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Donnerstag, 27. Juni 2013 – Der SPIEGEL und die Aufklärungsverweigerung

Hello, Freunde der Recherche,

Recherche ist die Königsdisziplin des Journalismus. „Das Recherchieren ist im engeren Sinne ein Verfahren zur Beschaffung und Beurteilung von Aussagen, die ohne dieses Verfahren nicht preisgegeben, also nicht publik würden. Im weiteren Sinne ist es ein Verfahren zur adäquaten Abbildung realer, d. h. sinnlich wahrgenommener Wirklichkeit mit den Mitteln der Sprache.“ (Wiki)

Der neue SPIEGEL-Chef, noch gar nicht angetreten, ist schon umstritten. (Ulrike Simon in der BLZ) Er lege vor allem Wert auf Recherche und harte Informationen. Schön geschriebene Artikel – schön und gut, wichtiger seien scharfe Kommentare, die Debatten anheizten. Hart muss es zugehen im deutschen Tagesschreibergewerbe, harte Informationen, harte Recherchen.

Was muss denn ständig recherchiert werden? Wissen wir nicht mehr als genug? Liegen die Informationen nicht auf der Straße? Gewiss müssen sie belegt und beweisbar sein. Dennoch: wäre es nicht Hauptaufgabe der Vierten Gewalt, die Informationen zum Sprechen zu bringen, um die Mächtigen ins Schwitzen zu bringen? Oder darüber nachzudenken, was sie für unsere Welt bedeuten?

Das setzte Denkarbeit voraus, debattieren, profilierte Meinungen als Hypothesen vorbringen, die andere Meinungen hervorrufen, um mit ihnen um die Wahrheit zu ringen.

Sinnlich verlässliche Wahrnehmungen sind die Grundlagen der Meinungsbildung. Müssen sie uns nicht lehren, die Welt zu erkennen, wie sie ist, was nur

durch reflektierendes Einordnen der sinnlichen Impressionen gelingt? Müssten Journalisten nicht Anhänger einer objektiven Wahrheit sein, die sie sinnlich-wahrnehmend und intellektuell-durchdringend suchen, finden und beschreiben?

Wenn Wahrnehmungen subjektive Perspektiven einer objektiven Wirklichkeit sind, warum werden im deutschen Feuilleton alle objektiven Wahrheiten als Erfindungen des Teufels beschrieben? Subjektive Wahrnehmungen lassen sich durch sorgfältigen Vergleich der Entstehungsbedingungen bei den Beobachtern durchaus objektivieren.

Astronomen erklären unterschiedliche Daten der Beobachter mit der „persönlichen Gleichung“ der Eigenschaften ihrer Augen – und können sich mit einer simplen Korrekturgleichung auf dieselben Daten am Sternenhimmel einigen.

Das gilt für alle Wahrnehmungen. Der Sohn eines strengen Vaters erlebt seinen Chef anders als seine Kollegin, die Lieblingstochter ihres Vaters, den sie um den Finger wickeln konnte – bis beide bemerken, dass Strenge zuverlässige Zuwendung und Verwöhnen unzuverlässige Überfürsorglichkeit war und beide ihre unterschiedlichen Wahrnehmungen erneut überprüfen müssen, um die Perspektive des andern zu verstehen.

Es geht um Verstehen, danach kommt das Bewerten. Verstehen heißt nicht, alles entschuldigen und gut heißen. Woran erkenne ich, dass ich verstanden habe? Daran, dass der andere sich verstanden fühlt?

Verstanden werden ist heute nicht wenig, wenngleich für die meisten gefährlich. Wer sich verstanden fühlt, fühlt sich durchschaut und ertappt. Seine Wettbewerbsfassade ist durchlöchert, sein Konkurrent könnte sein Verstehen benutzen, um ihn beim nächsten Mal abzuservieren. Wer heute schon zwei Fragen stellt, hat drei zu viel gestellt. Ist das die Psychotour, fragt der Befragte in jeder Vorabendserie spitz zurück.

