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Europäische Idee LIV

Hello, Freunde der europäischen Idee LIV,

was ist das Gemeinsame von Merkel, Trump, Franziskus, Le Pen, Orban, Putin, Erdogan, Trudeau, Macron und anderen schillernden Vögeln? Der Hang zum sachunabhängigen, den männlichen Glanz, die weibliche Demut in den Mittelpunkt stellenden Selbstdarsteller. Der Schaulauf der Super-Egos dient der Vorbereitung eines um sich greifenden planetarischen Führerkults. Die Inhalte mögen „links oder rechts“, sympathisch oder abstoßend sein: die Gespreiztheiten der Person sind wichtiger als die Sache, für die sie sich einsetzt.

Je unausweichlicher die Geschehnisse, je schicksalsergebener die Stimmung, desto stärker der Glaube an gottgesandte Einzelpersönlichkeiten. Ohne Verfall der Demokratien, ohne Niedergang humaner Gesinnungen, hätte es Mussolini, Hitler, Stalin und Mao nie gegeben.

Der unvermeidlich scheinende Untergang des Abendlandes, der automatische Fortgang ins Reich der Freiheit, die Unabwendbarkeit des technischen Fortschritts degradieren die Völker zu Marionetten der Geschichte, die von Lichtgestalten dominiert werden. Führer müssen den Anschein erwecken, im Auftrag unwiderstehlicher Mächte zu agieren.

Der gemeinschaftsfeindliche Individualismus des Westens gipfelt in der Gestalt des Visionärs, der die Zukunft schaut und den Kairos der Gegenwart auf den Punkt bringt: als die Zeit erfüllet ward. Heute ist die Zeit erfüllt, um den Menschen überflüssig zu machen und den homo novus, die allwissende Maschine, zu gebären, die die Herrschaft über die Welt übernehmen wird. Aus dem Mekka der Moderne, Silicon Valley, hören wir Sirenengesänge der Zukunft, die kein Hinterwäldler oder fortschrittsfeindlicher Maschinenstürmer aufhalten wird.

Das Prinzip der historischen Unvermeidlichkeit ist der Tod der Demokratie. Wozu

debattieren, streiten und entscheiden, wenn höheren Orts die Würfel bereits gefallen sind?

Was unterscheidet den Führer von der Persönlichkeit?

„Höchstes Glück der Erdenkinder sei nur die Persönlichkeit.“ (Goethe)

Für Goethe war Persönlichkeit nicht die Summe der Talente und antrainierter Fähigkeiten:

„Nicht die Talente, nicht das Geschick zu diesem oder jenem machen eigentlich den Mann der Tat, die Persönlichkeit ist’s, von der in solchen Fällen alles abhängt. Der Charakter ruht auf der Persönlichkeit, nicht auf den Talenten. Talente können sich zum Charakter gesellen, er gesellt sich nicht zu ihnen: denn ihm ist alles entbehrlich außer er selbst.“

Wenn Goethe recht hat, weiß die Moderne nichts mehr über die Persönlichkeit. Heute muss man extraordinäre Leistungen bringen, die man messen kann, um sich für Positionen der Macht zu qualifizieren, pardon, zu quantifizieren. Nehmen wir Emmanuel Macron, den neuen Superstar der Franzosen, wie der SPIEGEL ihn in medialer Chuzpe verklärt, um ihn im rechten Augenblick wieder abzuschießen:

„Es gibt nicht viel, was er nicht kann. Emmanuel Macron, das muss man ihm lassen, kann sehr vieles sehr gut. Klavierspielen zum Beispiel. Pianist ist er nicht geworden, aber Wunderkind ist er geblieben. Er verkörpert eine Ausnahmeerscheinung in der französischen Politik, in der sich – quasi seit Jahrzehnten – die gleichen Gesichter, die gleichen Namen, den gleichen Lebensläufen abwechseln. Macron kann sehr charmant sein, sympathisch ist er sowieso.“

Doch welche Politik vertritt das Wunderkind? Solche Belanglosigkeiten erfährt man im vorletzten Satz. Er fordert die Jugend auf, „Lust zu haben, Milliardär zu werden“. (SPIEGEL.de)

Ein wahrhaft genialer Gedanke und origineller Stuss. Kein Wunder, dass die europäischen Linken den Bach runter gehen, wenn sie die Neoliberalen neoliberal übertrumpfen wollen. Gabriel, deutscher Wonneproppen, debattiert mit einer Putzfrau, um seine neu erwachte Distanz zur Mutter sichtbar und hörbar zu machen.

