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Europäische Idee LV

Hello, Freunde der europäischen Idee LV,

Europa zwischen Gott und – Leichenrede. Der Leichenrede des Perikles, niedergeschrieben von Thukydides in seinem Werk „Der peleponnesische Krieg“, in welchem er den Geist der europäischen Urdemokratie in weltprägenden Sätzen artikulierte.

Gott steht für Beerdigung der Volksherrschaft, Leichenrede für das Lob auf die athenische Polis als unüberholtes Muster der modernen Demokratie. (Thukydides)

Die moderne Demokratie hat einen Geburtsfehler. Einsilbig bekennt sie sich zum griechischen Urmodell – das sie vollmundig als Vorbild verwirft. Das Bekenntnis ist ein Scheinbekenntnis. Im nicht enden wollenden Streit zwischen Alten und Modernen („querelle des anciens et des modernes“) dementiert die Moderne die Überlegenheit der Alten und beansprucht, die hellenischen Lehrmeister in allen Stücken übertroffen zu haben.

Die griechische Demokratie ist etwas, was überwunden werden muss – nein, längst überwunden worden ist. Die religiös kontaminierte Verachtung des modernen Griechenlands ist die Frucht einer jahrtausendealten Diffamierung alles Heidnischen und Vernünftigen durch den Hass der Erlöser auf irdische Autonomie. Sie ruhen und rasten nicht, bis sie die Geschichte Europas und der Welt zu einem Triumphzug des Heiligen Geistes verfälscht haben.

Die deutsche Klassik gilt als graecoman. Doch außer der Bewunderung des Schönen und Mythischen war nichts gewesen. Schnell verständigten sich die polit-allergischen Dichter und Denker auf die Formel, dass sie mit Hilfe des christlichen Geistes die

Griechen überwunden hätten.

Bei den glühendsten deutschen Bewunderern der Alten findet man kein gutes Wort über die Herrschaft des Volkes, die nichts anderes sein konnte als die Tyrannei des Pöbels. Für die profunden Kenner Griechenlands war Demokratie nichts als Demokratismus oder die Herrschaft raffgieriger Massen über Reiche und Vornehme, die sich in aussichtsloser Minderheitenposition befanden. In der Ochlokratie hatten sich viele Schwache erfolgreich zusammengerottet, um die Macht der wenigen Starken zu besiegen.

In den Reihen der Gebildeten gibt es so gut wie keine Freunde des Demos. Das Volk sei zu charakterlos und ungebildet, um sich selbst zu regieren. Von Edlen, Monarchen oder Weisen müsse es mit strenger Hand geführt werden.

„Die Stimmen soll man wägen und nicht zählen“, hören wir von Schiller, dem einstigen Freund der Französischen Revolution.

Der junge Hegel war ein Bewunderer der Griechen, der die Weltverachtung Christi im Namen Sokrates‘ scharf verurteilte. Doch seine anti-christlichen Jugendschriften blieben fast 100 Jahre unveröffentlicht. Nach seiner „Frankfurter Krise“ stellte der Schwabe alles auf den Kopf. Hatte das Christentum die ganze Welt überwunden, dann mit Bestimmtheit auch die ungläubigen Hellenen.

„Dem Griechen war der freie Geist, der aber seine Unendlichkeit noch nicht erfasst hatte, gegeben. In den Griechen ist erst das Bewusstsein der Freiheit aufgegangen, und darum sind sie frei gewesen, aber sie, wie auch die Römer, wussten nur, dass einige frei sind, nicht der Mensch als solcher. Dies wussten selbst Platon und Aristoteles nicht. Darum haben die Griechen nicht nur Sklaven gehabt und ist ihr Leben und der Bestand ihrer schönen Freiheit daran gebunden gewesen, sondern auch ihre Freiheit war selbst teils nur eine zufällige, vergängliche und beschränkte Blume, teils zugleich eine harte Knechtschaft des Menschlichen, des Humanen. Erst die germanischen Nationen sind im Christentum zum Bewusstsein gekommen, dass der Mensch als Mensch frei ist, die Freiheit des Geistes seine eigenste Natur ausmacht. Dies Bewusstsein ist zuerst in der Religion, in der innersten Region des Geistes aufgegangen, aber dieses Prinzip auch in das weltliche Wesen einzubilden, das war eine weitere Aufgabe, welche zu lösen und auszuführen eine schwere lange Arbeit der Bildung erfordert.“ (Hegel, Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie)

Die von den Exzessen der Französischen Revolution enttäuschten Jungdeutschen verabschiedeten sich von politischer Freiheit und Demokratie und zogen sich in die scheinbare Freiheit ihrer Innerlichkeit zurück, die sie Kunst und Bildung nannten. Sie wiederholten die Wendung Luthers und Augustins vom heidnischen Äußeren ins christliche Innere – das so innerlich nicht war, dass es nicht zur beherrschenden Religion der Welt aufgestiegen wäre.

