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Tagesmail

Dienstag, 23. Juli 2013 – Vollkommen werden

Hello, Freunde der Utopie,

grau, mein Freund, ist alle Theorie, selbst des Lebens goldner Baum. Es gibt Bereiche, da gibt es Schwarz und Weiß, Richtig und Falsch. Demokratie? Richtig. Nichtdemokratie? Falsch. Recht? Richtig. Unrecht? Falsch. 1+1=2? Richtig. 1+1=3? Falsch.

Gibt es eine Balance – das Lieblingswort einer in sich ausbalancierten Kanzlerin – zwischen richtig und falsch?

Was wäre die Balance aus 1+1=2 und 1+1=3? 2,5? Die Balance wäre genauso falsch wie der Scherz der Mathematiker: 1+1= knapp 2. Wenn es eindeutiges Richtig und Falsch gibt, ist jede Balance dazwischen ein grauer, ein grausamer Scherz.

Mathematiker haben‘s leicht, in der Regel wissen sie, was richtig und falsch ist. Demokraten haben‘s schwer, das politische Leben ist kein Rechenexempel. Was ist der Unterschied zwischen den Wahrheitsbegriffen der beiden Disziplinen?

Wenn wir Wahrscheinlichkeitsrechnung beiseite lassen – die immerhin den Grad ihrer Ungenauigkeit angeben kann und somit das sokratische Wissen des Nichtwissens erfüllt: sie weiß, dass sie wenig oder nur Ungefähres weiß –, sind mathematische Sätze absolut richtig. Wer sie bezweifelt, muss mathematische Methoden einsetzen, um seine Kritik zu begründen.

Demokratie ist eine moralische Entscheidung und keine Mathematik. Moral muss auch richtig oder falsch sein, sonst müssten wir nicht darüber nachdenken. Doch beweisen lässt sich Moral mit mathematischen Methoden nicht. Aber

vielleicht anders?

Wer alle Menschen als gleichberechtigte Wesen betrachtet, die imstande sind, ihre Angelegenheiten unter sich auszumachen, ohne jemanden auszuschließen, herabzustufen oder mundtot zu machen, der ist auf dem Weg zur Moral, die dem Menschen angemessen ist, ihn auf Erden glücklich machen kann. Übereinstimmung in Mathematik kann bei Anerkennung mathematischer Methoden „erzwungen“ werden. Genau so in der Logik. Nicht so in Moral und in Politik.

Ein Fundament aber wäre schon die Frage, was Moral bezwecken soll? Glück? Oder nur gehorsames Tun, um sich einem Gott zu empfehlen? Hier können Argumente nur schlüssig sein, wenn sie ansprechen, was jeder Mensch im Grunde seiner Seele für richtig hielt – doch durch Erziehungsmaßnahmen und äußere Einflüsse verdrängen musste.

Sokratisches Überzeugen geht von der Wahrheitsfähigkeit aller Menschen aus. Hätte jeder Mensch das Privileg erfahren, seine ursprüngliche Wahrheit entfalten zu können, gäb‘s nur eine einzige Wahrheit auf der Welt: die Wahrheit des ungekränkten Kindes, das als Mensch anerkannt wurde und nun jeden anderen Menschen als Wesen mit gleichen Rechten und Pflichten anerkennen kann. Je glücklicher oder wahrhaftiger ich aufgewachsen bin, je glücklicher meine Moral. Überzeugen wäre überflüssig, denn abweichende Meinungen gäb es nicht.

Jetzt kommt der Einwand des modernen „Pluralismus“, der eine einzige Wahrheit für das untrügliche Zeichen einer totalitären Gesellschaft hält. Niemand kennt Popper, aber sein Slogan von der offenen Gesellschaft kommt an dieser Stelle so sicher wie das Amen im Gebet.

Ganz langsam, ihr Wischiwaschi-Pluralisten. Wäre es ein Zeichen einer allseits offenen Gesellschaft, wenn jedes Mitglied derselben nach Belieben sagen könnte: 1 + 1 sind ad libitum 3, 4, 5? Wer mit solchen Wahrheiten hausieren würde, wäre schnell kein Mitglied mehr in einem mathematischen Klub. Wollte jemand sagen, ein mathematischer Klub wäre eine totalitäre Gesellschaft?

Ab Physik wird’s anders. Wer Einstein widerspricht, muss nicht nur gut rechnen können, sondern seine Rechnungen mit Hilfe eines exakten Experiments nachweisen. Mit einem Experiment, das auch die Chance hat, das erwünschte Ergebnis zu widerlegen (falsifizieren).