Es gibt noch andere Wundermänner – außer Obama, der einst mit einem knackigen Spruch die Welt erlösen wollte: Yes, we can. Moduliert von der deutschen Madonna zum Satz: wir schaffen das.

Erstaunlich, dass die üblichen Populismusverächter das Übel nicht an der Wurzel erkannten: am pluralis majestatis (Plural der Majestät), identisch mit dem pluralis modestiae (der Bescheidenheit) oder dem pluralis populi (des Volkes): wir schaffen das. Plötzlich ist die zerklüftete Klassengesellschaft ein Herz und eine Seele und Muttern der Mittelpunkt vom Janzen – und wer ausschert, gehört nicht zum Volk.

Okay, jeder …ismus klingt einseitig und übertrieben. Dennoch ist populus von der Herrschaft desselben nicht zu trennen. Wer sich nicht als Mitglied des Volkes versteht, sein Tun und Lassen nicht zum Wohle des Volkes einsetzt – sein eigenes inbegriffen –, der ist Antipopulist, ein Verächter des Volkes und ein Feind der Demokratie. Jan-Werner Müller erklärt den Populisten zum Moralisten:

„Der Populist agiert fundamental apolitisch – er sieht sich nicht als harten Verhandler im demokratischen Prozess, sondern als moralischen Akteur mit Alleinvertretungsanspruch in einer Art neuer Ständegesellschaft. Seine Politik reduziert sich folgerichtig auf Identitätspolitik: Aus der Einheit der geltenden Kultur oder Lebenswelt folgt eine eindeutige Politik, die weder Streit noch Kompromissbereitschaft erfordert. Wer sie nicht teilt, gehört einfach nicht dazu.“ (SPIEGEL.de)

Da muss Herr Müller wirre Vorstellungen von Moral haben. Demokratie ist der Versuch, die Welt moralisch besser zu machen. Um solidarische Moral muss in der Polis gestritten werden. Wessen Vorschlag mehrheitlich von der Volksversammlung angenommen wird, dessen Moral wird zum – vorläufigen – Gesetz. Vorläufig, weil das Volk seinen Lernprozess durch Versuch und Irrtum realisiert.

Müller verwechselt streitbare Moral mit unfehlbarer Offenbarung gewisser Religionen – ein penetranter Fehler der Deutschen, die Aufklärung und Vernunft stets mit Predigt und Erlösung verwechseln. Es ist die Religion, die ausschließt, nicht der Marktplatz einer Polis, der jeden jederzeit zum sokratischen Disput lädt.

Kann man für die Interessen des Volkes eintreten, wenn jedes Individuum unvergleichliche Interessen besitzt? Gäbe es so viele unvergleichliche und unvereinbare Interessen, wie es Individuen gibt (wie Neoliberale behaupten), müsste jede Demokratie scheitern. Eine politische Gemeinschaft wäre eine Horde tasmanischer Beutelteufel – Verzeihung, ihr Teufelchen, ihr seid besser als euer Ruf –, die sich angeblich aus Futterneid am liebsten zerfetzen würden. Auch Hobbes‘sche Wölfe sind äußerst gemeinschaftsdienlich und könnten den Menschen zeigen, was solidarische Rudel sind. Die grimmigsten Wild- und Raubtiere liegen friedlich in der Sonne, wenn sie den Bauch gestrichen voll haben.

Frage für Fortgeschrittene: warum dürfen moderne Menschen nie satt werden, warum müssen sie hungern und dürsten nach endlosen Herausforderungen und Risiken? Richtig, weil sie sonst keine Legitimation hätten, ihre Konkurrenten beim Überlebenskampf um „knappe Güter“ aufzufressen. Das ist die unersättliche Ideologie des Paulus, der den Hals nie vollkriegen kann – es sei, er habe sich die Welt untertan gemacht.

