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Donnerstag, 30 Mai 2013 – Europa und die Romantik

Hello, Freunde Europas,

das neue Europa wird kommen, „eine neue goldne Zeit mit dunklen, unendlichen Augen, eine prophetische, wundertätige und wundenheilende, tröstende und ewiges Leben entzündende Zeit.“

Aus dem Konflikt und der gesteigerten Berührung der europäischen Staaten wird ein Staat erwachsen; „an seiner Spitze eine geistliche Macht, da eine solche allein die streitenden weltlichen Kräfte, die Anhänglichkeit am Alten einerseits und die gleichberechtigte Neuerungssucht andererseits zu versöhnen und im Gleichgewichte zu erhalten imstande ist. Und das wird das neue Europa, die neue Christenheit, die neue sichtbare Kirche sein, die alle nach dem Überirdischen dürstenden Seelen in ihren Schoß aufnehmen wird. Denn der Geist der Christenheit ist ein alles umarmender, ein freier Geist.“

Wenn die Europäer das Christentum wählen, werden sie „Mitglieder einer einzigen, ewigen, unaussprechlich glücklichen Gemeinde.“ Im Mittelalter, da war Europa ein christliches Land, wo „eine Christenheit diesen menschlich gestalteten Weltteil bewohnte. Ein Oberhaupt lenkte und vereinigte die großen politischen Kräfte. Unter ihm die Zunft der Geistlichkeit – eine zum Himmel weisende, friedensstiftende Gesellschaft, einen schönen, wunderreichen und menschenfreundlichen Glauben verkündend. Der heilige Sinn war in diesen mittelalterlichen, echt katholischen Zeiten allgemein, und mit Recht widersetzte sich das weise Oberhaupt der Kirche „der frechen Ausbildung menschlicher Anlagen auf Kosten des heiligen Sinns und unzeitigen, gefährlichen Entdeckungen im Gebiete des Wissens.“

Alles war schön und herrlich und dennoch kam der Verfall, der in die „Resurrektion“ (dem Aufstand) des Protestantismus mündete. Der verderbliche Einfluss

der fortschreitenden Kultur unter dem Druck des Geschäfts- und Bedürfnislebens hatte zum Verfall geführt.

„Frevelnd zerriss der Protestantismus die Einheit der Kirche. Irreligiöserweise wurde die Religion in Staatsgrenzen eingeschlossen. An die Stelle der lebendigen Religion trat die Buchstabenreligion der Bibel und nun erschwerte der dürftige Inhalt, der rohe abstrakte Entwurf der Religion in diesen Büchern dem Heiligen Geiste die freie Belebung, Eindringung und Offenbarung unendlich.“

Mehr und mehr erhielt im Protestantismus das Weltliche die Oberhand, man näherte sich der Periode des „praktischen Unglaubens. Mit der Reformation war es um die eine Christenheit geschehen, und um den unerledigten Universalstuhl rangen die einzelnen mächtigeren weltlichen Staaten. In der Philosophie des französischen Materialismus und in der deutschen Aufklärung konzentrierte sich der Hass gegen das Heilige, gegen allen Enthusiasmus und alle Poesie.

(Zitate aus Novalis: „Die Christenheit oder Europa, ein Fragment“)

In der europäischen Romantik erwachte eine große Sehsucht nach einem wiedervereinigten Europa. Das Ergebnis war die endgültige Zerrüttung Europas, die erst nach zwei Weltkriegen zur Versöhnung kam und nun – aus wirtschaftlichen Gründen? – ins Trudeln gerät. Wie war das möglich? Warum ging der Schuss nach hinten los? Kann uns das politische Versagen der Romantiker erklären, was heute in Europa falsch läuft?

Solche Fragen können nur beantwortet werden, wenn wir uns auf die Methode einigen, dass Vergangenheit die Gegenwart bestimmt, dass die Analyse der Vergangenheit die Gegenwart erklären kann.

Diese Voraussetzungen werden heute weggewischt. Wir schauen nicht mehr zurück, wir schauen nach vorne. Jeden Augenblick beginnen wir jungfräulich von vorne. Determinierungen der Vergangenheit gibt es nicht – obgleich der Gehirnforschung eifrig zugestimmt wird, dass der Mensch ein determiniertes Geschöpf ist.

