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Tagesmail

Europäische Idee LXII

Hello, Freunde der europäischen Idee LXII,

was den einen der Canossa-Kriech-Gang zum papa christianorum,

ist den anderen der Unterwerfungskuss an den Patriarchen einer autonomen Scharia-Republik auf dem Berge Athos,

ist den dritten die Eroberung des christlichen Konstantinopel durch die Osmanen und

den vierten die Wiederversöhnung auf den Schlachtfeldern von Verdun, um die deutsch-französische Allianz als Zentrum Europas in schweren Zeiten zu stärken und zu stabilisieren.

Noch immer bestimmen die Hasslinien unserer Geschichte – und nicht nur im dämmernden Untergrund – das Geschehen des Tages.

Gedenket doch des Vergangenen, denn es ist nicht vergangen. Niemals wird das Alte vergehen. Es wird die Gegenwart durch verdrängte Schuld bestrafen und deformieren oder sie als begriffene fördern und befreien.

Die Schuld der Alten vergeht nicht durch Ent-Schuldung des Herrn, Taufe, Neugeburt und andere ecclesiogene Neuerfindungen, Neuerschaffungen und überirdische Alfanzereien. Sie vergeht allein durch Verstehen und Begreifen. (Sola sapere aude)

Das Zerbrechen der mittelalterlichen Kirche in einen östlichen Cäsaropapismus und einen westlichen Papacäsarismus spaltet Europa bis zum heutigen Tag. Ob der Kaiser den Papst oder dieser den Kaiser kujoniert, ist belanglos. Zusammen bilden sie die fürchterliche Phalanx der europäischen Theokratien, die heute erneut dabei sind, ihren früheren Glanz zurück zu gewinnen und ihre Vernunftgegner zu

versenken.

Seit 1000 Jahren ist Berg Athos der Sehnsuchtsort westlicher Männerhorden, selbst Tiere weiblichen Geschlechts sind dort per himmlischem Ukas verboten.

Was Athos mit mönchischen Herrenmenschen für den Osten, ist Silicon Valley als Sehnsuchtsort aller Frauenfeinde für den Westen: nicht mehr lange und keine Pachamama wird mehr in den heiligen Hallen der hüftsteifen Übermenschen zu finden sein.

Mönche sind Paradigmen heutiger Roboter. Auf Knopfdruck Gottes funktionieren sie automatisch, bedürfen des Weibes nicht mehr und wollen nichts weniger als die Herrschaft der Welt.

„In verschiedenen Teilen Europas begingen Staats- und Regierungschefs ebenso wie hohe Geistliche am Wochenende eine Reihe nationaler Gedenktage. Alle bemühten sich dabei, die Geschichte zum Kronzeugen ihrer eigenen Ansichten zu machen, um daraus eine Legitimation für ihr gegenwärtiges politisches Verhalten abzuleiten.“ (TAZ.de)

Europa hat keine Philosophie des Lebens, denn es hat keine Gegenwart. Leben ist Gegenwart, die sich ihrer Vergangenheit nicht schämt und keine Zukunft verklären muss, um sich für nicht gelebte Vergangenheit zu entschädigen.

Die deutsche Lebensphilosophie des 19. Jahrhunderts war keine. Sie war eine Philosophie des Todes, denn sie entriss das Leben der Aufsicht der Urteilskraft und dämonisierte es zum vernunftlosen dionysischen Rausch. Das Leben der Starken nährte sich vom Leben der Vielzuvielen.

Bei Schopenhauer wird Leben zum herrischen Willen, der sich alles untertänig macht:

„Bei Schopenhauer finden sich erste Ansätze zur Lebensphilosophie, wenn er nicht mehr die Vernunft, sondern den Willen und damit das faktische Leben in den Mittelpunkt seines Denkens stellt. Der Wille ist das Primäre, die Basis der Vorstellungen. Er ist ein blinder, unaufhaltsamer Drang, der die ganze Natur umfasst. Vernunft und Erkenntnis sind von ihm abhängig und Ausdruck des Willens.“

Für Nietzsche ist Leben nichts als rauschhafter Wille, doch keiner zum Leben, sondern zur Macht:

„Nur, wo Leben ist, da ist auch Wille: aber nicht Wille zum Leben, sondern – so lehre ich’s dich – Wille zur Macht!“

Selbst der seriöse Ordinarius Wilhelm Dilthey befreit das Leben vom besserwisserischen Zeigefinger der Vernunft:

„Leben ist die Grundlage, die den Ausgang der Philosophie bilden muß. Es ist das von innen Bekannte, es ist dasjenige, hinter welches nicht zurückgegangen werden kann. Das Leben kann nicht vor den Richterstuhl der Vernunft gebracht werden“.