Stabile, selbstbewusste, autarke Demokratien ruhen in sich. An der Eroberung der Welt sind sie nicht interessiert. Im Gegenteil, sie hoffen, dass die Welt von friedlichen Gesellschaften geprägt wird.

Nicht so christliche Regimes, die ihrem Gott die ganze Welt auf dem Frühstückstablett servieren wollen: macht euch die Erde untertan. Für Griechen gab es keine lineare Heilgeschichte mit finalem Endzweck. Das christliche Abendland hingegen durfte nicht rasten und ruhen, bis allen Völkern das „Evangelium gepredigt“ worden war. Auf Deutsch: bis das Banner Christi den ganzen Planeten beherrschte. Dieser Endzweck war mit pazifistischen Methoden nicht zu erreichen:

„Der Endzweck ist das, worauf in der Weltgeschichte hingearbeitet worden, dem alle Opfer auf dem weiten Altar der Erde und im Verlauf der langen Zeit gebracht worden. Dieser Endzweck ist das, was Gott mit der Welt will, Gott aber ist das Vollkommenste und kann darum nichts als sich selbst, seinen eigenen Willen wollen.“

Der Endzweck der Weltgeschichte ist das Regiment Gottes auf Erden. Berlin und die preußische Macht ist der weltgeschichtliche Ort, an dem der Weltgeist – oder der Geist Gottes – seine dialektischen Abenteuer beendet und zu sich gekommen ist. „Die ungeheuersten Opfer“ waren gerechtfertigt, um dieses Endziel zu erreichen. Die Geschichte ist kein Schauplatz des Glücks. Wir müssen sie „als Schlachtbank betrachten, auf welcher das Glück der Völker, die Weisheit der Staaten und die Tugend der Individuen zum Opfer gebracht wurden.“

Das ist die schärfste Abwendung der Deutschen von der Menschenrechtsmoral der westlichen Aufklärung. Im Namen der gebildeten und ästhetischen Innerlichkeit ist alles erlaubt, was den Endzweck der Geschichte, den finalen Triumph in Deutschland, herbeiführt. Es soll Hegelianer geben, die nach solchen Worten noch immer bezweifeln, dass Hegel zu den philosophischen Vordenkern des 3. Reichs zu zählen ist.

Marx hat den Geist in Materie verwandelt, alles andere aber übernommen. Was dem Endzweck der materiellen Geschichte, dem Reich der Freiheit, widerspricht, muss geschlachtet werden. Dem Prinzip: keine Moral in der Politik, huldigen noch heute 99% aller postrevolutionären 68-er Edelschreiber. Einst waren sie für sozialistische Materie, heute sind sie für den kapitalistischen Geist – der nichts anderes ist als mammonistische Materie.

Seit Hegel und Marx kennen die Deutschen nur weltpolitische Interessen, die in Berlin triumphale Gestalt annehmen. Die Überlegenheit der rassistischen Herrenmenschen ist der Überlegenheit der unschlagbaren ökonomischen Lokomotive gewichen. Wer in diesem Jubel-Klima von Moral spricht, wird abgekanzelt. Wer eine weltgeschichtliche Schlächtermission hat, kann von kümmerlichen Moralpredigern nicht erfasst werden. Hegel schmäht solche „hässlichen Moralisten“ als Kammerdiener:

„Die Heroen der Geschichte, von solchen psychologischen Kammerdienern in der Geschichtsschreibung bedient, kommen schlecht weg; sie werden von diesen ihren Kammerdienern nivelliert auf gleiche Linie oder vielmehr ein paar Stufen unter die Moralität solcher feinen Menschenkenner gestellt. Der Thersites des Homer (ein moralisierender Kritiker der kriegsgeilen Griechen), der die Könige tadelt, ist eine stehende Figur aller Zeiten. Schläge, d.h. Prügel mit einem soliden Stabe, bekommt er zwar nicht zu allen Zeiten, wie in den homerischen, aber sein Neid, seine Eigensinnigkeit ist der Pfahl, den er im Fleische trägt, und der unsterbliche Wurm, der ihn nagt, ist die Qual, dass seine vortrefflichen Absichten und Tadeleien in der Welt doch ganz erfolglos bleiben. Man kann auch eine Schadenfreude am Schicksal des Thersitismus haben. Ein welthistorisches Individuum hat nicht die Nüchternheit, viel Rücksichten zu nehmen, sondern es gehört ganz rücksichtslos dem einen Zwecke an. Solch große Gestalt muss manche unschuldige Blume zertreten, manches zertrümmern auf ihrem Wege. Das ist die List der Vernunft zu nennen. Das Partikuläre ist meistens zu gering gegen das Allgemeine, die Individuen werden aufgeopfert und preisgegeben.“

