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Europäische Idee LVIII

Hello, Freunde der europäischen Idee LVIII,

warum versagt die europäische Linke? Weil Amerika, einstiges Vorbild aller Demokraten, nie sozialistisch wurde.

Warum wurde Amerika nie sozialistisch? Weil die Neuankömmlinge, der alteuropäischen Gruft entkommen, die berauschende Freiheit des neuen Kontinents als Geschenk eines Gottes missverstanden, Demokratie mit Kanaan, dem biblischen Land ihrer Sehnsucht, verwechselten und kapitalistische Herrschaft über die Welt als Erfüllung religiöser Verheißungen priesen.

Irdische Freiheit, von Menschen zu erarbeiten und zu erkämpfen, landete in der Falle überirdischer Offenbarung. Politische Selbstbestimmung, Ruhmestat des Menschen, wurde zur Gnadengabe des Himmels. Humanität, Rühmen menschlicher Fähigkeiten des zoon politicon, wurde zur Agape, der Ruhmestat eines Erlösers.

Als nach Niederlage des deutschen Verbrecherregimes Amerika zum triumphalen Vorbild ganz Europas aufstieg, war es um jede Form linker Kapitalismuskritik geschehen. Eine Weile noch durften die Europäer ihre Sandkastenspiele der Vorzeit weiter treiben: Konservative gegen Liberale, Liberale gegen Sozialisten, Rechte gegen Linke, die Mitte gegen Extremisten, Verfassungspatrioten gegen Systemrevoluzzer. Je mehr die Deutschen in den Reigen der Völker zurückkehrten – unter Vorzeigen eines eindrucksvollen Wirtschaftswunders und einer verbissenen Vergangenheitsbewältigung –, je mehr näherten sie sich dem amerikanischen Modell.

(Das Wirtschaftswunder war nur möglich, weil die Siegermächte dem zerstörten Reich einen Schuldenerlass gewährten und die Verlierer mit dem Marshallplan unterstützten. Im Falle Griechenland handeln Merkel & Schäuble wie

der unbarmherzige Knecht im Gleichnis, dessen Schulden vom König erlassen wurden, er selbst aber ließ einen anderen Knecht ins Gefängnis werfen, der seine Schulden bei ihm nicht beglichen hatte. Da wurde der Herr mächtig böse und sprach zu ihm:

„Du Schalksknecht, alle diese Schuld habe ich dir erlassen, dieweil du mich batest; solltest du denn dich nicht auch erbarmen über deinen Mitknecht, wie ich mich über dich erbarmt habe? Und sein Herr ward sehr zornig und überantwortete ihn den Peinigern, bis daß er bezahlte alles, was er ihm schuldig war.“ Wären die Christdemokraten wirklich christlich, müssten sie zittern ob des unvermeidlich auf sie zukommenden Zorngerichtes ihres Gottes.)

Links war in Deutschland stets mit dem Namen Marx verbunden: entweder programmatisch oder unterschwellig-atmosphärisch. In Amerika aber spielte Marx keine Rolle. Amerikas Ich-Ideal bildete sich ein, keine Klassengesellschaft zu sein, keinen systematischen Kampf zwischen Oben und Unten, Reich und Arm zu führen. Es bildete sich ein, das gelobte Land zu sein, in dem alle Menschen gleiche Chancen hätten, vereint unter dem Sternenbanner heiliger Verfassungstexte:

„Immer wieder fühlt der einfache Mann sich mit dem ganzen erhabenen Nimbus des „Souveräns“ umgeben. „Wir, das freie Volk von Amerika“ … „We, the people of the State …, greatful to Allmighty God for our freedom …”, das dröhnt dem Amerikaner von Kindheit an in den Ohren. Der letzte und ärmste Prolet hat Teil an der geheiligten Souveränität, er ist das Volk und das Volk ist der Staat. Daraus erwächst in jedem einzelnen ein unbegrenztes Machtgefühl, mag es so imaginär sein, wie es wolle: in seinem Bewusstsein ist es eine zweifellose Realität. „Der Bürger glaubt, dass er noch König im Staate ist und dass er die Dinge in Ordnung bringen kann, wenn er nur will. Die Worte des Volksredners: „Wenn das amerikanische Volk aufstehen wird in seiner Macht und Majestät“ – sind ganz und gar nicht bloße Phrasen für seine Zuhörerschaft. Jeder einzelne glaubt an diese geheimnisvolle Macht, die sich „amerikanisches Volk“ nennt und der nichts zu widerstehen vermag; er hat ein mystisches Zutrauen zu der Wirksamkeit des Volkswillens, er spricht von ihm mit einer Art von religiöser Ekstase. Dieses Vertrauen steht oft in auffallendem Gegensatz zu dem wirklich Erreichten oder nur Erstrebten. Der Bürger rührt meist keinen Finger, um Missstände im öffentlichen Leben zu beseitigen, aber er lebt der festen Überzeugung, dass er bloß zu wollen braucht, um ihnen ein Ende zu bereiten.„Der amerikanische Arbeiter ist mit dem heutigen Stand der Dinge nicht unzufrieden; im Gegenteil: er fühlt sich wohl, ist vergnügt und guter Dinge – wie alle Amerikaner. (Kenner sprechen von einem „air of contentment and enthusiastical cheerfulness”, einer Aura der Zufriedenheit und enthusiastischen Heiterkeit.) Seine Weltauffassung ist rosigster Optimismus. Damit ist all jenen Gefühlen und Stimmungen, auf denen sich ein europäischer Arbeiter sein Klassenbewusstsein aufbaut, der Boden entzogen: dem Neid, der Verbitterung, dem Hass gegen die, die mehr haben, die im Überfluss leben. Wie bei allen Amerikanern äußert sich beim Arbeiter der unbegrenzte Optimismus in dem Glauben an die Mission, an die Größe seines Landes, ein Glaube, der oft genug religiöse Färbung annimmt: die Amerikaner sind das auserwählte Volk Gottes, das berühmte „Salz der Erde“.“ (Werner Sombart, Warum gibt es in den Vereinigten Staaten keinen Sozialismus?)

Sombart schrieb sein Buch im Jahre 1906. Ist seine Analyse heute noch aktuell?

Schauen wir zuerst, wie er den damaligen amerikanischen Arbeiter mit seinem deutschen Kollegen (der kein „Genosse“ ist) vergleicht. Nicht nur der Traum vom Tellerwäscher, der zum Millionär aufsteigen kann, unterschied den amerikanischen vom deutschen Proleten.

„Freiheit und Gleichheit sind für den Amerikaner nicht nur leere Begriffe, vage Träume wie für das Proletariat in Europa, sondern zum guten Teile Wirklichkeiten. Wer jemals amerikanische Arbeiter in ihrer Lebensführung außerhalb der Fabrik auch nur flüchtig beobachtet hat, hat auf den ersten Blick bemerkt, dass es sich um ein wesensanderes Geschlecht handelt als bei uns. Wir sahen schon, wie schick und oft elegant gekleidet die Arbeiter ihren Weg zur Arbeitsstätte zurücklegen. Auf der Straße sind sie working-gentlemen und working-ladies. Rein äußerlich fehlt das Stigma der Sonderklasse wie es fast alle europäischen Arbeiter an sich tragen. Auch im Auftreten, im Blick, in der Art der Unterhaltung sticht der amerikanische Arbeiter grell vom europäischen ab. Er trägt den Kopf hoch, geht elastischen Schritts und ist frei und fröhlich in seinem Ausdruck wie nur irgendein Bürgerlicher. Das Gedrückte, das Submisse fehlt ihm. Er verkehrt mit jedermann wirklich wie mit „Seinesgleichen“. Das Katzbuckeln und Kriechen vor den „höheren Klassen“, das in Europa so unangenehm berührt, ist ganz und gar unbekannt. Keinem Kellner wird es einfallen, sein Benehmen anders einzurichten, wenn er einen gewöhnlichen Arbeiter oder den Gouverneur von Pennsylvanien vor sich hat. Das bedeutet in jedem Fall eine Rückgratstärkung. Auch der Unternehmer tritt dem Arbeiter nicht als „Herr“ entgegen, der Gehorsam heischt. Und dennoch ist nicht zu leugnen, dass in keinem Lande der Welt der Arbeiter vom Kapitalismus so ausgebeutet wird wie in den USA, dass der Arbeiter in keinem Lande der Welt sich in den Sielen des Kapitalismus so blutig reibt, sich so rasch zu Tode rackert wie dort; aber darauf kommt es nicht an, wenn es gilt, die Gefühle des Proletariats zu erklären. Es ist eines der glänzendsten Kunststücke, dass der amerikanische Unternehmer (ebenso wie der Politiker) den Arbeiter trotz aller Ausbeutung bei guter Stimmung zu erhalten verstanden hat, also dass dieser gar nicht zu Bewusstsein seiner wirklichen Lage gekommen ist.“

