalisten den dirigistischen Sozialismus ab. Heute sind sie dabei, von der Kinderstube bis zum Altersheim die ganze Welt mit einer menschenbeglückenden Gesamtplanwirtschaft zu dirigieren. Immer vorne dabei: Pastorentochter Merkel, deren sozialistische Erfahrungen ihr bei dieser ökonomischen Weltdurchdringung zu gute kommen.

Dabei gelingt es den kaltblütigen Profitanbetern nicht mal, das Haus Europa in Ordnung zu halten. Merkel & Schäuble würgen alle Nachbarn, die nicht ganz so tüchtig sind wie die Deutschen, so lange, bis sie kaum noch atmen können. Selbst Frankreich, der wichtigste Partner, wird durch erschlichene Konkurrenzvorteile – auf Kosten deutscher Lohnabhängiger – immer mehr in eine Dauerkrise gezwungen. Merkel denkt nicht daran, ihrem Freund Hollande auch nur einen Millimeter entgegen zu kommen. Deutsch – oder der Abgrund: das ist ihre diktatorische Unerbittlichkeit, vorgetragen immer in mütterlicher Demut.

Anstatt die französischen Demonstrationen zu unterstützen, sind fußball-berauschte Deutsche sauer auf die unfairen Störungsversuche der kapitalistischen Balltreterspiele. Ulrike Herrmann benennt die Schuldigen des französischen Arbeitskonflikts: es sind die Deutschen.

„Die französischen Gewerkschaften sollten lieber gen Osten blicken – und die Bundesrepublik attackieren. Denn die Arbeitslosigkeit in Frankreich steigt, weil die Deutschen ihre Arbeitslosigkeit exportiert haben. Das Symbolwort heißt „Agenda 2010“: Systematisch wurden die deutschen Reallöhne gedeckelt, um sich Wettbewerbsvorteile zu erschleichen. Die Franzosen hingegen verhielten sich bisher fair. Sie ließen ihre Gehälter mit dem technischen Fortschritt steigen, haben also nicht über Dumpinglöhne konkurriert. Der Preis ist bitter: Durch seine Trickserei hat Deutschland jetzt einen Wettbewerbsvorteil von etwa 20 Prozent. Hier herrscht fast Vollbeschäftigung, während in Frankreich etwa 10 Prozent arbeitslos sind.“

Auch die „schwarze Null“, das dogmatische Sparen Schäubles, nützt niemandem und schädigt die poröse und vergammelte Infrastruktur der Deutschen. Schulden müssen sinnvoll eingesetzt werden, um den wirtschaftlichen Blutkreislauf einer Nation zu stärken. Wäre es nicht seltsam, einem Patienten mit Blutverlust noch mehr Blut abzuzapfen?

„Historisch falsch ist in dieser Situation die schwarze Null, an die sich Kanzlerin Angela Merkel und Finanzminister Wolfgang Schäuble (CDU) klammern. „Keine neuen Schulden“ ist das Mantra, dem alle Entscheidungen untergeordnet werden – und das sich in einigen Jahren bitter rächen wird.“ (SPIEGEL.de)

Ist der Kapitalismus ein verbrecherisches System? Wurde der Sozialpsychologe Welzer in „Kulturzeit“ befragt. So könne man das nicht sagen, antwortete Welzer, schließlich habe jener dazu beigetragen, unseren Wohlstand zu schaffen.

Ein Verbrechen ist ein Verstoß gegen herrschende Gesetze. Wie aber nennt man Verbrechen, die im Einklang mit herrschenden Gesetzen erfolgen? Wurden abendländische Gesetze seit Erfindung des Kapitalismus nicht laufend verändert, damit sie die amoralischen Machenschaften der Reichen absegnen und legalisieren?

Es war nicht der Kapitalismus, Herr Welzer, der unseren Wohlstand schuf, es waren arbeitende, malochende und erfindungsreiche Menschen. Man braucht keine kapitalistischen Ausbeuter-Strategien, um in Gemeinschaft ein befriedetes Leben im Einklang mit der Natur zu leben. Demokratie ist nicht identisch mit einer natur- und menschenschädigenden Ökonomie.

Ist Kapitalismus eine Disziplin des Fortschritts? Dann müsste es allen Menschen, besonders den Lohnabhängigen, immer besser gehen. Das Gegenteil ist der Fall, bekennt der ehemalige NDR-Reporter und heutige Rentner Christoph Lütgert in der ZEIT:

„Für meine Generation hieß es: Was kostet die Welt? Und sie durfte was kosten. Inzwischen herrscht überall eiserner Sparzwang, Stellen werden abgebaut. Wer auf einer sitzt, krallt sich fest, solange er kann. Meine Generation war unabhängig und frei. Wir konnten uns bedenkenlos, kritisch und auch aggressiv mit unseren Vorgesetzten fetzen. Heute ist das, vorsichtig formuliert, nicht mehr so. Klar doch, wer sich von einer Vertragsverlängerung zur nächsten hangeln muss, ist auf Goodwill von oben angewiesen. Unstreitig: Die Mittel sind heute knapper als früher. Aber musste der Wandel zu ungesicherten Arbeitsverhältnissen so radikal sein?“

Immer neue Generationen perfekter Roboter vernichten immer mehr Arbeitsplätze. Die Menschen werden gezwungen, immer kläglichere und unwürdigere Ersatzarbeitsplätze zu schaffen. Der Profit der Maschinen wandert allein in die Taschen der EINPROZENT. Die Lohnabhängigen gucken in die Röhre. Fortschritt?