„Schon seid ihr satt geworden“.

Es gibt plumpe und gewitzte Formen, das Volk auf seine Seite zu kriegen. Plump sind Versprechungen, die tun, als ob sie ihre Zusagen mühelos einhalten könnten. Parteien können nur beteuern, sich Mühe zu geben, um diverse Ziele ihrer „Versprechungen“ zu verwirklichen. Jedes Versprechen müssten sie mit der „Bedingung des Jakobus“ verknüpfen: wenn wir morgen noch leben, die entsprechende Macht gewinnen oder diverse Koalitionspartner von unseren Zielen überzeugen können.

(In amerikanischen Filmen kann man das Großkotzversprechen hören: ich versprech‘s dir. Als ob Menschen jedes Versprechen gegen alle Widerstände der Realität durchpeitschen könnten. Deutsche Filme haben das Omnipotenz-Gebaren inzwischen übernommen.)

Die gewitzte Form des Gewinnens der Volksseele hat Kennedy in seiner berühmten Amtsantrittsrede demonstriert. Er hat nichts versprochen, er hat gefordert:

Frage nicht, was dein Land für dich tun kann – frage, was du für dein Land tun kannst.“

Hier werden Bürger als mündige Mitarbeiter des Landes angesprochen – und dennoch geht der Satz in die Irre. Interessen des Staates, die nicht Interessen des Einzelnen sind, kann es nicht geben. Der demokratische Staat ist das Volk.

Bei Interessen denkt heute jeder – in marxistischer Verdrehung von Sein und Bewusstsein – an materielle Bedürfnisse. Doch selbst wenn alle materiellen Bedürfnisse gestillt wären, würde sich der Mensch nach immaterieller Akzeptanz und Geborgenheit verzehren.

Ludwig von Mises irrte gewaltig, als er den Mammon für fähig hielt, die Befriedigung basaler Bedürfnisse auf dem Schnäppchenmarkt kaufen zu können. Verhielte es sich so, wären die EINPROZENT-Milliardäre die glücklichsten und gesättigtsten Lebewesen dieser Erde. Das Gegenteil ist der Fall. Sie sind die Unersättlichsten und Gefräßigsten. Ihr grenzenloser Hunger entspringt der Unfähigkeit, sich von Menschen akzeptieren zu lassen, die sie als ungleich und minderwertig betrachten – also von allen.

Heute grenzt es an Tollkühnheit, zu diesem Thema einen Weisen zu befragen:

„Gewöhnlich ehrt man die Adligen, Herrschenden und Reichen, denn sie ragen hervor. In Wahrheit aber ist nur der Tugendhafte der Ehre würdig. Denn ohne Tugend ist es nicht leicht, Reichtum und Glück gelassen zu ertragen.“ (Nikomachische Ethik)

Ein anderer Wundermann kommt aus dem riesigen Land des apokalyptischen Feuers und heißt Justin Trudeau:

„Der Messias ist zurück im Körper des kanadischen Premierministers Justin Trudeau, einem tanzenden, strippenden, kifferfreundlichen, aus Liebe boxenden Disneyprinzen. Diesen Tausendsassa wollen sogar Feministinnen heiraten“. (SPIEGEL.de)

Die gekonnte Ironie Margarete Stokowskis bestätigt die messianische Aufgeblasenheit der Heros – die maskuline Kanzlerin inbegriffen.

Es gibt keinen Rückschluss von quantitativer Kompetenz auf gesunden Menschenverstand oder politische Vernunft. Noch nicht lange her, dass deutsche Muttersöhnchen die physikalische Ausbildung der Kanzlerin zur Garantieerklärung für deren Politfähigkeit nutzten.

Hallo, Naturwissenschaftler sollen eo ipso humanistische Politiker sein? Da müssen einige die Biographien diverser Atomwissenschaftler nicht zur Kenntnis genommen haben. Seit Wissen zur Macht wurde, haben Wissen-schaftler sich an allen Machenschaften der Mächtigen beteiligt. Ja, die einstmals freie Naturwissenschaft wurde zur Geheimdomäne der Staaten, die ihre Rechengenies als wichtigste Wettbewerbsvorteile ihrer Weltherrschaft betrachten.