Man muss das amerikanische Ich-Ideal kennen, um dessen realen Verfall bis zum heutigen Tage zu ermessen. Wenn Religion Opium des Volkes ist, Amerikaner wie Deutsche aber dieselbe Religion haben – warum trägt der Amerikaner seinen Kopf hoch und der Deutsche buckelt vor seinem Chef?

Das hängt nicht nur an alteuropäischen Feudalresten, sondern an der Religion selbst, die in zweierlei Varianten auftritt. (Auch Amerika ist längst refeudalisiert.) Die amerikanischen Frommen fühlen sich bereits im paradiesischen Endreich – oder dem Himmel auf Erden. Ihr Optimismus entspringt dem Hochgefühl, dass ihr Glaube von Gott tatsächlich belohnt worden sei. Nach jahrtausendelangen Enttäuschungen über das Ausbleiben der messianischen Wiederkehr ist das finale Ereignis eingetreten. Persönlich ist der Messias zwar noch nicht erschienen, aber er hat das versprochene Land, in dem Milch und Honig fließen, Wirklichkeit werden lassen. Amerikaner fühlen sich als Mitglieder einer ecclesia triumphans, die ihren Sieg über die Welt stolz und ungehemmt zeigen.

Den zurückgebliebenen Europäern bleibt nur die ecclesia patiens, die Kirche der Leidenden und Demütigen.

Man vergleiche die Gesichter von Obama und Merkel. Der Amerikaner strahlend, federnd, von ansteckendem Optimismus, die lutherische Pastorentochter in einfältig wirkender Demut, von der Uniform bis zu den listig inszenierten Gesichtszügen einer „niedrigen Magd“. (Seid listig wie die Schlangen und ohne Arg wie die Tauben.)

Beide Gesichter zusammen ergeben das Ganze der Erlöserreligion. Wäre Obama nicht mit „Yes, we can“, vorgeprescht, hätte es Merkel nie gewagt, mit „Wir schaffen das“ nachzuziehen. Merkel versucht, sich schüchtern und unauffällig dem american way of glory anzunähern.

Gleichwohl gilt noch immer: Amerikanisches und deutsches Christentum sind dieselbe Religion in zwei ungleichzeitigen Formationen. Die Deutschen haben das triumphale Finale der Heilsgeschichte schon mit dem Sohn der Vorsehung exekutiert, sind gescheitert und wieder zurückgefallen in das Stadium der paradoxen Präsentation: wer euer Herr sein will, der sei euer aller Knecht – oder Dienerin.

Auch in Amerika sind die allergrößten Blütenträume mittlerweilen verwelkt, dennoch glauben die meisten immer noch an das von Gott auserwählte mächtigste Land der Welt.

Doch die Endzeit hat sich unterdessen in jene zwei Polaritäten gespalten, die in der Heiligen Schrift vorausgesagt wurden. Bevor das Ende kommt, müssen schreckliche Dinge geschehen. Vor dem Paradies muss die Schlacht von Armaggedon stattfinden. (Offenbarung des Johannes, Kap. 16) Fast zwei Drittel aller Amerikaner waren noch vor kurzem felsenfest davon überzeugt, dass sie zu Lebzeiten die Wiederkunft ihres Herrn erleben würden. Das Ergebnis steht jetzt schon fest: sie, die Auserwählten, werden die Neue Schöpfung erleben, die verworfenen Massen müssen Apokalyptisches über sich ergehen lassen.

