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Donnerstag, 14. März 2013 – Rudolf Augstein

Hello, Freunde der Päpste,

zwei Sätze sind immer wahr: a) wir leben in Zeiten des Umbruchs und b) wir haben einen neuen Übergangspapst – der dem Ideal eines Papstes schon sehr nahe kommt. Er ist Italiener aus Südamerika (zwei Pässe) und hat Theologie in Freiburg studiert. Nun nennt er sich nach Franz von Assisi und gilt als Papst der Armen. Seine Maxime lautet: „Erst wenn alles übereinstimmt – Denken, Fühlen und Tun – ist es gut.“

Sein großes Vorbild Franziskus hatte per Bibelstechen drei Jesusworte gefunden, die für sein weiteres Leben verbindlich waren:

Wenn du vollkommen sein willst, geh, verkauf deinen Besitz und gib das Geld den Armen; so wirst du einen bleibenden Schatz im Himmel haben; dann komm und folge mir nach.“(Matth. 19,21)

„Nehmt nichts mit auf den Weg, keinen Wanderstab und keine Vorratstasche, kein Brot, kein Geld und kein zweites Hemd.“(Luk 9,3)

„Wer mein Jünger sein will, der verleugne sich selbst, nehme täglich sein Kreuz auf sich und folge mir nach.“(Luk 9,23)

Die katholische Kirche wird ihren Besitz verkaufen und das Geld den Armen geben. Die Kleriker werden per pedes apostolorum durch die Lande ziehen und den Menschen das Evangelium predigen. Ohne Wanderstab und ohne Vorratstasche, ohne Brot und ohne zweites Hemd. Jeden Tag werden sie ihr Kreuz auf sich nehmen, damit sie einen bleibenden Schatz im Himmel erhalten. So uneigennützig

werden sie sein und sich und ihre Bedürfnisse verleugnen.

Das wird einen derartigen Eindruck in der Welt erregen, dass die größten Kapitalisten freiwillig ihren Besitz aufgeben und unter den Armen verteilen werden. Mit einem Schlag wird die Menschheit ihre wirtschaftlichen Probleme gelöst haben, bescheiden leben, die Natur schonen und ein Reich der Nächstenliebe errichten. Denken, Fühlen und Tun der Menschheit wird in Einklang sein.

Das war der Traum, den die Kirche seit 2000 Jahren der Menschheit vorträumt – um darüber hinweg zu täuschen, dass sie nicht daran denkt, den Traum zur Realität zu machen. Sie kann es nicht, sie ist sündig. Weil sie um ihre Sünde weiß, will sie es auch nicht mehr.

Menschenliebe wird sie jeden Tag neu versuchen und jeden Tag aufs neu scheitern – damit sie ihren Herrn um Verzeihung anflehen kann. Wenn sie leben könnte, wie sie wollte, bräuchte sie keinen Erlöser. Das kann sie dem Zimmermannssohn nicht antun. Der will, der muss gebraucht werden, denn er ist ein hilfloser Helfer. Was sollte er den ganzen Tag machen, wenn er nicht erlösen dürfte, wenn die schwache Menschheit ihn nicht bräuchte?

Diese Gefahr besteht nicht, dafür liebt die Menschheit ihren Heiland viel zu sehr. Lieber gibt sie sich schwächer als sie ist – ja sie verleugnet ihre ganze Humanität –, nur um dem überflüssigen Mann am Kreuz das Gefühl zu vermitteln: wir brauchen Dich. Immer. So ist die Kirche in jeder Hinsicht vorbildlich. Sie preist ihre unerreichbare Nächstenliebe, ein Spitzenprodukt, made in Heaven, und sie preist ihre unvergleichliche Unfähigkeit, dieses Spitzenprodukt zu realisieren.

Damit ist eine vollkommene Übereinstimmung zwischen Denken, Fühlen und Tun hergestellt. Der Mensch soll tun, wozu er aus eigener Kraft nicht fähig ist und wozu er einen himmlischen Unterstützer benötigt. Der Mensch ist ein Sünder, der kein voller Mensch sein darf, damit die himmlische Hilfsbürokratie nicht arbeitslos wird.

Jorge Mario Bergoglio ist ein armer Sünder. Vor kurzem beschimpfte er die argentinische Gesetzesvorlage zur Homoehe als Teufelsmanöver. Abtreibung und Verhütung lehnt er ab. Er ist ein schwacher Mensch und braucht dringend einen Fürsprecher – vor den Menschen. Die Adoption von Kindern durch Schwule sei eine Diskriminierung der Kinder. Dafür geht der Liebhaber der Armen regelmäßig ins Gefängnis, um den Gefangenen die Füße zu waschen.