Das gilt grundsätzlich für alle in Schulen und Universitäten vermittelte „Bildung“. Bildung ist keine Voraussetzung zum „Aufstieg“. Und wenn doch, wäre sie keine Bildung. Auch hier haben die Linken vollständig versagt, weil sie Bewusstsein als unnützen Tand verscherbelt haben.

Sollen Aufgestiegene identisch sein mit Gebildeten? Hier krümmt sich das Universum vor Lachen. Merkel & Co kennen nur „Stellschrauben“ der Macht. Von Bildung haben sie keinen Dunst. Echte Bildung hat mit der Stellung in der Welt so wenig zu tun wie mit der Methode, nach oben zu kriechen.

Vor einiger Zeit wurde man der Verschwörungstheorie geziehen, wenn man die Moral der Eliten – die sich selbst als amoralisch beschrieben, ökonomische Gesetze seien naturwissenschaftliche Erkenntnisse und keine Moral! – in Frage zu stellen wagte. Inzwischen kann man bereits im ZDF kritische Beiträge über den ungeheuren Betrug der Riesenbanken, Auto-Betrüger, Steuerhinterzieher und Produktschwindler verfolgen. Von der generellen Lohndrückerei und skrupellosen Schädigung des Staates unter dem Etikett der „Deregulierung“ gar nicht zu reden.

Wer einen hohen IQ hat, glänzend Klavier spielen oder digitalisieren kann, muss kein zoon politicon sein. Wie viele deutsche Gelehrte emigrierten aus NS-Deutschland und verweigerten sich den Diensten der Völkerverbrecher?

Auch die Kunst besitzt keinen Persilschein des allgemeinen Wahren und Guten. Vergeblich, die Musik zum ideologiefreien Verständigungsmittel zwischen Kulturen und Nationen zu ernennen. In Auschwitz wollten die Schergen auf ein Gefangenen-Orchester nicht verzichten. Der Führer kannte die Wagneropern auswendig. Viele Generäle des Teufels waren hochgebildete Literaturkenner und Musikliebhaber.

In den Schulen kann man alles lernen, nur keine demokratische Haltung. Wer mit Zensuren erpresst, eingeschüchtert und bestochen wird, hat freies Lernen als demokratische Haltung nicht von weitem wahrgenommen.

Ist Persönlichkeit der Ausweg aus der Fachidiotie? Nicht, wenn sie deutscher Herkunft ist. „Charakter“ hilft nicht weiter, wenn er die wertfreie Beschreibung einer durchsetzungsfähigen Persönlichkeit bedeuten soll. Solange Persönlichkeit und Charakter nichts mit humaner Verantwortlichkeit zu tun haben, bleiben sie Verherrlichungen moralfreier Ellbogen-Brutalitäten.

Just auf diese wert- und moralfreie Persönlichkeitsbildung legen die Deutschen gesteigerten Wert. Seit der Sturm & Drang-Zeit ist Persönlichkeit eine Erbin des deutschen Geniekults. Das Genie wiederum ist Nachfolger des vom heiligen Geist besessenen Gläubigen, der aller menschlichen Vernunft Ade gesagt hat, um dem Diktat seines Gottes blindlings zu folgen.

Der aufgeklärte Mensch folgte der Autonomie der freien Vernunft. Die Stürmer & Dränger hingegen empfanden die künstlerische Genialität als Fähigkeit, „frei von jeder Bevormundung durch verfälschende Vernunft der Seele zu enttaumeln.“

Die kühle Vernunft war zuständig für die Welt der Ordnung, das Genie für die unberechenbare Kunst der schöpferischen Originalität. Vernunft ahmte nach, Genie kreierte das Unvergleichliche aus dem Nichts. Lernen nach Vernunft ist für deutsche – und postmoderne – Brauseköpfe unoriginelles Plagiieren; Lernen in genialer Pose hingegen Verwerfen aller rationalen Autoritäten und Schöpfen aus dem unergründlichen Brunnen der Eigentlichkeit. Wenn Gott ein originaler Schöpfer ex nihilo ist, sind seine Geschöpfe gottgleiche Kreateure aus Nichts. Sie ahmen Gott nach, indem sie Ihn nicht nachahmen dürfen.