Die meisten Experimente in den Geisteswissenschaften sind nicht das Papier wert, auf dem sie veröffentlicht werden. Denn ihre „Experimente“ wissen schon im Vorhinein, dass die prognostizieren Ergebnisse richtig sein werden. Man nehme demoskopische Umfragen von interessierter Seite – der Industrie, der Partei X –, schaue sich nur die einseitigen und suggestiven Einzelfragen an – und man weiß, dass die Deutschen nicht länger den Euro und die faulen Griechen nicht mehr in der EU haben wollen.

Vor diesem Unfug, der uns täglich als Wissenschaft verkauft wird, selbst von Wissenschaftsjournalisten, kann man nur warnen. (Die Sparte des Wissenschaftsjournalismus liegt am Boden: nur künstliche Sensationsgier und leere Schaulust wird von den Propagandisten der Wissenschaft bedient. Pornos sind seriöser als Wissenschaftssendungen im Öffentlich-Rechtlichen, wo die Yanga Rogeshwars sich wie Animateure im Club Mediterannee präsentieren. Sie stehen im Mittelpunkt, Sie sind die Schlauberger vom Dienst, Sie haben alles erfunden oder hätten alles erfinden können. Sie spreizen ihr Gefieder, dass jeder Pfau gelb vor Neid werden muss. Alles unter dem Vorwand, Wissenschaft an sich sei trocken und müsse durch Übersiedlung in delikate Feuchtgebiete bestimmte Testosteron-Zonen reizen.)

Diese Verhunzung der methodischen Neugierde ohne jeden Protest aus dem seriösen Wissenschaftslager lässt erkennen, wie es mit der wissenschaftlichen Offenheit und Kompetenz der Moderne wirklich bestellt ist. Selbst das hohe Mittelalter war szientivischer eingestellt als die zunehmend „creationistische“ Gesamtatmosphäre der Schulen und Universitäten. Die Unis streiten sich nur noch darum, welche Exzellenzpropagandisten die meisten Forschungsgelder oder Drittmittel einstreichen – durch Nachweis industrieller Mehrwertprofite und Anheizen der Konjunktur. Mit Wissenschaft hat das so viel zu tun wie Demokratie mit der NSA. (Alles, was mit NS beginnt: NSA, NSU, NSDAP ist explosiv und barbarisch.)

Wessen kindliches Urvertrauen so nachhaltig gestört ist, dass er die Welt als Ring der Hölle erlebt und daraus folgert: der Mensch ist dem Menschen ein Wolf oder ein erlösungsbedürftiger Sündenkrüppel, der ist für einen logischen und moralischen Diskurs für immer verloren.

(Was nicht heißen muss, dass man es nicht dennoch versuchen soll. Jemanden nur aufgrund eines Vorurteils als diskursunfähig abzustempeln, kann selbst menschenfeindlich sein. Nur bei hartgesottenen Menschen- und Lebensfeinden ist ein Gespräch so gut wie sinnlos.)

Sokratische Überzeugungskunst ist gemeinsames Zurückwandern ins Urvertrauen der Kindheit und Herausfinden, an welcher Stelle das Vertrauen so gestört wurde, dass die Störung theorierfähig wurde. Auf dem Boden des Urvertrauens sind wir alle gleich. Hier muss niemand überzeugt werden. Ist eine Gruppe selbstbewusster Kinder eine unoffene totalitäre Gesellschaft?

Wäre eine Gesellschaft durch eine urvertrauende Wahrheit geeint, könnte sie niemals eine unoffene sein. Im Gegenteil, durch ihr Vertrauen in die Menschheit wäre sie die offenste und freundlichste Gesellschaft der Welt. Man lese nach, wie amerikanische Ureinwohner mit der unbefangensten Offenheit die europäischen Priester und Soldaten empfingen – um am nächsten Tag gepfählt und gehäutet zu werden, wenn sie ihre Goldvorräte nicht verrieten oder sich nicht sofort taufen ließen.

Alle friedlichen Stämme dieser Welt sind offene Gesellschaften – völlig unabhängig von der Existenz mehrerer Wahrheiten. Offenheit hängt nicht ab von künstlich und dogmatisch vorgeschriebenen pluralen Wahrheiten. Totalitär sind nur jene Gruppen, in denen mit Furcht, Schrecken und Gewalt eine einzige seligmachende Wahrheit zur heiligen Verpflichtung gemacht wird. Wie etwa in den ersten Tagen der amerikanischen Einwanderung, als intolerante Puritaner und andere Sektierer sich gegenseitig den Kragen umdrehen wollten – bevor sie die Indianer auf dem Feuer rösteten.