Fragen und Verstehen wird als Entblößen wahrgenommen, als unbefugter Voyeurismus – gerade bei denen, die staatliche Überwachungsexzesse nicht im mindesten problematisch empfinden. Im einen Fall will ein hinterlistiger Zeitgenosse sich Vorteile verschaffen, im Fall des Staates haben die meisten Christen noch immer den großen Vater im Himmel vor Augen, der im Zweifelsfall schon gütig-verständnisvoll mit seinem Geheimwissen umgehen wird.

Ein absoluter Verstehensbeweis ist es keineswegs, wenn der andere signalisiert: Okay, ich fühle mich verstanden. Es könnte sein, dass sich beide in falscher Harmonie in den Armen liegen. Das Kind will die Eltern nicht enttäuschen, die es immerzu verstehen wollen, und sagt als Liebesbeweis: bei euch fühl ich mich verstanden – auch wenn das Verstehen übermotivierter Eltern nichts als erkenntnislose Schein-Empathie ist.

Obama glaubt Merkel zu verstehen, weil sie beide eine ähnliche Biografie aufweisen. Beide sind Aufsteiger aus ungünstigen Anfangsbedingungen. Der Präsident als erster schwarzer Kandidat, der früher nie die geringste Chance gehabt hätte, ins Weiße Haus zu ziehen. Merkel, auferstanden aus SED-Ruinen, die persönlich die Mauer wegräumen musste, um das Kanzleramt zu erobern, hatte anfängliche Probleme mit dem Präsidenten des Klassenfeindes aus dem Kalten Krieg, bis sie ihn inzwischen anstrahlt wie ein verliebter Teenager.

So entstehen Missverständnisse. Gleich muss Gleich nicht am besten verstehen. Allzuoft herrscht der Narzissmus der geringsten Differenz. Was mir am meisten ähnelt, lehne ich am meisten ab, denn ich will ein unverwechselbares Original sein. Fußballfans und deutsche Ballermänner hingegen fühlen sich wie ein Herz und eine Seele mit allen, die demselben Club oder denselben Besäufnissen zugetan sind.

Es ist interessant, dass Journalisten das aufdeckende Recherchieren als ihre wichtigste Berufsbezeichnung betrachten, obgleich die meisten entschiedene Gegner von Verschwörungstheorien sind. Was gäbe es denn ständig zu entlarven und anzuprangern, wenn es keine Mächte gäbe, die hinter den Kulissen verschwörerisch ihre Machenschaften trieben?

Die Welt ist alles, was verborgen und versteckt ist? Dann wäre die Welt nichts als das Spielfeld rivalisierender Verschwörungshorden. Müsste man nicht dagegen halten: die Welt ist alles, was offen vor aller Augen liegt? Wir sind nur nicht fähig, unsere eigenen Augen zu betätigen, vom Betätigen des eigenen Verstandes nicht zu reden?

Eine Lieblingsformel unserer Tagesschreiber lautet: „Wie ich immer wieder beobachten kann „. Sie sind Beobachter des Tagesgeschehens, als ob Beobachten die objektivste Tätigkeit auf Erden wäre. Beobachter sind erhaben über den Perspektivismus ordinärer Meinungen. Dass andere Menschen anderes wahrnehmen könnten, wird aus fast keiner Reportage ersichtlich.

Beobachten genießt bei den Medialen einen fast göttlichen Status. Sind sie nur zur rechten Zeit am rechten Ort – an der Kriegsfront des Geschehens, beim ewigen Kampf des Guten gegen das Böse –, reklamieren sie gefühlte Unfehlbarkeit. Hat Caren Miosga jemals die skeptische Frage an einen Auslandskorrespondenten gestellt: Sind Sie sicher, Herr Kollege, dass Sie im Zentrum des Geschehens sind? Sind Sie vielleicht nicht doch zu weit entfernt – oder zu nah –, um aus rechter Distanz den Bürgerkrieg in Syrien wahrzunehmen?

Das Ärgste ist, wenn der Korrespondent in New York tun muss, als ob er Augenzeuge des Terroranschlags in Boston wäre. Dabei hat er all seine Informationen selbst nur aus TV und Gazetten bezogen wie das Publikum der ganzen Welt.