Hollywoods Endzeitspektakel sind Früchte einer gigantischen Literatur über die Letzten Dinge. Hal Lindsey ist einer der erfolgreichsten Verfasser chiliastischer Choreographien. Er war nicht nur Berater von Ronald Reagan, sondern auch der israelischen Regierung. Hier Auszüge aus seinem eschatologischen Fahrplan in seinem Buch „Alter Planet wohin?“:

„1. Die apokalyptische Endzeit hat schon begonnen.

2. Der Nahe und der Mittlere Osten, insbesondere Israel und Jerusalem, bilden die Hauptbühne.

6. Der Anti-Christ reißt die Macht zuerst in Europa und dann in der UNO an sich. Im Anfang tritt er als Friedensfürst auf, dann als Kriegsherr, dem es gelingt, die ganze Welt zu versklaven.

9. Unter den „Zurückgelassenen“ beginnen die apokalyptischen Kriege von bisher nicht gekannter Brutalität.

10. In höchster Not erscheint Christus als Militanter Messias und fordert den Anti-Christen heraus. Himmlische und höllische Mächte, Gut und Böse stehen sich in einem Kampf auf Leben und Tod gegenüber. Satan selber greift in die Kriegshandlungen ein.

11. Es kommt zum größten Krieg aller Zeiten, in dem neben ABC-Waffen auch Naturkatastrophen zum Einsatz gelangen. Zahlreiche Großstädte werden dem Erdboden gleichgemacht. Milliarden von Menschen sterben eines gewaltsamen Todes, darunter auch alle Juden, die nicht zum Christentum konvertieren wollen.

12. Die militärischen Auseinandersetzungen zwischen Christus und dem Anti-Christ gipfeln in der Schlacht von Armageddon und enden in einem „nuklearen Holocaust“.

13. Christus siegt, hält blutiges Gericht über die Anhänger des Anti-Christen und errichtet ein weltweites Friedensreich, das Tausend Jahre andauert.

14. Danach versucht Satan noch einmal, die Macht an sich zu reißen. Christus kann die letzte Rebellion des Widersachers niederschlagen.

15. Das Leben auf der Erde ist zu Ende, unser Planet endgültig vernichtet. Die Guten kommen in den Himmel, die Bösen auf ewig in die Hölle.“

(Zitiert nach Victor und Victoria Trimondi, Krieg der Religionen)

Das Buch der beiden Trimondis ist das exzellenteste Werk über das Thema, wie Erlöserreligionen die gegenwärtige Weltpolitik bestimmen. In Deutschland wird über die religiösen Wurzeln des Kampfs gegen das „Reich des Bösen“ geschwiegen. Religionen, besonders die eigenen, müssen unbefleckt bleiben vom Hass der Menschen.

Übeltaten im Namen der Religionen sind nichts als „Instrumentalisierungen“ des Heiligen, das nur aus „Friede, Freude, Eierkuchen“ bestehen darf. Besonders die Deutschen greifen nach einem dünnen Firnis Aufklärung, um sich alles vom Leibe zu halten, was ihrem „humanistischen und christlichen“ Glauben (Prantl) ins Kontor spuckt.

Was auch immer Religionen sind, sie sind vor allem selbsterfüllende Prophezeiungen. Was sie glauben, stellen sie her – anders ertrügen sie nicht die „kognitive Dissonanz“ zwischen grandiosen Verheißungen und „Verzug“ der Erfüllungen. Vor 2000 Jahren hätte der Messias bereits wiederkommen müssen – doch er kommt und kommt nicht. Warum wohl ist „Prokrastination“ (Aufschub) zum Modewort der gegenwärtigen Apathie geworden?