Die Schadenfreude der Kammerdiener-Jäger oder Prügler des Thersites bestimmt noch heute die überwiegende Atmosphäre der medialen Feuilletonisten. Die Schadenfreude und Häme gegen die „Rechthaber“ und „Besserwisser mit dem moralischen Zeigefinger“ ist die Grundsubstanz, von der die meisten Edelschreiber ihre Heroenseelen im Dienst der listigen Vernunft ernähren.

Eine listige Vernunft ist keine Vernunft, sondern der Geist Gottes, dem alle Mittel, ob moralische oder unmoralische, zur Verfügung stehen, um seinen historischen Endzweck zu erreichen. Die machiavellistische Staatsraison wird bei Hegel und Marx zur Raison Gottes oder der Geschichte, die alles niedermäht, was dem Neuen Jerusalem (in Berlin) oder dem Reich der Freiheit im Wege steht. „Ubi Lenin, ibi Jerusalem“, so der marxistische Hoffnungsgläubige Ernst Bloch: wo Lenin, da ist Jerusalem.)

Beispiel: die heutige Kritik an der Illner-Talkshow in BILD:

Das ist eine muntere Runde von Selbstverliebten, Volkstribunen, Besserwissern, die jetzt alle darauf warten, den anderen eins auszuwischen. Söder, der Volkstribun. Lafo legt den Populismus-Schalter um. Da macht sich Elend gut.“ (BILD.de)

Das ist die Schadenfreude, durch Nicht-recht-haben und Nichtwissen den Rechthabern und Besserwissern eins auszuwischen. Die gedanken-kastrierte Häme ist nicht zu übertreffen: wer keine Argumente hat, gewinnt. Der öffentliche Diskurs wird zur Arena der Dumpf- und Dummbacken, die nichts zu melden haben, aber dies in medialer Wucht. Könnte sich die Häme materialisieren, würde sie alle niedermähen, die es wagten, anderer Meinung als BILD zu sein.

Das Schmähgedicht in Prosa ist ein indirekter Aufruf zur Waffengewalt. Wer nichts zu sagen hat, muss sich des Schlachtermessers bedienen. Verglichen mit BILD ist die AfD ein diskutierender Honoratiorenverein. Nun wird klar, warum die Platzhalter der Mitte sich der AfD als links- oder rechtsextremes Watschenobjekt bedienen. Um zu vertuschen, dass die Extremen in der Mitte sitzen und Merkel das Händchen halten. BILD, dieser Satz steht fest, ist stets das Demokratische, das sie – lässt.

Auch die Franzosen schafften die Demokratie nicht in einem Anlauf. Doch ihr striktes Festhalten am Laizismus-Kurs und an der Vernunftmoral ihrer Aufklärer machte es ihnen nach und nach möglich, eine demokratische Republik zu bauen. Indem die Deutschen diesen Kurs verließen, bevor sie ihn eingeschlagen hatten, gerieten sie auf nationalistische und verbrecherische Abwege. Demokratie und Heilsgeschichte sind unverträglich. Heilsgeschichte übergibt das Regiment einem allmächtigen Gott, Demokratie aber will ihr Schicksal selbst gestalten.

Die Verachtung des Volkes durch die Eliten gilt noch heute, wenn letztere den Vielzuvielen ins Stammbuch schreiben, sie könnten das Schwierige und Überkomplexe einer modernen Gesellschaft nicht verstehen. Ob die Eliten allerdings verstehen, was sie treiben, wenn sie das Überleben der Gattung in rasantem Tempo gefährden: solche Fragen werden nicht gestellt.