(Von der Geschichte geprägt? Von der Biologie? Die Gehirntopographen haben Marx rehabilitiert: das Sein bestimmt das Bewusstsein, nur: woraus besteht das Sein? Einig sind sich die Gehirnmarxisten mit Hayek und den Neoliberalen, dass es ein Bewusstsein nicht gibt, welches das Sein erkennen und seines freien Weges führen könnte.)

Wenn wir uns jeden Augenblick neu erfinden, können wir Geschichte zum belanglosen Bildungsgut erklären: mit Wissen kann man brillieren, anfangen kann man nichts damit. Freud war durchaus der Meinung, dass Vergangenheit psychoanalytisch durchschaut werden kann. Allein seine Erkenntnisse über Vatermord der Brüderhorde, von Totem und Tabu, sind von jener zeitlosen Qualität, dass der Mensch seit dem Sündenfall hoffnungslos pervertiert sei. Anfangen kann man damit nichts.

Nach Freuds kulturunabhängigen Analysen müssten alle Völker das gleiche Schicksal erleiden, denn sie hätten alle in gleicher Weise den Urvater – Gott? – gemördert. Jeder Gott ist anders. Nicht alle Menschen hatten ein Lieben & Fürchten-Verhältnis zu ihren Göttern wie die Monotheisten. Nicht alle hatten einen allmächtigen Schöpfer zu martern und zu kreuzigen.

Auch in der Analyse der Einzelpersönlichkeit legt Freud allzuviel Gewicht auf die primären Eindrücke, die so gewaltig sein sollen, dass späteres Lernen die „Erbsünde“ nicht mehr korrigieren kann. In diesem Sinn wird der Ödipus-Komplex – sofern er richtig ist – zu einem Pendant der inkorrigiblen Erbsünde. Kein Wunder, dass der Aufklärer-Impuls des jungen Freud bald zu wünschen übrig ließ. Spätestens nach dem Ersten Weltkrieg wurde es duster im Hause Freud.

Ein reger und scharfer Geist wie Wilhelm Reich, der die Erkenntnisse der innerlichen Seele mit dem Marxismus zu verbinden suchte, wurde von Freud – der ihn schon zum Prinzen seiner Schule auserwählt hatte – ohne Debatte aus seiner Sekte ausgeschlossen. Dasselbe geschah mit dem ungestümen Otto Gross und jüngst mit Jeffrey Masson, der Freud nachgewiesen hatte, dass er anfänglich die These vertrat, Kinder würden durch Eltern und Erwachsene verführt, später aber, aus Furcht vor der Reaktion christlicher Abendländer, die These umdrehte und den Kindern alle Schuld zuschob. Die kleinen Wüstlinge hätten von Natur aus sexuelles Verlangen nach ihren Erzeugern und müssten sich lebenslang mit dieser übergroßen Schuld herumschlagen.

Die lang verdrängte Pädophilendebatte der Gegenwart hängt mit Freuds Entdeckung zusammen, dass das Kind ein sexuelles Wesen sei. Die 68er betrachteten diese Entdeckung als große Befreiung des Kindes – ohne die Folgen zu bedenken, wenn mächtige Erwachsene höchstselbst und handgreiflich die Kinder zu sexueller Freiheit erziehen wollten. Der ambivalente Einfluss Freuds und Wilhelm Reichs auf die heutige Pädophilendebatte wird von allen Kombattanten vollständig verleugnet.

Überhaupt herrscht in psychoanalytischen Schulen, die alles Dubiose und Verbotene tabulos ansprechen wollen, ein Sektierergeist, der sich mit dem der Zeugen Jehovas vergleich lässt. Den Kandidaten einer psychoanalytischen Ausbildung wird eine Literaturliste in die Hand gedrückt, auf der die genehmen Pflicht-Autoren abgedruckt sind. Wird jemand bei einer unerlaubten Lektüre ertappt, kriegt er Schwierigkeiten. Die psychoanalytische Lehrausbildung ist im Kern eine psycho-faschistische Verstrickung. Der Lehranalytiker ist nicht nur der intimste Kenner und Vertraute des Nachwuchsanalytikers, sondern auch dessen allmächtiger Schicksalsentscheider. Sollte er der Ansicht sein, der lernende Proband sei in den Lehrjahren auf der Couch nicht genug nachgereift, hat er kaum noch Chancen, diesen Beruf zu ergreifen.

