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Tagesmail

Donnerstag, 18. Juli 2013 – Amerika – reich und fromm

Hello, Freunde der Wassertrinker,

wieder ein Sieg gegen die griechischen Erfinder der Demokratie, die sich das mediterrane Wohlleben allzu lange gefallen ließen. 15 000 Beamte – darunter viele Lehrer – werden vom Staat entlassen.

Sollten sie Probleme bekommen, sich über Wasser zu halten, so weiß das Jobcenter Pinneberg Abhilfe: sie sollten Leitungswasser trinken, weniger Fleisch essen und ihre alten Möbel verkaufen. Griechen, so die wissenschaftliche Erklärung, seien vom Klima begünstigt und lebten auf der Straße. Wozu bräuchten sie winterfeste Möbel?

Schäuble war zu einer kurzen, aber pädagogisch eindrucksvollen Staatsvisite eingerollt und zeigte den Griechen vor laufenden Kameras, wie man den Wasserhahn in der Wohnung findet, ihn fachgemäß aufdreht und das Wasser mit Hilfe eines sauberen Glases durch bedachtsames Schlucken zu sich nimmt. Das könne jeder, selbst wenn er am Krückstock ginge oder im Rollstuhl säße.

Sollte das nichts nützen, könnten Not leidende Griechen – doch nur im äußersten Notfall – ins deutsche Sozialnetz einwandern. Dort sei die Qualität des Leitungswassers erheblich besser. Griechenland sei viel zu wichtig für die Entwicklung der deutschen Graecomanie – trotz der nicht mehr in die Zeit passenden Demokratie in Alt-Athen –, als dass man die griechische Kultur ihren Erfindern überlassen dürfte. Mit dem althellenischen Zitat: Der nicht geschundene Mann ist nicht erzogen, verabschiedete sich der freundlich lächelnde Badenser von seinen Gastgebern. (BILD)

 

Nähern wir uns Amerika. Ein Stoff, zu widersprüchlich, als dass man ihn deutschen Auslandskorrespondenten überlassen dürfte, die abends

in die Kamera sagen, was man eben auf Online besser las. „Danke für Ihre Einschätzung“, wie das Schlussritual des Stammhauses lautet.

(Zu denen der forsche Klaus Kleber vom ZDF gehört. Im SPIEGEL steht eine kleine Handreichung, wie jeder seinen persönlichen Kleber aus Papier basteln und zusammenkleben kann: „Mit Schere, Kleber, Papier“. Natürlich ist das eine kleine hinterfotzige Racheaktion des SPIEGEL an dem Anchorman, den sie einst als Chef begehrten, der aber ein Leben ohne Scheinwerfer und Kameras nicht lebenswert fand und dankend absagte. Cinthia Briseno im SPIEGEL)

Gleichheit, Freiheit, Brüderlichkeit, waren die Parolen der Französischen Revolution 1789. Wie lauteten die Parolen der amerikanischen Unabhängigkeitsbewegung? Wer lernte von wem? Die Franzosen von den Amerikanern, die Amerikaner von den Franzosen? Der Streit ist noch immer nicht entschieden. Klar ist nur, dass Deutschland, armes zerrissenes, geschundenes Vaterland, keine Rolle in den frühen europäischen Freiheitsbewegungen spielte.

Nicht mal ein halbes Jahrhundert später, 1848, gelang es unseren Innerlichkeitsvätern, ihre Gedanken nach außen zu stülpen, um sie in Realität zu gießen. Sie begnügten sich mit freien Gedanken, die niemand erraten und kein Jäger erschießen kann. Für gymnasiale Geschichtslehrer von heute noch immer der Inbegriff deutscher Freiheit.

An der Neuentdeckung der Demokratie als Wiedergeburt (Renaissance) der athenischen war Deutschland so gut wie nicht beteiligt. Die deutschen Klassiker liebten die Griechen, aber nur ihre verworrenen Mythen und ihre nackten Skulpturen. Griechisch lernen und die alten Schwarten im Original lesen, war die erotische Aufklärung verdruckster Christenjünglinge. Die Komödien des Aristophanes mit seinen Schweinigeleien waren die ersten Pornos, die man nicht verstecken musste, weil die Eltern den Text eh nicht verstanden. Sex, Sinnlichkeit drangen in die Betkammern deutscher Stubenhocker.