Die meisten Zeitzeugen- und Augenzeugenberichte sind trivial und überflüssig. Wichtig wäre die reflektierte Einordnung des schon Bekannten, was meistens zu wünschen übrig lässt. Der Kommentar eines Sachkundigen, weltenweit vom Ort des Geschehens entfernt, kann mehr an Erkenntnis liefern als die wirren Sinneseindrücke des Ort-Zeit-Beobachters.

Man darf heute keine Meinung über Amerika haben, wenn man nicht jährlich zweimal in New York shoppen war. Scholl-Latour hat jedes Land dieser Welt besucht, er gilt als Gottvater aller Journalisten. Dass es Bücher und Gazetten en masse gibt, aus denen man mit wirtschaftlicher und kultureller Geschichte des Landes seine Schlüsse ziehen kann, oft besser als in geographischer Distanzlosigkeit, wird von Gazettenschreibern tunlichst ignoriert.

Leibniz unterschied zwischen zeitlos göttlicher Erkenntnis und menschlichem, irrtumsanfälligem Erkennen in Raum und Zeit.

Bei Nietzsche gab es keine göttliche Erkenntnis mehr. Die eine wahre Wirklichkeit hatte sich in viele Wirklichkeiten zellgeteilt. Jeder Mensch sah nur seine eigene Wirklichkeit, ein Ausgleich mit der subjektiven Perspektive des anderen war unmöglich. Wenn jeder seiner subjektiven Wirklichkeit verhaftet ist, kann es ein Verstehen und Verständigen unter verschiedenen Perspektiven nicht geben. Schon der Versuch des Verstehens wird von dogmatischen Pluralisten als Anmaßung zurückgewiesen.

Als der philosophische Versteher Gadamer zum ersten Mal dem postmodernen Franzosen Derrida begegnete, wies Derrida die Verstehensversuche des Deutschen zurück. Kein Mensch könne niemanden verstehen. Was er Gadamer zu verstehen geben wollte. Hätte Derrida bei Gadamer Erfolg gehabt, hätte er sich selbst widerlegt.

Wozu noch Gespräche, wenn sie nicht zum gegenseitigen Verständnis führen? Hat Gadamer seinerseits verstanden, warum Derrida nicht verstanden werden wollte? In seinem ganzen Buch übers Verstehen hat der Heideggerschüler mit keiner Silbe bewiesen, dass er die völkische Biografie der Deutschen verstanden hätte. Bezieht sich Verstehen nur aufs Verstehen metaphysischer Schwarten aus alten Zeiten, aber nicht auf das konkrete politische Geschehen?

Sollten Politiker nicht beweisen, dass sie verstanden haben, was in der Welt abläuft und wie sie zustande gekommen ist, damit sie nachvollziehbare Schlussfolgerungen ziehen können? Kein Politiker erklärt, wie Wirtschaft funktioniert. Nicht mal Fach-Ökonomen sind in der Lage, die Kausalitäten der Finanzkrise zu erläutern. Welche Rezepte wollen sie anpreisen, wenn sie nicht die Ursachen der Krankheiten erkennen? Gibt es eine überzeugende Therapie ohne gründliche Diagnose?

Stattdessen erzählen sie, was sie vorhaben. Wie kann man ihre Parteiprogramme verstehen, wenn man nicht weiß, welche Befindlichkeiten mit ihnen kuriert werden sollen? Das meiste klingt nach weißer Salbe, die nach den Wahlen auf den Müll geworfen wird.

Die Tagesbeobachter wissen es nicht: sie folgen einer bestimmten Philosophie, obgleich sie sich als kühle ideologiefreie Objektivisten betrachten. Dass sich ihr handwerklich erforderlicher Objektivismus mit ihrem feuilletonistischen Perspektivismus beißt, ist ihnen noch nie in den Sinn gekommen. Sollten sie jemals Philosophie betrieben haben: spätestens bei ihrer ersten Anstellung sind sie froh, den überflüssigen Gedankenkram abgestreift zu haben, um dem Hic et Nunc ihrer apokryphen Tagesbeobachterphilosophie zu huldigen. Die Wahrheit zeigt sich für sie immer im konkreten unverwechselbaren Hier und Jetzt.