Erst später gingen sie – widerwillig – zur Toleranz über. Ein Grund für diesen Wechsel war das unermesslich Land, das ihnen schlicht und einfach die Möglichkeit nahm, ihre blutsaufende Erlösungsgewalt zu realisieren. Den anderen Grund nennt Sidney E. Mead in seinem Buch „Das Christentum in Nordamerika“:

„Die meisten der wirklich einflussreichen geistigen, gesellschaftlichen und politischen Führer waren Rationalisten. Diese Männer gaben der tatsächlichen, praktischen Situation, die die Glaubensfreiheit erforderte, eine theoretische Deutung; sie verhalfen ihr zu einer konkreten Form und einer rechtlichen Struktur. Damit fanden sich die Kirchen, von denen jede auf ihre eigene Freiheit bedacht war, in der Praxis ab, ohne sich aber geistig damit zu versöhnen: bis heute haben sie keine theoretischen Rechtfertigungen der Glaubensfreiheit entwickelt, die folgerichtig in den von ihnen bekannten theologischen Positionen wurzeln. Sie gewährten Freiheit nicht nach der Art fröhlicher Geber (die der intolerante Gott bestimmt nicht lieb hätte), sondern widerwillig und aus Notwendigkeit. Damals erkannte man, dass sich in dem neuen Land die ursprüngliche Absicht, die Glaubenseinheit mit Gewalt zu bewahren, nicht durchführen ließ.“

Diesen Punkt der Widerwilligkeit und Unverträglichkeit von Glauben und Demokratie wurde vom tief-katholischen Alexis de Tocqueville völlig falsch gesehen, der Religion und Volksherrschaft als selige Einheit deutete, obgleich ihm deren Unverträglichkeit aus Alteuropa völlig bekannt war.

Noch heute grassiert der Verträglichkeits-Wahn in Köpfen deutscher Politologen und Amerikanisten – wie bei Gesine Schwan e tutti quanti – die forschen Geistes irdische Autonomie mit dem Segen des Herrn salben und so die christliche Leit-Kultur zur Leid-Kultur der Anders- und Nichtgläubigen verfälschen und fanatisieren. Wer andere gegen deren Willen leitet, lässt sie an der kurzen oder langen Leine leiden.

Die „erzwungene“ Toleranz der frühen Pilgerväter in den USA – in Zeiten ihres rasanten Wettlaufs zur Spitze der Weltherrschaften aus Erfolgsgründen hingenommen – wird in Zeiten ihrer zunehmenden Unglaubwürdigkeit wie eine alte lästige Haut abgetragen. Gods own Country regrediert in die Anfänge seiner Nationwerdung und wirft allen „neumodischen“ und rationalen Ballast ab, um befreit in die Tore des Goldenen Jerusalem einzuziehen. Amerika schuppt sich und zeigt sein ursprünglich totalitäres Sektierergesicht.

Noch 1612 hatten die Bewohner von Virginia, deren spätere Verfassung noch heute von Deutschen gerühmt wird, „göttliche, moralische und militärische Gesetze“ verabschiedet, die allen die Todesstrafe androhten, die „gottlos oder böswillig von der Dreieinigkeit sprachen oder irgendetwas taten, was zur „Verspottung oder Verachtung von Gottes heiligem Wort“ führen konnte. Sie drohten mit dem Verlust der „täglichen Unterstützung“, mit Auspeitschen, mit einem Pfriem, den man durch die Zunge stieß, mit sechs Monaten in den Galeeren oder anderen Strafen. Wenn man der Geistlichkeit nicht die gebührende Ehrfurcht erwies, den Gottesdienst nicht zweimal am Tag besuchte, durch „öffentliches oder privates Spiel den Sabbath entheiligte oder die religiöse Unterweisung ablehnte.“

Wenn man Guantanamo, die Isolationshaft von Manning und sonstige caritative Liebeserweise der amerikanischen Regierung betrachtet, kann man nicht umhin, der vorbildlichsten Demokratie der Welt einen kompletten Substanzverlust und Rückfall in ihr schlimmstes Mittelalter zu bescheinigen. Amerika decouvriert sich als christlicher Leviathan, der seinen Schäfchenpelz abwirft und sich als Monster präsentiert, dessen pittoresque Ausprägungen man in diversen Hollywoodfilmen bewundern kann.

Es ist bekannt und dennoch unbekannt, in welchem Maß die konkrete Politik der Weltmacht von den Traum- und Alptraumilluminationen der Filmindustrie prädeterminiert wird. Ganz Hollywood ist eine einzige Ästhetisierung biblisch-apokalyptischer Wahnideen. Amerika wird sich erst dann geändert haben, wenn Hollywoods cineastische Kreativitäten den Boden Kanaans verlassen und humane Entwürfe produzieren werden

Man schaue sich nur die TV-Serie Criminal Mind an und erkenne, dass ohne NSA-ähnliche Methoden keine der dort gezeigten Scheußlichkeiten gelöst werden könnten. Im Wirrwarr der Computer scheint es kein Fleckchen der Erde zu geben, das man nicht mit einem Mausklick observieren könnte.