Hätte der biblische Schreckenskalender recht, wüssten wir, warum sich die militärischen Konflikte im Nahen Osten rund um das heilige Land konzentrieren. Das Goldene Jerusalem ist in allen drei Erlöserreligionen Dreh- und Angelpunkt des finalen Geschehens. Hier geht es ums Ganze. Hier müssen satanische und himmlische Horden mit letzter Energie aufeinander einschlagen.

Auch die bedingungslose Kumpanei zwischen Jerusalem und Washington wäre entlarvt. Christen und Juden schlossen ein strategisches Bündnis – bis zur Parusie des Herrn. Sollten die Juden sich nicht bald zum Evangelium bekehren, werden sie, wie alle Gottlosen, in einem planetarischen Holocaust vernichtet. Hinter dem strategischen Bündnis amerikanischer und jüdischer Fundamentalisten lauert ein apokalyptischer Antisemitismus – der von niemandem thematisiert wird. Schon gar nicht von den üblichen Antisemitismus-Jägern, die die kleinen Fische jagen und die großen laufen lassen. Das Thema Religion wird im Kampf gegen Antisemitismus fast vollständig tabuisiert. Die Erlöser schonen sich, damit sie selbst geschont werden: ich schütze deinen Messias, wenn du meinen in Schutz nimmst.

Weil Amerika sich als monolithisches Land Kanaan empfand, konnte es keinen internen Widerspruch zu seiner oeconomia triumphalis entwickeln. Wenn alle sich auserwählt fühlen, wer soll sich empören?

Lang, lang ist‘s her mit dem ungebrochenen amerikanischen Optimismus. Das amerikanische Ich-Ideal ist seit Aufkommen des Neoliberalismus – einer Verschlimmerung des Kapitalismus ins Grenzenlose – nur noch in Fragmenten vorhanden. Die Fundamentalisten fühlen sich immer noch als privilegierte Minderheit, die Mehrheiten werden von Endzeitkatastrophen vom Erdboden vertilgt. Der horrende Reichtum der EINPROZENT hat mit dem ohnmächtigen Elend der 99% nichts mehr zu tun.

Howard Zinn schrieb seine „Geschichte des amerikanischen Volkes“ für die 99% der Abgehängten und Elenden: „Ich nehme mir die Freiheit, diese 99% als das Volk zusammenzufassen. Ich habe eine Geschichte geschrieben, die versucht, ihr verborgenes, entstelltes gemeinsames Interesse darzustellen. Das Gemeinsame der 99% zu betonen und ihre Interessen-Feindschaft mit dem einen Prozent herauszustellen, ist genau das, was die Regierungen der USA – von den Gründervätern bis heute – mit allen Kräften zu verhindern gesucht haben.“

Howard Zinn ist nicht der einzige amerikanische Widerständler gegen einen gigantesquen Wirtschaftsmoloch, welcher dabei ist, Mensch und Natur zu eliminieren. In Amerika gibt es wesentlich mehr und wesentlich ernsthaftere und kritischere antikapitalistische Werke als in allen europäischen Ländern zusammengenommen. Ich nenne nur Marilyn French, Lewis Mumford, Barbara Walker.

Auch die linke Hochnäsigkeit der Deutschen, Marx sei das Nonplusultra der Kapitalismuskritik, müsste endgültig vom Tisch. Marx blieb ein Bewunderer des Kapitalismus, dessen Früchte er allerdings nur seinen Auserwählten, den Proleten, zukommen lassen wollte. Der Kapitalismus hingegen bevorzugt die rechtgläubigen Blutsauger als wahre Auserwählte. Die Akteure werden ausgetauscht, die Selektionsmechanismen der Heilsgeschichte bleiben. So oder so, am Ende regieren die Privilegierten der Geschichte.

Sombarts Frage: warum hatten die USA keinen Sozialismus, müsste heute korrigiert werden: warum bevorzugen die Deutschen einen die Autonomie des Menschen leugnenden Heilsgeschichtler als Hauptkritiker des Kapitalismus? Weil sie sich nicht lösen konnten von der Opiumnadel einer allmächtigen Geschichte.  