Das war die Lehre der scholastischen Theologen, die mit aristotelischen Anleihen die „Philosophie“ der christlichen Offenbarung definierten. Im Gegensatz zur zeitlosen Wahrheit Platons – oder aller Naturphilosophien – sollte Wahrheit immer der sich permanent ändernde Erkenntnisblitz von Oben sein.

Die Wahrheit der natürlichen Wiederholung des Gleichen ist stets die immergleiche und zeitlose. Die Wahrheit der Geschichte hingegen ist individuell und ereignet sich in individueller Zeit und an individuellem Ort. Wie die Heilige Schrift die sukzessive Aufeinanderfolge biblischer Offenbarungen beschrieb, wollen moderne Journalisten noch immer Zeitzeugen fortlaufender Offenbarungen sein.

Naturphilosophen denken der zeitlos sich wiederholenden Natur nach. Geschichtsdenker langweilen sich mit der ollen Tante Natur, die sich stets wiederholt und dasselbe sagt. Nicht anders als Sokrates, der mit immer denselben Worten dasselbe sagte.

Die supermodernen Tagesschreiber, stets auf der Höhe der Zeit, wollen das immer Neue, das Zukünftige und Einmalige. Das jeweils Neue ist immer wahrer als das Alte, das schon deshalb unwahr sein muss, weil es alt und vergangen ist.

In dieser Hinsicht war der Leitjournalist des abendländischen Journalismus der Herr und Heiland des sich in heiliger Zeit äußernden väterlichen Schöpfers. Er war Beobachter und Beobachtungsobjekt in einem. Zeitzeuge der Heilsoffenbarung des Vaters, der IHN, seinen Sohn, als Bringer des Heils in einem bestimmten Ort und zu einer bestimmten Zeit in die Welt gesandt hatte.

In jener Zeit, an jenem Ort ereignete sich das ungeheure Ereignis, das die Weltgeschichte unauslöschlich prägen und bestimmen sollte. Jesus, der Zeuge seines Vaters, benötigte selber Zeitzeugen seiner Tat, die das Hic et Nunc der Selbstoffenbarung Gottes der Welt kundtun sollten. „Ihr seid des alles Zeugen.“ „Ihr selbst seid meine Zeugen, dass ich gesagt habe …“ „Ihr werdet meine Zeugen sein in ganz Judäa und Samarien bis ans Ende der Welt.“ „Und wir sind Zeugen von diesen Dingen.“ „Diesen Jesus hat Gott auferweckt, des sind wir alle Zeugen.“ „Und wir sind Zeugen alles dessen, was er im Lande der Juden und in Jerusalem getan hat.“

Stellen wir uns vor, das Heilsereignis würde heute geschehen: wie sich die Reporter der Weltpresse mit Kamera und Mikrofon am Kreuzeshügel drängeln würden. Können Sie beweisen, dass Sie Gottes Sohn sind? Welche Gefühle haben Sie, wenn sie von all ihren Jüngern verlassen werden und nur ein paar bedeutungslose Frauen Ihnen treu bleiben? Hans Leyendecker, einziger und bester Rechercheur der deutschen Gazetten würde das Nachflugzeug nehmen, um persönlich der ominösen Massenhysterie auf den Grund zu gehen.

Nicht alle zeitlosen Wahrheiten sind unabhängig von sinnlichen Eindrücken. Kein Archäologe kann seine Hypothesen über Persepolis in seiner Denkerstube verifizieren. Er muss nach Persien reisen und mühsame Grabungen durchführen. Kein Geologe kann seine Vermutungen über die Entstehung von Vulkanen am Sandkasten seiner Kinder beweisen. Ein Logiker und Mathematiker aber kann sich ein Leben lang in seiner Stube verbarrikadieren, um seine Gleichungen allein aus seinem Kopfe zu lösen.

Zu jeder Wissenschaft gehören sinnliche Beweise, die man mit Hilfe logischer Überlegungen ordnen muss. Ist Journalismus eine Wissenschaft? Man muss Fakten sammeln, sie per Denken ordnen und die Ergebnisse seines Erkennens der Öffentlichkeit so vorlegen, dass Krethi und Plethi sie verstehen und sich dazu äußern können.