Derweilen waren die westlichen Nachbarn nicht nur dabei, den großen Kuchen „Welt“ mit Messern und Kanonen zu verteilen. Die neuen Welten weit ab von europäischen Despoten waren ohne Freiheit und grenzenloser Selbstbestimmung gar nicht zu bändigen. Niemand war da, der dir hätte sagen können: bleib, wo‘s dir gefällt, lass dich nieder und komm zur Ruhe. Oder anders: das hier ist nichts, der pazifische Ozean ist noch 1000e Meilen entfernt, alles, was du unterwegs erwerben kannst, ist tausendmal besser, als was du dir schon mit Gottes Hilfe geraubt hast.

Geraubt? Nach heutigem Völkerrecht vielleicht, nicht aber nach Lockes biblischer Eigentumstheorie, nach der jeder unbearbeitete und ungenutzte Boden dem gehört, der ihn als erster besetzt und sich nutzbar macht. Macht euch die Erde untertan, war die imperiale Eigentumstheorie eifriger Bibelleser.

Die indianische Urbevölkerung hatte das Riesenland nicht verdient, weil sie mit ihm nichts verdiente. Es war Gottes Order, die Heiden zu stutzen und ihnen klar zu machen, dass sie sich das Land in Ungehorsam gegen Altes Testament > 1. Mose 28 ff / http://www.way2god.org/de/bibel/1_mose/28/“ href=“http://www.way2god.org/de/bibel/1_mose/28/“>1.Mose 1,28 ff angeeignet hätten. Platz da, Ungläubige und Wilde, die wahren Eigentümer der Welt kommen.

Dieser Eigentumsbegriff ist noch immer der herrschende. Auch in Wallstreet. Gelder, mit denen man Geld verdienen kann, dürfen nicht träge und fruchtlos in Tresoren bei lächerlichen Zinsen vor sich hin vegetieren. Man muss sie „arbeiten lassen“, damit ihre Besitzer nicht arbeiten müssen. Denn Arbeiten ist die zweite Legitimation des Locke‘schen Eigentumsbegriffs. Alles gehört dir, was du dir erarbeitet hast.

Wenn die Tycoons sagen, sie würden am härtesten arbeiten, meinen sie, dass sie ihre Geldmassen im Schweiße ihres Angesichts malochen lassen. Man denke, dass Billionenbeträge in Nanosekundenschnelle rund um den Globus düsen. Normale Abhängige erhalten hier keine prickelnden Gefühle. Da kommt kein Usain Bolt mit, ob mit oder ohne Doping. Allerdings könnten wir die Börsen zu Dopingzentralen des tresorierten Kapitals ernennen.

Aristoteles, der hellenische Tropf, hatte nicht die geringste Ahnung von modernem Money, als er schrieb: Geld heckt nicht. Geld, in ausreichendem Maß konzentriert, heckt sehr wohl. He(c )ktischer als Kaninchen. Das Selbstvermehren des Geldes ist die Schwarmintelligenz desselben.

Auch für Geld gilt das biblische Fruchtbarkeitsgebot: Dollars, seid fruchtbar und mehret euch und füllet den Globus. Machet ihn mit Hilfe einer kongenialen Globalisierung untertan und herrschet über die Ressourcen der Welt, die Ölreserven des Vorderen Orients, über lasche Europäer und alle sonstigen Tiere, die sich auf der Erde noch regen: nimmer lange.

Ohne Tocqueville, den phänomenalen, aber in sich widersprüchlichen katholischen Franzosen, kommen wir nicht weiter. Er schreibt über die ersten Amerikaner:

„Diese Menschen haben ihre erste Heimat verlassen, damit es ihnen gut gehe; sie verlassen die zweite, damit es ihnen noch besser gehe: fast überall finden sie Reichtum, nicht aber das Glück. Die Begierde nach Wohlstand ist bei ihnen eine ruhelose und brennende Leidenschaft geworden, die sich mit der Befriedigung steigert. Sie zerrissen einst die Bande, die sie an den Heimatboden fesselten; seither haben sie keine neuen gebildet. Das Auswandern ist ihnen zum Bedürfnis geworden, heute ist es nach ihrer Auffassung eine Art Glücksspiel, dessen Aufregung sie ebenso lieben wie den Gewinn.“

In wenigen genialen Strichen hat der Franzos den amerikanischen Charakter in nuce umrissen, der sich bis heute nicht verändert, sondern verfestigt und verhärtet hat. Selbst das Glücksspiel als Börsenmotor hat Tocqueville erkannt.