Das höchste Glück für Deutsche der Gegenwart zeigt sich im Ausdruck: machen wir etwas ganz Verrücktes und Unvernünftiges.

Wahres Leben muss sich selbst zerstören – indem es fremdes Leben zerstört. Das Leben ist der Güter höchstes nicht, der Wille zum Tod das berauschendste Delirium des Lebens.

Wir schauen nicht nach hinten, wir schauen nach vorne: die futurologische Besoffenheit der Moderne ist Unfähigkeit zum Leben. Denn Leben ist Gegenwart: Jetzt, Jetzt und Jetzt. Freie Gegenwart unterdrückt keine Erinnerung und flüchtet nicht in eine phantastische Zukunft. Sie erwehrt sich aller Veränderungen, die ihr Glück aufs Spiel setzen und begehrt alle Veränderungen, die das gemeinsame Glück der Menschheit vermehren.

Veränderung an sich ist der Untergang jeden Glücks. Glück ist kein volkswirtschaftlicher Wert, der durch Zerstörung schöpferischer oder durch riskantes Spiel kostbarer würde.

Die Verblendung der Gegenwart besteht in der Idolisierung des Wortes Veränderung. Jede Veränderung gilt als zukunftsweisend, gleichgültig, ob sie Gutes oder Verhängnisvolles bringt.

Wer wird seine Familie verlassen, wenn er mit ihr glücklich ist? Wer wird sein geliebtes Kind aussetzen, um unbelastet in die Zukunft zu gehen? Wer wird seine Selbst-Zufriedenheit (ja, selbst erarbeitete Zufriedenheit) aufs Spiel setzen, nur, um zwei Sekunden lang den Kitzel des Risikos zu spüren?

Antwort: nur jene Fremd-Zufriedenen, die ihr Glück einem Gott verdanken – oder die todessüchtige Moderne. Veränderung um jeden Preis ist ihr höchster Gott, die Vorwegnahme jenes Erlösers, der alles Alte zerstört, um alles neu zu machen.

Europa und die westliche Welt sind lebensuntüchtig und todeswütig geworden. Ihr nie eintretendes Glück einer immer verziehenden Zukunft darf die Gegenwart nicht berühren. Es ist das Glück der überirdischen Welt, das mit dem Unglück des irdischen Jammertals erkauft werden muss.

Glück hat einen Ort und einen Preis. Der Ort befindet sich jenseits des irdischen Lebens, der Preis ist Unglück auf Erden. Wahres Glück muss mit Unglück bezahlt werden. Das Glück der Menschen muss durch eine Zivilisation des Unglücks erkauft werden. Nichts Trostloseres, nichts Unerträglicheres als irdisches Glück.

„Alles in der Welt lässt sich ertragen, nur nicht eine Reihe von schönen Tagen.“

Goethe, angeblicher Lustmolch und mit Glück Gesegneter, schmiedet einen Pakt mit dem Gottseibeiuns, um irdisches Glück rigoros zu vermeiden. Das Unglück wird zum Lebenselixier nekrophiler Deutscher:

Werd ich beruhigt je mich auf ein Faulbett legen,
So sei es gleich um mich getan!
Kannst du mich schmeichelnd je belügen,
Daß ich mir selbst gefallen mag,
Kannst du mich mit Genuß betrügen –
Das sei für mich der letzte Tag!

Das BGE kann keine Erfindung deutscher Goetheaner sein. Das Faulbett wird zum Inbegriff des Spießerglücks. Was aber sind die Folgen der Flucht vor dem Faulbett?

Weh! weh!
Du hast sie zerstört
Die schöne Welt,
Mit mächtiger Faust;
Sie stürzt, sie zerfällt!
Ein Halbgott hat sie zerschlagen!
Wir tragen
Die Trümmern ins Nichts hinüber.

Um ihr jenseitiges Glück zu erobern, müssen sie das irdische opfern. Vor der Krone – das Kreuz, damit sie sagen können: durch Kreuz zur Krone. Das Leben auf Erden wird zum Faust-Pfand, um das Glück im Drüben zu erzocken. Das Spiel um die Seligkeit geht um Alles oder Nichts. Das Nichts auf Erden muss produziert werden, um das imaginäre Alles abzuräumen.