Legen die Medien den Akzent einseitig auf bloßes Recherchieren, beweisen sie, dass sie nur die Hälfte des Erkenntnisaktes verstanden haben. Fakten gibt es wie Sand am Meer. Wir können sie gar nicht aufnehmen, so überschwemmen sie uns. Echter Journalismus wäre daran zu erkennen, dass er zum Denken reizt. Dass er Räsonieren und Streiten kann.

Wolfgang Büchner, neuer Chef des SPIEGEL, will mehr scharfen Kommentar, weniger blumige Essays. Seltsame Unterscheidungen. Ein Essay ist im deutschen Journalismus zu einer Pfauenvorstellung unwissenschaftlicher, aber genialer Apercus heruntergekommen. Wissenschaftlich sein heißt nicht, schlecht schreiben und pedantische, zumeist überflüssige Fußnoten produzieren. Es heißt präzis wahrnehmen und gedanklich konsistent sein. Es heißt, das Untergründige und Versteckte, das vor aller Augen liegt, ans Licht holen.

Ein Essay schreiben ohne zu werten, zu attackieren, einfühlsam zu verstehen ist eitles und überflüssiges Bildungsgehabe. War die Titelgeschichte des SPIEGEL: „Der heilende Geist – Medizin: Gesund durch Meditation und Entspannung“ etwa nur belangloses, erbauliches Gerede für esoterische Hypochondrer? Hat sie nicht Stellung genommen im Streit zwischen Schulmedizin, alternativen Heilverfahren, psychosomatischen Gesprächstherapien und naturwissenschaftlicher Maschinen- und Pillenmedizin? Hat sie nicht das Gesundheitswesen in ökonomischer Hinsicht unter die Lupe genommen? Hat sie die gefährdete Gesundheit der kapitalistischen Malocher nicht erbarmungslos mit vielen Beweisen belegt? Hat sie nicht die Abhängigkeit der Ärzte von pharmakologischen Neuerungen, die sie ungeprüft an ihre Patienten weitergeben, angegriffen? Hat sie keine Aufklärung betrieben? Nur schön geschriebene Essays aneinander gereiht? Wenn sie das getan hat, war sie überflüssig und ein Ärgernis.

Den Begriff Aufklärung suchen wir vergeblich im Bericht über das erste Treffen Büchners mit den Schreibern des Magazins, in dem einst Rudolf Augstein mit stupender Belesenheit und urteilssicherer Schärfe immer montags die Republik aufmischte. Lernt, lernt, lernt, soll er seinen hochbezahlten Redakteuren zugerufen haben.

Heute schreibt immer der Schreiber den Kommentar, der hinlänglich bewiesen hat, dass er von der Sache die wenigste Ahnung hat. Als originellste Meinung gilt die, die sich mit Sachkenntnis am wenigsten kontaminiert hat. Es gilt der Originalitätsbegriff der Romantik – oder des Christentums: was der Geist bei einem Gläschen Portwein offenbart hat, muss unwiderlegbar sein.

Ziehen wir die Schlussfolgerung: das Tagesschreiben in der heutigen Form ist perdu. Denn der heutige Tag ist die Summe aller Tage. Einen Gegensatz zwischen Historie und Journalismus darf es nicht geben. Wer nicht von dreitausend Jahren sich weiß Rechenschaft zu geben, bleibt im Dunkeln unerfahren.

Der Journalismus definiert sich wie das Experten- und Spezialistentum: durch fortschreitendes Ausklammern und Negieren des Notwendigen und Sinnvollen. Die Reduktion schreitet munter voran. Es ist kein Gesund-, sondern ein Krankschrumpfen.

Journalismus will keine Wissenschaft sein, keine Aufklärung, keine Philosophie, keine Historie, keine Ideologie, weder links noch rechts. Sondern schwebend über allen Wassern. Er kennt keine Parteien mehr, sondern nur noch Quoten und die Profite seiner Verleger.

Wie der Spezialist immer mehr über immer weniger weiß, endlich allwissend ist über nichts, so der Edelschreiber, der nur noch schön zu schreiben begehrt – über nichts. Über sein Schönschreiben ist damit noch nichts gesagt.

Wer die Problemvergessenheit der Politik beklagt, darf die Aufklärungs- und Erkenntnisverweigerung der Vierten Gewalt nicht ignorieren.