Doch halt, stimmt es, dass Amerikaner kein Glück finden? Ein braver deutscher Amerikakenner würde hier sofort mit der Unabhängigkeitserklärung wedeln, in der die bekannten Sätze wie Donnerschläge rollen:

„Wir halten diese Wahrheiten für ausgemacht, daß alle Menschen gleich erschaffen worden, daß sie von ihrem Schöpfer mit gewissen unveräußerlichen Rechten begabt worden, worunter sind Leben, Freyheit und das Streben nach Glückseligkeit.“

Ein Mischtext aus Bibel und Stoa, der einem den Magen umdreht. Wie Jakob und Esau, die unverträglichen Zwillinge, schon im Mutterleib aneinander gerieten, so streiten sich hier die zwei Grundsäulen europäischer Kultur bis aufs Messer, das Griechische und Christliche, Vernunft und Offenbarung: „Da sich aber die Kinder in ihrem Leibe stießen, sprach sie: Wenn es so ist, warum lebe ich dann?“

Rebecca spürte den Streit und klagte vor Gott. Mutter Amerika hingegen – ungewohnt, vom mütterlichen Amerika zu reden, wo es doch entweder sächlich oder superman-like auftritt – spürt zwar, dass sich hier zwei unverträgliche Traditionen balgen, doch es hat keine Ahnung, woher die Bauchschmerzen rühren. (Deutschland hat das Problem der unverträglichen beiden Kulturen vor den Weltkriegen geahnt und gewusst. Siehe unter vielen die herausragenden Bücher von Wilhelm Nestle.)

Ein biblischer Schöpfer, der seinen Geschöpfen unveräußerliche Rechte geschenkt hätte, ist eine makabre Chimäre. Seine Kreaturen sind für den totalitären Gott nichts als Spielmasse seines Konsolenspiels: wie erschaffe ich mir eine Welt 2.0, um ihr meinen unberechenbaren Willen aufzuzwingen?

Freiheit ist ein Geschenk Gottes, predigte Dabbelju Bush. Wie lautet ein kapitalistischer Werbespruch, der dem Bush-Sprössling offensichtlich unbekannt war? Was man geschenkt kriegt, kann nichts taugen.

Womit die Franzen die Nase vorne hätten. Sie haben sich die Freiheit rund um die Bastille mit Schweiß, Blut und Tränen redlich erkämpft. Gods own Country war in jeder Hinsicht ein Riesenwerbegeschenk des Himmels an die europäischen Flüchtlinge, um sie bei der frommen Stange zu halten – da die meisten bei ihrer Abreise vom alten Kontinent die Nase schon ziemlich voll hatten von den Popen. Als sie aber das Neue Kanaan erlebten, waren sie überschwemmt von der Wahrheit und Richtigkeit der zweiten Landnahme.

Gott hatte Wunder gewirkt und aus dem Ärmel einen ganz neuen unberührten Kontinent gezaubert. Da musste man ganz einfach niederknien und anbeten. Die Auswanderer empfanden sich als wiedergeborene Kinder Israels, die nach den ägyptischen Plagen von Jahwe ein neues, unermesslich fruchtbares Land zum Geschenk erhielten. Die ersten Amerikaner empfanden sich als zweites Volk der Juden, das Gottes Versprechungen real erleben durfte.

Schon Calvin bevorzugte das Alte Testament mit Staat, Politik, Wirtschaft und politischer Erfolgsgeschichte, anders als der verinnerlichte Luther, der sich unter die Obrigkeit mit Beten und Singen duckte. Während das primäre Judenvolk von Gott unter die Völker der Welt verbannt war, hatte das zweite wahre Volk der „Juden“ das Ziel der väterlichen Verheißung gefunden. Der Jubel war unermesslich. Es war wie bei Josua:

„Denn die Kinder Israel wandelten vierzig Jahre in der Wüste, bis daß das ganze Volk der Kriegsmänner, die aus Ägypten gezogen waren, umkamen, darum daß sie der Stimme des Herrn nicht gehorcht hatten.“ Wenn sie aber der Stimme folgten, würde der Herr ihnen Land geben, in dem Milch und Honig fließt.