In Symbolhandlungen ist der Papismus unschlagbar. Keine Religion hat eine derartige TV-Wirkung wie die Krönung des Vaters aller Christen. Im SPIEGEL steht, der Papst ist ein Intellektueller, aber kein Theoretiker. „Er geht in die Favelas, hinaus zu den Menschen.“ Womit wir nun wissen, dass die Menschen immer draußen sind.

Der Neue ist ein vorbildlich sündiger Mensch. Man sagte ihm eine gewisse Nähe zur argentinischen Militärdiktatur nach, er soll zwei Priester denunziert haben. Kleinere Fehler darf auch ein Papst haben. Militärdiktatoren sind übrigens oft sehr fromme Menschen. (Barbara Hans im SPIEGEL)

 

Ob Karl-Heinz Deschner gut beraten war, eine voluminöse Kriminalgeschichte des Christentums zu schreiben – die gerade eben fertig geworden ist? Der Titel klingt, als würde das Christentum permanent gegen seine eigenen Normen verstoßen. Das ist nicht der Fall. Kriminelle Taten im Dienst des Herrn sind fromme Taten. Das Christentum ist mit sich identisch. Es hält den Menschen für schwach, krank und erlösungsbedürftig – und beweist dies täglich.

Der ungläubige Mensch kann keine guten Taten tun, ihm fehlt die rechte Gesinnung. Der gläubige Mensch kann nur gute Taten tun, er besitzt die wahre Gesinnung, die zur Sünde untauglich ist. Was nicht bedeutet, dass er keine schlechten Taten täte. Doch sie werden ihm durch seinen Glauben nicht angerechnet. Wie Bultmann sagt: empirisch ist er ein Sünder, vor Gott ist er gerecht gesprochen.

Die Christenmoral will die Welt nicht verbessern, sie ist unkorrigierbar. Sie will die Spreu vom Weizen trennen. Nicht nach Kriterien des Tuns, sondern des Glaubens. Wer den rechten Glauben hat, besitzt automatisch die rechte Moral.

Die Kirche verwaltet die unverbesserliche Moral und nimmt sie in ihre Obhut, indem sie den Menschen zum irreparablen Sünder erklärt. Die Gesunden bedürfen des Arztes nicht, also darf der Arzt die Kranken nicht heilen, sonst gäbe es nur Gesunde und er wäre überflüssig. Die Krankheiten werden so behandelt, dass sie auf demselben Niveau verharren. Nicht zu krank, sonst wird die Menschheit zu einer Teufelshorde, aber auch nicht zu gesund, dass die Genesenen fröhlich von dannen ziehen. Sündige tapfer – aber glaube.

 

Eines der besten kritischen Bücher über das Christentum ist immer noch „Jesus, Menschensohn“, von Rudolf Augstein. Seine glasklare Intelligenz legt energisch die Widersprüche der Frohen Botschaft frei. Leider bemerkte er nicht, dass die christliche Botschaft das Stadium des Bekennens überschritten und zur Struktur der Moderne geworden ist.

Seine Hoffnung: „Lebensformen, aus denen das Leben längst entwichen ist, müssen zerfallen“, war unrealistisch. Denn die Lebensformen haben das abendländische Dasein in allen Nuancen durchsäuert und geprägt. Ohne christliche Strukturen würde die Moderne in sich zerfallen. Die Moderne ist nicht säkular, sie ist christogen bis auf die Knochen. Was nicht bedeutet, dass alle Phänomene neutestamentlich wären.

Es gibt viele Kompromisse zwischen Religion und Aufklärung. Es sind faule Kompromisse, die uns das Leben schwer machen. Kein Begriff, der beim näheren Hinsehen nicht ein Amalgam aus unvereinbaren Grundsubstanzen wäre. Fortschritt etwa kann rationale Lernfähigkeit der Menschen bedeuten wie das Hingetriebenwerden in die Apokalypse. Das Abendland ist Schauplatz eines elementaren Kampfes zwischen Denken und Offenbaren. Der Kampf ist noch lange nicht entschieden.

Vor dem Krieg war vielen wachen Zeitgenossen klar, welche Schlacht geschlagen wird. Nach dem Krieg entschieden die Befreier der Deutschen, dass Demokratie und Glauben identisch zu sein haben. Gott hat dem amerikanischen Volk die Freiheit geschenkt. Nicht das Volk hat sich die Freiheit erkämpft. Was machen die Amerikaner, wenn Gott es sich noch mal überlegt und sein Geschenk zurückzieht?