Der irdische Nihilismus wird zur conditio sine qua non, um die Fülle des Seins – im Reich der Fabel zu erfuggern. Börsenwetter und Glücksspieler tun nichts anderes als die Gläubigen, die ihr reales Glück im Religions-Poker einsetzen, um ein irreales Superglück zu gewinnen. Wer nicht das Zeug zum irdisch-überirdischen Zocken hat, auf den wartet – Mephisto.

„Man hat sein Lüstchen für den Tag und sein Lüstchen für die Nacht: aber man ehrt die Gesundheit. »Wir haben das Glück erfunden« – sagen die letzten Menschen und blinzeln.“ Also sprach der Pastorensohn.

Die Pastorentochter heute denkt keinen Deut anders. Doch sie wird sich hüten, ihre „Durch-Kreuz-zur-Krone-Ideologie“ den hedonistischen Wählermassen brühwarm aufs Auge zu drücken. Ist sie denn amtsmüde?

„Die Weltgeschichte ist nicht der Boden des Glücks. Die Perioden des Glücks sind leere Blätter in ihr.“ (Hegel)

Da haben wir aber Glück gehabt, dass der Gott der Vorsehung für eine unglückliche Geschichte gesorgt hat. Aus lauter Glück wären wir versehentlich unglücklich geworden.

Die Deutschen hatten eine durchaus glückliche Geschichte – wenn man Martin Walser folgen will. Bis 1933 herrschten einmütig Goethe und Schiller, nach 1945 Schiller, Goethe – und Martin Walser. Dazwischen der unerklärliche Einbruch des Bösen. Heute sind die Deutschen wieder das Volk der Wahren und Schönen. Am schönsten der prächtige Greis Walser mit seiner liebreizenden schwarz-rot-goldenen Feder.

Entgegen allen Gerüchten lebten auch die Griechen nicht wie die seligen Götter auf dem Olymp. Sie hatten schwere Anfechtungen:

„Wer weiß denn, ob das Leben nicht ein Sterben ist

Und, was wir Sterben nennen, drunten Leben heißt? (Euripides)

Sie konnten noch düsterer, geradezu hoffnungslos:

„Gar nicht geboren zu werden, wär‘ irdischen Menschen das beste;

Sind sie aber geboren, so früh als möglich zu sterben.“

Dieser metaphysische Pessimismus tritt erst im 6. Jahrhundert auf. Er hat „die orphische Umwertung von Leben und Tod zur Voraussetzung. Erst mit der orphischen Lehre von Leib und Seele, Leben und Sterben, dringt der Dualismus in die griechische Gedankenwelt von außen her ein.“

Der religiöse Virus der Diesseitsverachtung und Jenseitsverklärung war den Griechen nicht unbekannt. Doch sie bekämpften ihn, bis die Philosophen das Glück zum Ziel des irdischen Lebens ernannten. Die Vernunft schlug sich auf die Seite des glücklichen Lebens – das allerdings durch ein denkendes Leben erarbeitet werden musste. Das Leben auf Erden im Licht der Sonne wurde zum wirklichen Leben, alles andere – wie etwa der Aufenthalt im Hades – war ein unbewusstes Schattenreich.

Auch die alten Hebräer wollten hienieden glücklich werden, alt und lebenssatt sterben. Erst nach Machtübernahme ihres Volkes durch lebensfeindliche Priester und im Sog persischer Religionsvorstellungen begann das Sein sich zu spalten: ins leidende Diesseits und siegreiche Jenseits.

Das Christentum vollendete den Sieg des seligen Jenseits über das marode Diesseits.

Darf ein Christ auf Erden glücklich werden? Ein amerikanischer unbedingt, ein deutscher muss arm und unglücklich bleiben – damit er Drüben den Lohn seines Elends mit Zins und Zinseszins kassieren kann.

Zurückgebliebene deutsche Betonköpfe werden es nicht mehr begreifen, dass es verschiedene Christentümer gibt. Gibt es aber verschiedene: welches Christentum wäre dann das wahre? Alle können nicht wahr sein, wenn der Satz des Widerspruchs auch für Gott gilt.

Trotz kleiner Sottisen verbreitet der SPIEGEL die Mär von einem kapitalismuskritischen Papst:

„Eine „gerechte, solidarische Welt“ sei sein Leitmotiv, sagte er auf dem Weltjugendtag 2013 in Rio de Janeiro in einer Favela. Deshalb attackiert er die ungerechte weltweite Wirtschaftsordnung besonders oft.“ (SPIEGEL.de)

Die Frommen wollen sich in die weltlichen Dinge „einmischen“, als lebten sie in einer abgehobenen Welt, die mit der irdischen nicht gemein hat. Wie wär‘s umgekehrt; die Irdischen mischten sich in den Glauben ein, der es wagt, das Irdische zur irreparablen Kloake zu erklären?