Die grelle Mixtur aus Seelenerforschung „ohne Tabus“ – und rigider Denkzensur hat in höherem Maß zur gegenwärtigen Debattenunlust beigetragen, als die Öffentlichkeit wahrhaben will. Noch nicht lange her, dass es zum guten Ton jedes Intellektuellen gehörte, seine wöchentlichen Sitzungen zu absolvieren. Dank des mächtigen Einflusses der Psychoanalyse, nicht nur in Nordamerika, leben wir zurzeit in einem kollektiven Clair-Obscur, einem verwirrenden Hell-Dunkel. Einerseits kann Broder von der tabulosesten Epoche der Geschichte sprechen, andererseits werden viele Themenbereiche von den Medien rückhaltlos zensiert oder als unwichtig ignoriert.

Über deutsch-jüdische Verstrickungen wissen die Deutschen nichts, über Franzosen und Engländer so gut wie nichts, über den Rest Europas gar nichts. Über Sex wird allmählich geflüstert. Die Gehälter der Manager und TV-Gewaltigen bleiben ein gut gehütetes Geheimnis. Wie reich und mächtig die Kirchen sind, darüber gibt’s keine Sondersendungen bei den Unöffentlich-Rechtlosen. Nicht mal die Verträge der Kommunen mit PPP-Privatisierern sind einsehbar, weil sie als Betriebsgeheimnisse deklariert werden.

Sozialpolizisten hingegen dürfen das gesamte Leben der Hartz4-Sklaven durchleuchten, um sie hopps zu nehmen. Und der CIA weiß über Dich – ja Dich da hinten – besser Bescheid als du denkst. Der Neoliberalismus vollends eliminiert die ganze Vergangenheit und fantasiert von einer neuen Zukunft im Auftrag ihres Herrn, der alle Vergangenheit am Kreuz überwunden hat: Siehe, ich mache alles neu.

Wir werden in der Europafrage nicht weiter kommen, wenn wir die beschriebenen Wackersteine und Denkverbote nicht gnadenlos wegräumen. Räumt die Alpen beiseite: freie Sicht auf Südtirol.

Die europäischen Visionen der Romantiker mussten scheitern – sie waren im Himmel angesiedelt. Es war just wie mit Luthers zwiefältigem Gebrauch des Gesetzes. Gottes Gebote sind so granatenmäßig hoch, dass sie nur dem Zweck dienen, den gebotswilligen Menschen zu zerschmettern. Novalis’ Europa war der vorweggenommene Himmel auf Erden. Die Nationalsozialisten beriefen sich auf die Endzeitvisionen der Romantiker, die sie glaubten, als Erwählte der Vorsehung realisieren zu können.

Wenn Erlösungsreligionen, die den politischen Gehalt ihrer Bekenntnisse lange verleugneten, sie eines Tages aber doch entdecken und eins zu eins in die Wirklichkeit übertragen – dann wird’s brandernst. Das hat den Staat zur Hölle gemacht, wenn ihn der Mensch zu seinem Himmel machen wollte: Hölderlin war politisch klüger als seine schwärmenden romantischen Kollegen. Popper und Hayek benutzen das Hölderlin-Wort für ihre Verdammung jeder sozialistischen Utopie.

Hier rächt sich wieder die Verwechslung des Transzendenten mit dem Natürlichen, des Himmlischen mit dem Menschlichen. Was der Mensch in humaner Utopie zustande bringt, kann er heute noch nicht wissen. Ein absolutes Wissen hingegen, dass er zum Scheitern verurteilt wäre, gibt es genau so wenig. Ein humanes Leben der Menschheit ist – bis zum endgültigen Beweis des Gegenteils – nicht unmöglich. Nicht als Leistung des Himmels, sondern in Kooperation der gesamten Menschheit.

Wozu der freie Mensch fähig ist, darf nicht von Erbsünde und Paradiesverbot bestimmt werden. Fromme Selbstamputationen gehören zu den verheerendsten Denkverboten der christlichen Welt. Sie verbieten, den Menschen in seiner ganzen Lernfähigkeit zu betrachten.

Hölderlins Satz muss ergänzt und korrigiert werden: Das hat den Staat zur Hölle gemacht, dass man an die Hölle glauben musste. Jeder Glaube ist eine selbsterfüllende Prophezeiung. Glaubt der Mensch, ein höllisches Wesen zu sein, wird er sich höllisch verhalten. Glaubt er, vernünftig zu sein, gibt ihm die Vernunft eine Chance.