Quantitativer Fortschritt für wenige, aber qualitativer Rückschritt für die Gattung. Jeder Fortschritt der Moderne ist ein quantitativer, der die Qualität des Lebens vernichtet. Vor einigen Jahren versprachen die Regierungen, das quantitative BSP zugunsten eines qualitativen, nationalen „Glücks-Barometers“ zu verändern. Kaum ausgesprochen, waren die Versprechungen wieder vergessen.  

Der Fortschritt begann bei Francis Bacon als Abkehr von allen Fragen der Moral. Fortschritt sollte den linearen Geschichtsverlauf bis zum Ende aller Zeiten durch technisches Machtwissen beschleunigen und die Parusie des Herrn selbsterfüllend herbeiführen.

Was fälschlicherweise Säkularisation genannt wird – Verweltlichung –, hat im Abendland nie stattgefunden. Die Verweltlichung war nur eine Transformation der Eschatologie in Wirtschaft und Technik mit „säkularen Mitteln“. Die wissenschaftlichen Methoden waren weltlich, die Abendländer hatten sie von den Griechen gelernt. Doch das Ziel der heidnischen Instrumente war die Beschleunigung der Heilszeit, um das verheißene Land Neukanaan zu realisieren.

Einen Christen erkennt man nicht an seinem Glaubensbekenntnis, sondern an seinen Taten. Sind seine Taten heilsgeschichtlich, ist der Täter christlich – ob er es weiß oder nicht. Es liegt nicht in der trügerischen Kompetenz des Subjekts, sich Christ zu nennen oder nicht. Wenn Hypochonder sich eine Krankheit bescheinigen, ist ihre Diagnose wertlos. Welchen Sinn sollen medizinische oder religiöse Selbstbezeichnungen haben, wenn die Subjekte von Krankheiten und Religionen nicht das Mindeste verstehen?

Erkenne dich selbst, war die lebenslange Aufgabe des griechischen Philosophen. Nur, wenn man überhaupt erkennen kann, kann man sich selbst erkennen. Beides ist in der Moderne nicht mehr angesagt. Was soll man von einem Pastor halten, der das „numinose Fühlen des ganz Anderen“ als christliche Religion ausgibt? Christsein ist durch unendliche Deutungserweiterungen so hohl und leer geworden, dass Aussagen wie: ich bin ein Christ, keinen Erkenntniswert mehr besitzen. Ignoranz schützt nicht vor Selbstverblendung.

Prophezeien ist das leidenschaftliche Steckenpferd der Medien. Wer zuerst weiß, was „unvermeidlich auf uns zukommt“, hat den Wettstreit der Zukunftsgucker gewonnen. Experten werden nicht danach gefragt, was wir politisch tun sollten, sondern was uns in „Zeiten des Umbruchs“ erwartet. Zwischen Prognosen und Prophetien können sie nicht unterscheiden. Prognosen sind Bestandsaufnahmen dessen, was ist, die man in die nahe Zukunft hochrechnet – immer unter der Voraussetzung unveränderlicher Konstanten. Prophetien hingegen sind göttliche Offenbarungen, die man passiv von Oben erwarten muss. Gegen solche Propheten war Popper allergisch:

„Statt uns als Propheten zu geben, müssen wir Gestalter unseres Schicksals werden. Wir müssen es lernen, Dinge so gut zu tun, wie wir es können, und auf unsere Fehler Acht zu geben. Und wenn wir den Gedanken aufgegeben haben, daß die Geschichte der Macht unser Richter ist, wenn wir uns nicht mehr den Kopf darüber zerbrechen, ob die Geschichte uns rechtfertigen wird oder nicht, dann könnte es uns eines Tages sogar gelingen, die Macht unter Kontrolle zu bringen. Damit könnten wir dann sogar unsererseits die Geschichte rechtfertigen. Sie braucht solche Rechtfertigung dringend.“ (Popper)

Geschichte ist selbst gemacht. Uns erwartet nichts anderes, als wir uns selbst eingebrockt haben. Die Griechen kannten nicht die leiseste Andeutung einer Heilsgeschichte. Das wäre der Tod ihrer moralischen und politischen Autonomie gewesen.

Fast die gesamte deutsche Philosophie ist eine weltlich formulierte Heilsgeschichte. Das gilt besonders für Hegel – und seinen Schüler Marx. Die nachmarxistische Linke hängt noch immer am Rocksaum eines „metaphysischen“ Automatismus, der ihre moralische Selbstbestimmung lähmt und vernichtet. Automatischer Fortschritt entmündigt den Menschen und ist die Ursache allen verderblichen Rückschritts.

Gibt es einen „Preis, den wir für den Fortschritt“ zahlen müssen? Gibt es das „Kreuz der Zivilisation“, das wir auf uns nehmen müssen – weil es eine Zivilisation ohne Nebenwirkung nicht geben kann?

Zweimal Nein. Wäre Fortschritt menschlich, die Zivilisation human, gäbe es keine Kehr- und Schattenseiten, die wir vom Gesamtfortschritt abziehen müssten. Zahlen müssen wir nur für Fehler, für Irrungen und Wirrungen, die uns unterlaufen. Reine Moral hat keine Nebenwirkungen, nur Moral, die ihre unmoralischen Elemente ignoriert und verschweigt.

Solange wir nicht perfekt sind, müssen wir für unsere Unvollkommenheiten zahlen. Solange wir zahlen müssen, erkennen wir, dass wir nicht vollkommen sind. Können wir vollkommen werden?

Die höchste Form der Vollkommenheit, die wir erreichen können, ist die Einsicht in unsere Unvollkommenheit. Das aber wäre – die tragbare Basis einer humanen Utopie. Utopie bleibt ein Nirgendwo, solange wir sie dafür halten.

 

Fortsetzung folgt.