Die Wiederholung der Geschichte geht bis in Einzelheiten der Ermordung der Urbevölkerung. Siehe das schauderhafte Altes Testament > Josua 6 ff / http://www.way2god.org/de/bibel/josua/6/“ href=“http://www.way2god.org/de/bibel/josua/6/“>Kapitel 6 des Josuabuches. (Manche Theologen betrachten diese Berichte als historisch nicht authentisch.) Authentisch aber waren sie für die neucalvinistischen Bibelleser, die keine Probleme hatten, in himmlischem Auftrag die nutzlosen Ureinwohner zu liquidieren.

Heute wird behauptet, Calvin, nicht erst die Aufklärung, habe als Erster den Antisemitismus in Europa angegriffen. Obgleich der Genfer sich mehr mit dem Alten Testament identifizieren konnte als sein Wittenberger Reformationskollege, schrieb auch er von „Juden als Lügnern und Verfälschern der Schrift.“

Auf Grund der unermesslichen neuen Beute und der geringen Anzahl von Juden in Amerika konnte der Heilswettbewerb zwischen Juden und Christen lange unter der Decke bleiben. Erst im Vorfeld zum Zweiten Weltkrieg, nachdem die Expansion des Landes an ein schmerzlich Ende gekommen war, entbrannte auch in den USA eine faschistische Antisemitismus-Bewegung.

Der Autohersteller Henry Ford war der international bekannteste unter den Judenhassern, auch John F. Kennedys Vater soll nicht koscher gewesen sein. Dass Amerika anfänglich nicht viele jüdische Flüchtlinge aufnahm, die Bahnschienen nach Auschwitz nicht zerstörte, hängt auch mit dem nicht unbedeutenden manifesten Faschismus Vorkriegsamerikas zusammen.

Was der spanische Mönch Bartolomeo de las Casas – für Katholiken ein früher Menschenrechtler, da er sich für die Indios einsetzte, indem er dafür eintrat, afrikanische Neger als Sklaven und Indio-Ersatz einzusetzen – über die südamerikanische Urbevölkerung schrieb, galt uneingeschränkt für die Indianer Nordamerikas:

„Endlose Zeugnisse belegen das sanfte und friedliche Gemüt der Eingeborenen. Aber unser Werk war es, Verzweiflung zu bringen und zu verwüsten, zu töten, zu zerfleischen und zu zerstören; kein Wunder also, dass sie ab und zu einen von uns umzubringen versuchten. Der Admiral war wahrlich blind, wie die, die nach ihm kamen, und so ängstlich bedacht, dem König zu gefallen, dass er nicht wieder gut zumachende Verbrechen gegen die Indianer beging.“ (Aus Howard Zinn: „Eine Geschichte des Amerikanischen Volkes“)

Dasselbe gilt für Nordamerika. „Als die Pilger nach Neuengland kamen, betraten sie kein unbewohntes Land, sondern das Territorium von Indianerstämmen.“ Ein Gouverneur definierte das Indianerland zum „legalen Vakuum“. Die Indianer hätten sich das Land nicht untertan gemacht und hätten also kein Bürgerrecht.    

Die Puritaner beriefen sich auf Altes Testament > Psalmen – Psalm 2,8 / http://www.way2god.org/de/bibel/psalm/2/“ href=“http://www.way2god.org/de/bibel/psalm/2/“>Psalm 2,8: „Heische (= verlange) von mir, so gebe ich dir die Heiden zum Erbe und der Welt Enden zum Eigentum.“ Um ihre Gewalt gegen die Ureinwohner zu rechtfertigen, zitierten sie Habermas hätte an dieser sanften Religions-Polyphonie seine helle Freude.

Haben die Amerikaner ihre furchtbare Vergangenheit bewältigt? Oder steckt in ihnen noch immer der primäre Killerinstinkt, der sich als göttliches Recht, ja als Pflicht gegen Heiden, Ungläubige und Feinde ausgeben darf? Kritische Beobachter wie Peter Beinart sind der Meinung, in Amerika gäbe es mehr Holocaust-Museen als Erinnerungen an die Völkerverbrechen an den Indianern. Sollen fremde Schandtaten benutzt werden, um eigene zu verdecken?