Ob Augsteins Alterszynismus damit zusammenhing, dass die Zerlegung des Christentums sein Nervenkostüm mehr zerrüttete als er verkraften konnte? Eine Figur wie der junge Rudolf Augstein ist in den heutigen Medien weit und breit nicht zu sehen. Kaum ein Kommentator, der heute zwei Sätze unfall- und widerspruchsfrei formulieren könnte.

In Augsteins Jesus-Buch stehen gewaltige Sätze – ohne dass der Verfasser die philosophische Tragweite der Sätze erfasst hätte. Sein Buch ist ein Abrissunternehmen. Man spürt die untergründige Trauer, dass der Verfasser Abschied nehmen muss vom Glaubenshelden seiner Jugend. Wer sich vom Glauben verabschiedet, fällt unabweislich dem Nihilismus in die Hände – so klingt die subkutane Melodie von Augsteins Abrechnung mit dem Heiland der Christen. Diese tief greifende Enttäuschung ertrügen nur wenige.

Viele Aufklärer, die für ihre Person illusionslose Glaubenslosigkeit reklamierten, dem Volk aber einen himmlischen Maulkorb verpassen wollten, weil der Pöbel sonst aus dem Ruder liefe. Oben Gedankenhelle und Freiheit, unten Botmäßigkeit und Schafsgehorsam. Augsteins Klarheit und Scharfsicht fanden keine Fortsetzung im deutschen Feuilleton. Kläffer des Heiligen hatten der wiederkehrenden Religion schnell das Feld zurückerobert.

Gestern gab es keinen Sender von Rang, der nicht das Schauspiel der Papstwahl in numinoser Ergriffenheit übertragen hätte. Die Massen stehen auf Abstand, können sich aber vom Tremendum und Fascinosum des Übernatürlichen nicht trennen.

Augstein zitiert den Neutestamentler Günther Bornkamm mit dem Satz, dass das Neue Testament die Idee der guten Tat, die ihren Wert in sich selbst trage, nicht kenne. „Warum nicht? Einfach darum, weil Gott da ist und sein richterliches Amt keinem andern abtritt.“

Würde der Sinn dieses Satzes sich herumsprechen, müsste das Abendland Abschied nehmen von seinen christlichen Grundwerten. Es hat keine Werte – vorausgesetzt, Werte sind um ihrer selber willen da und nicht, um den Himmel zu erobern oder die Hölle zu vermeiden.

Christliche Werte kann es nicht geben, solange ein Gott die Menschen mit ewigen Strafen bedroht und mit ewiger Seligkeit belohnt. Solche Werte sind außengeleitet und manipulieren die Menschen, die sich nicht frei entscheiden können. Ihre Entscheidung wird erpresst und genötigt. Wehe, sie handeln nicht, wie der Herr des Universums es will.

Werte, die nicht um ihrer selber willen eingehalten werden, nennt Kant hypothetische. Kategorische Werte hingegen stehen für sich selbst und sind keine Mittel, etwas anderes zu wollen als ihre eigene Realisierung.

„Alle Imperative nun gebieten entweder hypothetisch oder kategorisch. Jene stellen die praktische Notwendigkeit einer möglichen Handlung als Mittel zu etwas anderem vor. Der kategorische Imperativ würde der sein, der welcher eine Handlung als für sich selbst, ohne eine Beziehung auf einen anderen Zweck, als objektiv-notwendig vorstellte.“ (Kant)

Christliche Werte sind allesamt hypothetische. Sie wollen etwas erreichen, was mit der Realisierung ihrer Werte nichts mehr zu tun hat. Liebe deinen Nächsten wie dich selbst – nicht um des Nächsten willen, sondern um sich mit guten Werken die Seligkeit zu erkaufen. „Wiefern ihr es einem dieser meiner geringsten Brüder getan habt, habt ihr es mir getan. Wiefern ihr es einem dieser Geringsten nicht getan habt, habt ihr es auch mir nicht getan.“

Es genügt nicht, schwachen Menschen zu helfen, um ihnen zu helfen. Es muss sich alles um den Heiligen drehen. Solange es um Himmel und Hölle geht, kann Moral nicht kategorisch oder autonom sein. Sie hat immer den egoistischen Zweck, mit guten Werken die Seligkeit zu erringen. Uneigennützige Werke gibt es im Rahmen einer Seligkeitsreligion nicht. Alles geschieht, um zu …! Wer ein gutes Werk tut, um Gott zu gefallen, kann nicht selbstlos oder uneigennützig sein.

Die Christenreligion ist die moralische Grundlage des Neoliberalismus. Beide tun nichts um ihrer selber willen, sondern um Gewinn zu machen. In der Wirtschaft materiellen Gewinn, in der Religion den Gewinn ewiger Seligkeit.