Bei allen Unterschieden zwischen Alteuropa und der Neuen Welt: der christliche Westen braucht die Gewissheit, im Namen eines unbezwinglichen Herrn der Geschichte zu agieren. Kapitalismus und Sozialismus entmündigen in gleicher Weise den Menschen zur Marionette höherer Mächte.

Warum ist die europäische Linke bedeutungslos geworden? Weil mit Marx kein Blumentopf mehr zu gewinnen ist. Und weil sie jenem System, das sie überwinden wollten, viel näher standen, als sie wahrhaben durften. Wie kann man seinen Proleten als Weisheit letzter Schluss den Aufstieg zu jenen Eliten empfehlen, die justament das System mit Klauen und Zähnen verteidigen? „Steigt auf“, „macht Karriere“, das sind Aufrufe zur Fahnenflucht: werdet Ausbeuter – und ihr werdet die Ausbeutung überwinden. Das ist dialektische Logik vom Feinsten.

Als die Deutschen die Amerikaner in allen Dingen nachäfften, konnten sie deren monolithische Ökonomie nicht ignorieren. In Amerika gab es noch nie Parteien, die sich dem Inhalte nach wesentlich unterschieden hätten. Schon die Bezeichnungen „Republikaner“ und „Demokraten“ zeugen nicht von kämpferischen Meinungsunterschieden.

Die einschläfernde Atmosphäre einer GaGroKo (einer Ganz Großen Koalition) oder eines Einheitsbreis aller Parteien ist das Plagiat der amerikanischen Harmonie-Politik, in der keine unterschiedlichen Inhalte mehr, sondern nur noch schillernde Persönlichkeiten zur Wahl stehen. Die Wahlen in den USA sind fast vollständig ent-sachlicht und auf charismatische Personen abgestellt.

Charisma ist eine Gnadengabe. Charismatische Politiker – wie Obama – sind Prediger im Gewande weltlicher Politik. Auch hier zog Deutschland nach: Merkel entwickelte den Stil einer charismatischen Demutsträgerin bis zur Perfektion.

Die verwirrende Erfahrung der Ununterscheidbarkeit der politischen Geister machte bereits Sombart:

„“Demokratisch“ fand ich ebenso vortrefflich wie „republikanisch“; beim besten Willen entdeckte ich nicht, welche der Parteien die „radikalere“ sei. Ich fand: „Demokraten“ könnten ebenso gut „links“ von „Republikanern“ stehen wie diese „links“ von jenen. Die Bezeichnungen, die die Parteien tragen, drücken in der Tat nicht nur keinen Gegensatz, sondern auch nicht einmal einen Unterschied aus. Sie sind schlechterdings unsinnig. Von irgendwelcher grundsätzlicher Verschiedenheit des Standpunkts gegenüber den wichtigsten Fragen der Politik findet sich bei den beiden amerikanischen Parteien keine Spur.“

Die deutschen Parteien sind zur ununterscheidbaren Masse zusammengebacken. Jede könnte mit jeder problemlos eine Koalition eingehen. Nur persönliche Animositäten verhindern nationale Swingerorgien. Nicht ihre Kompromissfähigkeiten befähigen sie zu einer pangermanischen Liaison, sondern ihre verschütt gegangenen Sach-Alternativen. Die deutschen Parteien haben sich bewusstseinslos amerikanisiert, nun tappen sie im Dunkeln, warum sie in kollektivem Trübsinn versinken.

Deutschland ist wieder zur verspäteten und isolierten Nation zurückgefallen. Dem Stil nach gibt sich Merkel demütig, schlicht und geerdet, doch ihre Politik zielt auf kalte Vorherrschaft der Deutschen in Europa. Während die Kanzlerin sich vom laizistischen Frankreich entfernt, sucht sie Unterschlupf beim rechtgläubigen Amerika.

Europa zerfällt, weil die griechischen Grundlagen der Demokratie vom deutsch-amerikanischen Brausen des Heiligen Geistes in alle Winde verweht werden.

Freiheit, Gleichheit und Verbundenheit sind keine Almosen des Himmels, sondern hart erkämpfte Fähigkeiten des Menschen in der Polis.

 

Fortsetzung folgt.