Haben Deutschland und Frankreich sich in Fragen der Demokratie mittlerweilen angenähert? Sie driften immer weiter auseinander. Der Kotau zu Canossa wurde schon vorbereitet, als Giscard d’Estaing in der Präambel zur Europäischen Verfassung ein Zitat aus der Gefallenenrede des Perikles unterbringen wollte. Die EU sollte ihre demokratische Herkunft aus der athenischen Polis nicht verdrängen. Kein Gott, kein Erlöser ist Ursprung der Demokratie, sondern die Selbstbestimmung des autonomen Menschen:

„Ein weiteres Beispiel ist der – gescheiterte – Versuch Giscard d’Estaings, die Präambel der Europäischen Verfassung mit einem Verweis auf die Gefallenenrede beginnen zu lassen. Das dafür bemühte bekannte Zitat aus Thukydides 2, 37 lautet im ursprünglichen Verfassungsentwurf verkürzt: „Die Verfassung, die wir haben […] heißt Demokratie, weil der Staat nicht auf wenige Bürger, sondern auf die Mehrheit ausgerichtet ist.“

In den Anfangszeiten der modernen Demokratie war man sich des antiken Erbes wohl bewusst. Viele amerikanische Präsidenten entnahmen der Rede „prägnante Passagen und münzten sie auf die USA um. So finden sich einige Punkte der Rede zum Beispiel in der Gettysburg Address wieder, die Abraham Lincoln 1863 bei der Einweihung des Friedhofs auf dem gleichnamigen Schlachtfeld hielt.“

Warum musste Giscard d’Estaing scheitern? Weil viele europäische Staaten – darunter die BRD – den Verweis auf die Griechen ablehnten, stattdessen den Gott in der Verfassung verankern wollten.

„Umstritten war ein solcher Gottesbezug in der letzten Zeit bei Erarbeitung der Europäischen Verfassung. Hier kollidierten im Wesentlichen die französische Staatsauffassung eines säkularen, laizistischen Staates (mit vollständiger Trennung zwischen Staat und Kirche) mit der vor allem katholisch geprägten Auffassung einzelner EU-Mitgliedstaaten wie Polen, Irland oder Italien bzw. der deutschen Christdemokratie. Neben der römisch-katholischen Kirche hatte auch der Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) die Forderung nach einem Gottesbezug in der EU-Verfassung bekräftigt. Die EKD trete unverändert dafür ein, dass in den Vertrag „ein ausdrücklicher Bezug auf die Verantwortung vor Gott und auf die Bedeutung der jüdisch-christlichen Tradition“ aufgenommen wird. Einer der Vorschläge (orientiert an der polnischen Verfassung) hatte folgenden Wortlaut: „Die Werte der Europäischen Union umfassen die Wertvorstellungen derjenigen, die an Gott als die Quelle der Wahrheit, Gerechtigkeit, des Guten und des Schönen glauben, als auch derjenigen, die diesen Glauben nicht teilen, sondern diese universellen Werte aus anderen Quellen ableiten.“ (Wikipedia)

Schon im Vorwort der deutschen Verfassung war Gott ein Lügenmärchen.

„Im Bewußtsein seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen […] hat sich das Deutsche Volk […] dieses Grundgesetz gegeben.“

Das deutsche Volk hat keine Verantwortung vor Gott. Der Glaube an denselben müsste denn zur gesetzmäßigen Pflicht für jeden Einzelnen gemacht werden. Das wäre eine christ-demokratische Theokratie. Wer sich vor seinem Gott verantworten will, soll das in seinem privaten Gebetszirkel tun. Das mündige Volk hat sich nur vor dem – mündigen Volk zu verantworten. Und sonst vor niemandem. Eine Anmaßung, auf indirektem Weg allen Ungläubigen den Status minderwertiger Demokraten unterzujubeln. Zu Böckenförde ist es dann nicht mehr weit, der alle demokratischen Tugenden für wertlos erklärte, wenn sie nicht im christlichen Gott verankert sind.

Ein Gott der Vernunft – wie bei englischen Aufklärern – wäre noch vertretbar gewesen. Ein männlicher Erlösergott aber ist das pure Gegenteil alles Demokratischen. In der Bibel sind „Wahrheit, Gerechtigkeit, das Gute und Schöne“ keine glaubensunabhängigen Wertbegriffe, die von allen Vernunftwesen geteilt werden könnten. Wer glaubt, besitzt bereits alle Tugenden, wer nicht glaubt, ist ein Teufel der Unwahrheit und Ungerechtigkeit. Absurd, das Schöne aus der Heiligen Schrift abzuleiten, wenn der Knecht Gottes eine Gestalt ohne Schöne ist:

„Denn er schoß auf vor ihm wie ein Reis und wie eine Wurzel aus dürrem Erdreich. Er hatte keine Gestalt noch Schöne; wir sahen ihn, aber da war keine Gestalt, die uns gefallen hätte. Er war der Allerverachtetste und Unwerteste, voller Schmerzen und Krankheit. Er war so verachtet, daß man das Angesicht vor ihm verbarg; darum haben wir ihn für nichts geachtet“.