Für Kant war Genie die „angeborene Gemütsanlage, durch welche die Natur der Kunst die Regel gibt.“

Hegel hielt nichts von Natur und alles vom Geist. „Alles Geistige ist besser als jedes Naturerzeugnis. Ohnehin stellt kein Naturwesen göttliche Ideale dar, wie es die Kunst vermag.“

Die Persönlichkeit, das Genie, löste sich von der Einheit mit der Natur, machte sich frei schwebend selbständig – um ihrerseits der Natur willkürliche Vorschriften zu machen. Hegel nahm das biblische Wort zum Maßstab seiner Geistüberlegenheit: macht euch die Erde untertan. Die geniale Persönlichkeit hatte sich endgültig von der Natur als Kriterium der Wahrheit losgerissen. Keinem Maßstab der natürlichen Verträglichkeit verpflichtet, konnte der Geist sich gebärden wie ein omnipotenter Gott.

Die schnell wachsende Zahl politischer Selbstdarsteller, die mit allem prunken, nur nicht mit Vernunft und Augenmaß, gebärden sich als Genies, die sich keinem Maßstab der Natur und der menschlichen Vernunft unterwerfen. Alles, was sie an rasender Entfesselung hindert, ist für sie totalitärer Zwang.

Soll man aus ökologischen Gründen verzichten lernen, um die Umwelt zu schonen? Nichts für Kapitalisten, die jede Begrenzung ihrer grenzenlosen Raffgier als Alltags-Faschismus verwerfen. Selbst der grüne Kretschmann hält nichts mehr von Verzichten. Es könnte den Umsatz seiner schwäbischen Industrie mindern.

Doch wenn wir – aus Gründen unserer gottgleichen Naturunabhängigkeit – nicht verzichten, verzichten wir sehr wohl: auf eine intakte Natur und eine friedliche Menschheit. So der kluge Kommentar von Bernhard Pötter in der TAZ:

„Also verzichten wir, weil wir ja nicht verzichten wollen, schnell und ohne viel Nachdenken: auf den öffentlichen Raum unserer Städte, den wir den Autos überlassen; auf eine Wiese voller Kräuter, Kröten und Krabbeltiere, wenn hier der neue Primark gebaut wird; auf die Alpengletscher, auf die Ruhe eines Tals ohne Autobahnanschluss, auf Stadtluft ohne Erstickstoff; auf Felder, in denen Vögel und Feldhasen leben statt nur die Krähen der Agrarwüsten. Und am schnellsten verzichten wir darauf, was wir im Poesiealbum „das Erbe der Menschheit“ nennen: den tropischen Regenwald, das Breitmaulnashorn, Grönland in Weiß. Auf Tuvalu und Kiribati. Und auf deren Bewohner.“

Die neuen Politgenies, die sich keinem Maßstab der Vernunft unterstellen und grenzenlos unberechenbar sein wollen, nähern sich immer mehr der Figur des Führers, der sich als Sohn der Vorsehung nicht Menschen, sondern der genialen Stimme seiner göttlichen Persönlichkeit verantwortlich fühlte.

Heute hü, morgen hott, heute Barmherzigkeit, morgen Schießen auf Flüchtlinge, heute militante Bedrohung der Feinde, morgen Säuseln vom Frieden, heute TTIP, morgen Abriegeln durch Zölle, heute Steuern für Reiche, morgen Abbau aller Sozialabgaben, heute Schwulenverstehen, morgen Schwulensteinigung, heute Humanität, morgen apokalyptische Drohungen mit dem Untergang der Welt. Franziskus, Merkel, Trump und alle anderen: sie folgen den willkürlichen Diktaten ihres unberechenbaren Gottes.

Wer berechenbar ist, ist überprüfbar. Göttliche Selbstdarsteller wollen sich von niemandem in die Karten schauen lassen. Sie kontrollieren alles, wollen aber von niemandem kontrolliert werden.