Dem ätherischen Europa der Romantiker fehlte jede Nüchternheit. Jeder Schwärmer fühlte sich als Heros der Nächstenliebe, als Abbild des Herrn und Erlösers. In einer perfekten Agape-Atmosphäre ist selbst der kleinste Tausch zwischen Gleichberechtigten ein teuflischer Betrug.

Man schaue nach England, wo Adam Smith gerade sein grundlegendes Werk über den „Wohlstand der Nationen“ publiziert hatte. Smith setzte auf die wohltuenden Wirkungen eines rationalen Egoismus. Novalis verdammte alles eigennützige Tun und ließ nur selbstaufopfernde Nächstenliebe zu. Sein verklärtes Mittelalter war geprägt von klerikaler Zensur aller Ketzer wie Hus und Luther und aller unbotmäßigen Wissenschaftler wie Galilei oder Giordano Bruno. Die Reformation galt als Verhängnis, das Europa in sündige Nationen aufspaltete.

Noch heute können wir mit Meinungsverschiedenheiten nicht umgehen. Wenn sich die europäischen Regierungen in Brüssel nicht einigen können, schwebt Europa permanent am Rande des Abgrunds. Ein dünnlippiger Schwabe aus Brüssel immer vorneweg (Zur Rede von EU-Kommissar Günther Oettinger im SPIEGEL):

Schluss mit dem Gutmenschengetue der Deutschen! Werft endlich die degenerierten Mittelmeerstaaten aus der EU. Europa ist Money, Money, sonst nichts, sagt einer, der voll auf der christlichen Wertebasis des Abendlands steht. Womit den Scheelen und Taubstummen unter den Eingeborenen endlich die Augen übergehen sollten, wo Jesus und Öttinger den Most holen.

Ist die Einheit Europas nur ein wirtschaftliches Rechenexempel, wie Winfried Wolf im TAZ-Kommentar behauptet? „EU und Euro waren immer Projekte des Kapitals und immer vor allem von deutschen Kapitalinteressen bestimmt. Fortschrittliche Zielsetzungen waren damit nie verbunden.“

Es ist falsch, dass rein ökonomische Zielsetzungen zur Gründung der EU führten. Der Wille zur Versöhnung war nach unendlichen Kriegen übermächtig. Doch selbst, wenn es anders gewesen wäre: muss man wirtschaftlichen Borniertheiten Recht geben oder sie in nachträglicher List der Vernunft in moralische umwandeln? Es ist entlarvend, wie linke Kritiker der Wirtschaft sich auf wirtschaftliche Monomanie reduzieren lassen: its economy, stupid?

Bestimmt Moral die Wirtschaft oder Wirtschaft die Moral? Hier zeigt sich der Pferdefuß postmarxistischer Kapitalismuskritiker: Utopische Moral war bei Marx keine Option, nur der Glaube an eine automatische Heilsgeschichte. Das unmoralische Sein bestimmt das unmoralische Bewusstsein bis es sich irgendwann in der Zukunft entschließt, moralisch zu werden und die Menschen mit dem Reich der Freiheit zu beschenken.

Das romantische Europa musste scheitern. Denn alle Politikversuche der Menschen mussten zuerst zu Bruch gehen, bevor der große Wurf wie ein Wunder zur Erde schweben konnte. „Wahrhafte Anarchie ist das Zeugungselement der Religion. Aus der Vernichtung alles Positiven hebt sie ihr glorreiches Haupt als neue Weltstifterin empor.“

Erst muss der Mensch die „Welt verlieren“, damit er das Reich der Himmel gewinnen kann. Wer sein Leben liebt, verliert es und wer sein Leben in dieser Welt verliert, der wird es in Ewigkeit erhalten. Deutschland ist das Land der europäischen Auferstehung. „Im hochgebildeten Deutschland kann man schon jetzt mit voller Gewissheit die Spuren einer neuen Welt aufzeigen.“

Es dauerte nur gute 100 Jahre, bis die neue Welt in Deutschland für alle Nationen sichtbar wurde.

Das Europa der Romantiker zerschellte an ihrer religiösen Fata Morgana. Das gegenwärtige Europa wird mit Gewissheit scheitern, wenn es sich zum bloßen Schacher-Geschäft erniedrigen lässt. Vermutlich in der verborgenen Hoffnung: wenn alles Positive des Menschen vernichtet wäre, die gottlosen Europäer ihr ökonomisches Waterloo erlebt hätten dann würde der Messias vor der Tür stehen und die Seinen zur Auferstehung bitten.