Die Menschenrechte sind Werte, die um ihrer selber willen eingehalten werden. Sie wollen genau das, was sie formulieren: humane Verhältnisse für jeden Menschen, wozu Glück und Selbstbestimmung gehören. Das Glück kann man nicht moralfrei ansteuern. Wer direkt das Glück erobern will, landet im amoralischen Vergnügen. Glück stellt sich ein, wenn Menschen sich menschlich behandeln. Glück ist die unvermeidbare Folge einer autonomen Moral.

Ist eine kollektive Moralbasis noch nicht hergestellt, kann der Autonome erheblichen äußeren Schaden erleiden, wenn er sich von seinem moralischen Tun nicht abschrecken lässt. Machthaber und Gegner der menschlichen Autonomie schrecken vor nichts zurück. Ohne Giganten der Menschheit, die sich ihnen entgegenstellten, wäre die Einführung einer autonomen Moral nicht möglich gewesen.

„Der Gerechte“, schreibt Platon im Sinne seines Lehrers, „wird gegeißelt, gefoltert, gebunden, mit Feuer geblendet und, wenn er alle Leiden erduldet hat, schließlich gepfählt und gehängt werden.“ Man könnte auch übersetzen: der Gerechte wird ans Kreuz genagelt.

Wir sehen, woher der Messias seine Vorstellungen übernommen – und ins Gegenteil verkehrt hat. Denn der Messias posiert nur den leidenden Gerechten, als Sohn Gottes steht er über Leid und Tod. Sein Märtyrerkampf war ein Schauspiel, ach ein Schauspiel nur.

Die Doketisten (von dokein = scheinen) waren der Meinung, Jesus habe nur scheinbar gelitten, denn er hatte nur zum Schein einen normalen physischen Leib. Die Doketisten wurden von der Kirche schnell zu Ketzern erklärt und in die Hölle verdammt.

Der leidende Gerechte nimmt alle Folgen seines autonomen Tuns auf sich, auch wenn er darunter äußerlich zu leiden hat. Innerlich ist er von der Richtigkeit seines Tuns überzeugt. Es gab stoische Weise, die kühn behaupteten, selbst unter Folter und Qualen wäre der Gerechte glücklich. Das Vorbild aller war Sokrates, der lieber den ungerechten Tod akzeptierte als die Möglichkeit zu ergreifen, aus seiner Vaterstadt zu fliehen, dessen Gesetz er alles zu verdanken hatte.

Wer es fassen kann, fasse es. Wohl dem Land, das solche Märtyrer des Gerechten nicht nötig hat. Doch solche Länder sind nicht vom Himmel gefallen. Wie viele Aufrechte mussten für ihr autonomes Tun Nachteile erleiden, damit die Stimme der Humanität zum allgemeinen Gesetz werden konnte? In westlichen Demokratien werden Aufklärer beschimpft, aber – noch – nicht bedroht. Nicht mehr bedroht. Doch es gab in der Geschichte des Abendlands schon ganz andere Zeiten. Spinoza, Giordano Bruno und Galileo Galilei sind die bekanntesten unter den Märtyrern des freien Denkens.

Wie viele Freigeister werden heute in arabischen Ländern bedroht, die vom Ungeist des Fanatismus terrorisiert werden? Und wer sagt, dass bei uns solche Verfinsterungen unmöglich geworden sind?

Roms Verfallgeschichte ist ein eindringliches Beispiel für die Tatsache, dass Errungenschaften des freien Denkens wieder rückgängig gemacht werden können. Germanischen Vandalen in Kooperation mit christlichen Dunkelmännern wäre es beinahe gelungen, das geistige Erbe der Hellenen von der europäischen Festplatte zu tilgen.

Im Mittelalter gingen für Jahrhunderte die Lichter aus, bis peu à peu das Lernen und Denken sich verbreiten konnte. Hätte die arabische Kultur nicht das griechische Erbe mit Leidenschaft übernommen und über Spanien dem finsteren Europa vermacht, wäre der Papismus heute so mächtig, wie er es bis zum Beginn der Neuzeit gewesen ist.

Wenn eine freie Menschheit an ihrer selbstbestimmten Moral erkennbar ist – woran sollte sie sonst erkennbar sein? –, muss die Menschheit sich von allen projektiven Mächten befreien, die sich erkühnen, ihr eine fremde Moral durch Furcht und Schrecken einzubläuen.

„Der Eine fragt, was kommt danach? Der Andere fragt nur: ist es recht? Und also unterscheidet sich der Freie von dem Knecht.“ (Theodor Storm)

Die Menschheit hat das Stadium der moralischen Knechtschaft noch nicht verlassen.