Sind Amerikaner glücklich oder streben sie unerreichbar nach Glück, da nach christlicher Vorstellung das wahre Glück erst in Jenseits beginnt? Folgen wir dem französischen Grafen, können sie nicht glücklich sein. Sie sind erfüllt von ruheloser und brennender Leidenschaft, von unendlicher Gier nach grenzenlosem Reichtum.

Glück ist nach Vorstellung de Tocquevilles Ruhe, Maß und Zufriedenheit. Das ist auch die griechische Idee der Eudaimonie. Der Lust-Philosoph Epikur rät lieber zum Verzicht, als das Risiko einzugehen, von missliebigen Folgen maßloser Lust belästigt zu werden.

Diese „alteuropäischen“ Maß-Tugenden sind von der amerikanischen Ökonomie längst ins Gegenteil verkehrt worden. Glück sei endloses Streben nach mehr und immer mehr. Glück liegt nicht im Erreichen des Ziels, Glück liegt in der unendlichen Bewegung.

Unterwegs sein ist alles, das Ziel ist nichts: dieses Zitat bedeutete in Alteuropa die grenzenlose Entfaltung zur Weisheit oder lebenslanges Selbsterforschen. Überm großen Teich wurde aus lebenslangem Reifen zur Weisheit die brennende, unerfüllbare Sehnsucht nach Pinke Pinke.

Der glückliche Mensch ist unersättlich-gierig, so die Lehre des Neoliberalismus, der die Welt erobert hat. „Am tiefsten werden die Amerikaner von Leidenschaften des Handelns und nicht von politischen Leidenschaften aufgewühlt, oder sie übertragen vielmehr die Handelsgewohnheiten auf die Politik.“

Hier stehen wir an der Quelle des Vorrangs der Wirtschaft vor dem Staat. Genau genommen wird der Staat nicht von der Wirtschaft gelenkt. Staat und Wirtschaft sind vielmehr identisch. In den USA herrscht eine permanente Große Koalition aus Macht und Money. „Nach Amerika muss man gehen, um die Macht wirtschaftlichen Wohlergehens über das politische Handeln und selbst über die Meinungen zu verstehen, die nur der Vernunft unterstehen sollten.“

Zuerst kommt das Bankkonto, dann noch lange nicht die Vernunft. Die Neucalvinisten verstanden es meisterhaft, europäische Untugenden in neue nationale Tugenden umzuwandeln. Glück ist Hektik und unstillbare Begierde, vernünftig ist der homo öconomicus, identisch mit dem homo rationalis.

Die folgende Passage könnte brillant den Unterschied zwischen kapitalismuskritischem Europa und neoliberalem Amerika bezeichnen, wenn – ja wenn die Europäer inzwischen nicht selbst zum System Unendlichkeit übergelaufen wären. Woher hatten die Amerikaner das Prinzip Unendlichkeit? Aus ihrem unendlichen Land und ihrem grenzenlosen Gott.

„In Frankreich betrachtet man die Anspruchslosigkeit, die Ausgeglichenheit der Sitten, den Familiensinn und die Liebe zum Geburtsort als bedeutende Bürgschaften für die Ruhe und das Glück des Staates; in Amerika erscheint nichts so geschäftsschädlich wie derartige Tugenden.“

Aus einem Gespräch mit einem reichen Grundbesitzer notierte Tocqueville: „Er sprach von der unvermeidlichen Rangordnung, die das Vermögen unter den Menschen begründet, vom Gehorsam gegen das bestehende Gesetz, vom Einfluss der guten Sitten in den Republiken und von den religiösen Ideen für Ordnung und Freiheit: er berief sich sogar zur Unterstützung einer seiner politischen Ansichten wie aus Versehen auf Jesus Christus.“

Es war kein Versehen, wie wir heute wissen – oder wissen könnten, wenn hiesige Frommen ihre heilige Schrift lesen würden. Ein wiedergeborener Amerikaner ist restlos davon überzeugt: Jesus ist der Begründer des amerikanischen Kapitalismus.