Kämpft der oberste Katholik tatsächlich gegen den Mammon – er, Chef einer der reichsten Institutionen der Welt, gleichgültig, ob er mit abgetragenen PR-Schuhen daherkommt oder nicht?

Deutsche Armseligkeitsbefürworter, die sich für christlich halten, wollen nicht zur Kenntnis nehmen, dass für Amerikaner Glauben und Reichtum eine Einheit sind:

„Die christliche Rechte unter dem Einfluss calvinistischer Vorstellungen geht davon aus, dass die kapitalistische Wirtschaft Teil von Gottes Weltenplan ist. Freies Unternehmertum, Profitorientierung, Produktivitätssteigerung, Anhäufen von Reichtümern sind in der Bibel vorgedacht“, predigt ein landesweit bekannter TV-Evangelist in den USA. „Die Guten sind die Gläubigen, die Reichtum als Lohn ihres Glaubens erhoffen dürfen. Die Bösen hingegen sind Sozialisten, Kommunisten, Homosexuelle und Feministinnen. William Penn war ein guter Puritaner, der über die Reformation behauptete: „Ich bin sicher, es war die Freude am Besitz mit gutem Gewissen, die zu ihr geführt hat. Es gibt keine bessere Definition des Protestantentums als den Protest gegen das Diffamieren des Besitzes um des Gewissens willen.“ (R. B. Perry, Amerikanische Ideale)

Selbst wenn Franziskus Recht hätte in seiner Predigt wider den Mammon, wäre er nicht derjenige, der seinen Worten entsprechende Taten folgen ließe. Er spricht nur symbolisch: er setzt Zeichen. Schon sein Herr und Heiland dachte nicht im Traum daran, die sündige Welt zu reformieren. Am Ende der Tage wird er sie in Trümmer legen.

Auffällig die unterschiedliche Bewertung des linken Papstes und linker Parteien – wenn sie nur faseln und nichts tun – durch die Medien. Wenn sie die Linken schelten ob hohler Floskeln, werden die Edelschreiber niemals die salbungsvollen Worte benutzen, die Opposition habe eindrucksvoll Zeichen gesetzt. Schonungslos werden die Linken gedroschen:

„Die Linkspartei findet keine Antwort, wie sie auf den Aufstieg der AfD reagieren soll. Auch der Umgang mit den Sozialdemokraten ist strittig. Aus der Partei kommen deftige Sprüche, eine Strategie aber fehlt ihr.“ (SPIEGEL.de)

Unglück und Risiken müssen die westliche Heilsgeschichte prägen. Glückliche und zufriedene Menschen wären Fortschritts- und Wohlstandsfeinde. Lebe gefährlich, die Formel des italienischen Faschismus, ist das Motto des Neoliberalismus.

Der Gang der Menschheit ist das Wandern der Frommen gen Jerusalem, übersetzt in Geld- und Machterwerb. Es muss abenteuerlich und riskant zugehen in der Welt des bedingungslosen Wettbewerbs. Sonst bleibt das BIP der Völker auf der Strecke.

Abenteuer kommt von adventura, dem Ereignis, das da kommen soll. Was soll kommen? Die Wiederkunft des Herrn. Das risikoreiche Abenteuerleben der Moderne rollt dem Herrn den Teppich aus, damit seiner Ankunft nichts mehr im Wege steht.

„Der Segen des Wanderns liegt gerade darin, dass es gefährlich ist und Fertigkeiten verlangt, um Übel abzuwehren. Daher müssen wir erwarten, dass die Zukunft Gefahren enthüllen wird. Es ist die Aufgabe der Zukunft, gefährlich zu sein; und es gehört zu den Verdiensten der Wissenschaft, dass sie die Zukunft für ihre Aufgaben ausrüstet. Der Pessimismus der Mittelklassen hinsichtlich der Zukunft erklärt sich aus einer Verwechslung von Zivilisation mit Sicherheit. In der unmittelbaren Zukunft wird es weniger Sicherheit, weniger Stabilität geben als in der unmittelbaren Vergangenheit“, schreibt kein Geringerer als der Mathematiker und Philosoph Alfred N. Whitehead in seinem Buch „Wissenschaft und moderne Welt.“

Auch die Naturwissenschaften sind in die babylonische Gefangenschaft religiöser Abenteurer geraten.

 

Fortsetzung folgt.