Das Schöne war das Ideal der ästhetischen Griechen. Ein Gott, der alles Irdische als sündig betrachtet, muss alle Werte stolzer und wohlgeratener Menschen auf den Kopf stellen. Der Gekreuzigte war ein Ausbund verzerrter Schmerzen und unschöner Pein.

O Haupt voll Blut und Wunden,
voll Schmerz und voller Hohn,
o Haupt, zum Spott gebunden
mit einer Dornenkron,
o Haupt, sonst schön gezieret
mit höchster Ehr und Zier,
jetzt aber hoch schimpfieret:
gegrüßet seist du mir!

Die Farbe deiner Wangen,
der roten Lippen Pracht
ist hin und ganz vergangen;

des blassen Todes Macht
hat alles hingenommen,
hat alles hingerafft,
und daher bist du kommen
von deines Leibes Kraft.   (Paul Gerhardt)

Als die Aufklärung durch die Wiederkehr der Religion an Kraft verlor, wurde die Erinnerung an die griechische Demokratie als Verherrlichung des Heidnischen verfemt und verächtlich gemacht. Die Macht der Puritaner obsiegte über den griechenfreundlichen Geist der ersten Verfassungsväter. Jede Erinnerung an das verrottete Europa wurde aus dem kollektiven Gedächtnis der Neu-Kanaanäer gestrichen. Was nicht auf amerikanischem Boden im Geiste der Großen Erweckung geboren war, hatte keine Existenzberechtigung.

Nur Frankreich blieb bis heute die standhafteste laizistische Demokratie des Westens. Deutschland schlug sich nach Kriegsende sofort auf die amerikanische Seite, log die Kirchen in eine Widerstandsbewegung um, damit die Neukonvertiten ihren geliebten Gott in die importierte Demokratie einschleusen konnten. Das deutsch-französische Führungsduo der EU ist in Grundfragen der Demokratie tief gespalten.

In Deutschland gibt es fast niemanden, der die nationale und europäische Regeneration der abschüssigen Demokratie von der Wiederbelebung der griechischen Polis erwartete. Alle Althistoriker, Demokratie-Experten, Feuilletonisten, die ganz große Koalition aus Christen aller Parteien (fast alle wurden inzwischen sentimental- jesuanisch gestimmt) erwarten die Genesung der maladen Republik von der Rechristianisierung der Massen.

Politik wird zunehmend ersetzt durch Aufwallungen gnädig geschenkter Augenblicks-Emotionen. Bleiben die Aufwallungen aus, darf in alter Sünder-Verworfenheit weiter gehudelt und gesudelt werden. Solange wir im Fleische sind, können wir das böse Reich der Welt nicht in ein Paradies verwandeln. Merkel kennt nicht die geringsten Skrupel, aus dem Modus der Barmherzigkeit in den der alten Brutalität zurückzuschalten. Sündige tapfer, Mutter Angela, wenn du nur glaubst.

In einem Standardwerk über Demokratie können wir lesen:

„Die modernen Menschen wollen eine andere Demokratie; ihr Demokratieideal ist nicht genau dasselbe wie das der Griechen. Es wäre seltsam, wenn es anders wäre. In mehr als 2000 Jahren hat die westliche Zivilisation ihre Wertziele bereichert, verändert und ausgeformt. Sie hat das Christentum, die Reformation erlebt. Wie könnte man überhaupt denken, wenn wir heute für die Demokratie eintreten, verfolgten wir dieselben Ziele und Ideale wie die Griechen? Wie könnte man übersehen, dass die Demokratie für uns Werte enthält, die es für die Griechen einfach nicht gab? Es überrascht daher, wie wenig die Tatsache beachtet wird, dass der heutige Demokratiebegriff eine sehr geringe Ähnlichkeit mit dem im 5. Jahrhundert v. Chr. entwickelten Begriff hat.“ (Giovanni Sartori, Demokratietheorie)

Sartori bezieht sich auf E. Laboulaye, einen französischen Politiker der Dritten Republik:

„Es ist klar, dass sich alle Bedingungen der Freiheit gewandelt haben; schon das Wort „Freiheit“ hat heute nicht dieselbe Bedeutung wie in der Antike … Es ist immer nützlich, die Antike zu studieren, aber es ist kindisch und gefährlich, sie zu imitieren.“

Der Westen will sein griechisches Erbe abstoßen. Der christliche Glaube soll eine bessere Demokratie ermöglichen als hochmütige Hellenen je zustande brachten. Das wäre zu überprüfen.

 

Fortsetzung folgt.