Georg Misch hat ein riesiges Werk über die Geschichte der Autobiografie geschrieben. Sie beginnt nicht im rationalen Griechenland, sondern bei Augustin. Erst, als das antike Gespräch mit der Ratio zu Ende ging, konnte die christliche Seele das vernunftfreie Gespräch mit ihrem Gott beginnen. „Gott und die Seele begehre ich zu erkennen. – Sonst nichts? Sonst nichts!“

Nicht mehr die Welt, die Schönheit der Natur, die Beziehungen zum Mitmenschen waren Gegenstände des Nachdenkens, sondern allein der natur- und menschenfeindliche Gott. Jesus hatte das freudige Leben der Menschen inmitten der Natur verworfen. Aus dem sokratischen Dialog wird das augustinische Soliloquium, das Selbstgespräch der frommen Selbstdarsteller. Der Gläubige redet nicht mehr mit seinem Nachbarn, er redet nur noch mit seinem Gott. Da er gottgleich ist, redet er mit sich selbst.

„Aber gleichwie es zur Zeit Noah’s war, also wird auch sein die Zukunft des Menschensohnes. Denn gleichwie sie waren in den Tagen vor der Sintflut, sie aßen, sie tranken, sie freiten und ließen sich freien, bis an den Tag, da Noah zu der Arche einging und achteten’s nicht, bis die Sintflut kam und nahm sie alle dahin, also wird auch sein die Zukunft des Menschensohnes. Dann werden zwei auf dem Felde sein; einer wird angenommen, und der andere wird verlassen werden. Zwei werden mahlen auf der Mühle; eine wird angenommen, und die andere wird verlassen werden.“

Augustin wiederholt die Feindschaft seines Erlösers gegen das alltägliche Tun und Treiben der Menschen: „Da gehen die Menschen hin, zu bewundern die Höhen der Berge und die Fluten des Meeres, den breiten Strom der Flüsse und die Weite des Ozeans und die Bahnen der Gestirne und sich selbst verlassen sie und wundern sich nicht.“

Wer sich mit der natürlichen condition humaine beschäftigt, verrät seine göttliche Natur. Gott ist Vernichter von Mensch und Kosmos. Was erhält der Fromme, der kein Gespräch mehr mit dem natürlichen Menschen führt? Den irrationalen Reichtum und die Rätselhaftigkeit seines transzendenten Seelenlebens: „die mächtige Tiefe, die große, grundlose, unfassbare Macht des Bewusstseins, etwas unsagbar Erschauerndes, eine tiefe, grenzenlose Mannigfaltigkeit, ein mannigfaches, unermessliches Leben.“

Die irrationale Seele des naturfeindlichen, nur mit Gott redenden Menschen war das Urbild der abendländischen Autobiografie. Das Ego, das sich nur mit sich und Gott beschäftigt, soll das Urbild des europäischen Ichs sein. So Georg Misch in bester Tradition der gottsuchenden deutschen Seele, die sich aller rationalen Berechenbarkeit entzieht.

Warum hatten die Griechen keine Ambitionen, sich endlos mit sich und ihrer Innerlichkeit zu beschäftigen? Weil ihnen die Eitelkeit der erwählten Kinder Gottes fehlte. Sie begnügten sich mit der mangelnden Originalität, schlicht und einfach – menschlich zu sein. Sie unterstellten sich der prosaischen Überprüfbarkeit der allen Menschen gemeinsamen, durchsichtigen Vernunft.

„Der Großgesinnte redet auch nicht von den Leuten, denn er spricht weder über sich noch über andere. Es liegt ihm weder daran, gelobt zu werden, noch dass andere getadelt werden. Er ist auch nicht leicht bereit, zu loben. Darum redet er auch nichts Schlechtes, nicht einmal von Feinden, außer im Scherz. Er will lieber Schönes besitzen, das keinen Gewinn bringt, als Gewinnbringendes. Denn so ist er eher autark.“ (Aristoteles)

Die Moderne mit ihrer nicht enden wollenden literarischen und psychologischen Vertiefung in das unübersichtliche, überkomplexe Innenleben – ohne vernünftige Folgen für die Gestaltung der Welt – wäre für Aristoteles ein Inferno der Eitelkeit gewesen.

Die bizarrsten politischen Selbstdarsteller beginnen, die Herrschaft über den Globus anzutreten.

 

Fortsetzung folgt.