Irgendjemand stellte schon despektierliche Vergleiche zwischen NSA-Amerika und NS-Deutschland an. Ist das nicht abwegig? Nein und Ja.

Nein: Beide Regimes sind christogene Erlösungsregimes, die die Herrschaft der Welt anstreben. Man könnte sagen, beide Systeme sind „Dritte Reiche“ à Joachim di Fiore.

Ja, was die Intelligenz und Effizienz der Methoden anlangt. Während die Deutschen hirnlose Barbareien und Brutalismen bevorzugten, wählen die Amerikaner eine demokratisch aussehende Version der Totalüberwachung, die es nicht nötig hat, ihre Marionetten zu eliminieren. Sondern es versteht, den Schein der Freiheit zu wahren, obgleich das Sein per Drohnen und Fernraketen ganz schnell vom Leben in den Tod wechseln kann. Die sublimste und wirkungsvollste Art der Unterjochung ist die, die von den Unterjochten nicht bemerkt wird.

Warum regt das Thema die Deutschen so wenig auf? Weil sie das erbarmungslose Auge Gottes weder sehen noch spüren. Ihr stumpfes Dasein geht seinen normalen Gang. Keine Aufregung im Käfig, bitte.

Die Vision der absoluten Gängelung in Freiheit stammt ausgerechnet von einem „aufgeklärten“ Franzosen, der seine Kindheit in Genf bei einem calvinistischen Vater verbrachte und mit seinen Büchern ganz Europa in Revolutionsstimmung versetzte: Jean-Jacques Rousseau. In seinem Erziehungsroman schreibt er:

„Laßt euren Zögling immer im Glauben, er sei der Meister, seid es in Wirklichkeit aber selbst. Es gibt keine vollkommenere Unterwerfung als die, der man den Schein der Freiheit zugesteht. So bezwingt man sogar seinen Willen.“

Das Prinzip der Gängelung des Einzelnen durch einen ominösen allgemeinen Willen ist auch die Grundlage des von Rousseau erdachten Gesellschaftsvertrags. Rousseaus bester Schüler bei der Französischen Revolution, Robespierre, war völlig ungeeignet, die totalitären Träume seines Vorbildes in die Praxis umzusetzen. Er bevorzugte die altmodische Kopf-ab-Methode und scheiterte, weil manifeste Gewalt Gegengewalt erzeugt.

Anders könnte es in einem unsichtbaren, unhörbaren und unbemerkbaren NSA-Regime sein. Wer sich nicht direkt betroffen fühlt, fühlt sich vogelfrei, auch wenn er an digitalen Ketten hinge. Die Technik musste erst die Grundlagen bilden, um Rousseaus Gängelung in absoluter Freiheit zu exekutieren.

Insofern sind die Amerikaner, wie ihr Vorbild Rousseau, vorbildliche Genfer Calvinisten. Auch der Gott Calvins prädestiniert seine Geschöpfe durch absolute Gängelung – und niemand bemerkt es, weil NSA-Jahwe im Himmel unsichtbar und unhörbar bleibt. Bis es zu spät ist.

Zum Thema offene Gesellschaft hat Popper viel Widersprüchliches geschrieben. Er war leidenschaftlicher Sokratiker, andererseits Bewunderer des calvinistischen Karl Barth. Das reimt sich nicht. Seine offene Gesellschaft berücksichtigt nicht die friedlichen Urhorden der Völker, die sich als Anhänger der Naturreligionen betrachten. Popper ging vom „sündigen Zustand“ aus, in dem die Wahrheit des Urvertrauens verloren gegangen war und durch Streiten und Lernen mühsam wieder gefunden werden musste.

Zum Streit gehören verschiedene Meinungen, die sich aneinander abarbeiten können. Dennoch gab es auch in Athen die eine und einzige Kollektiv-Wahrheit, dass gleichberechtigte und lernende Menschen nur in einer stabilen Demokratie den Prozess der Wahrheitssuche durchführen können. Bei aller Streitlust, bei allem Widerspruchsgeist: zum Disputieren auf der Agora gab es keine Alternative.

In diesem Sinn ist Demokratie alternativlos und – wer‘s theologisch will – dogmatisch. Feinde der Demokratie – ob christliche, amerikanische, muslimische, deutsche, algorithmische – haben in einer Demokratie nichts zu suchen.

Keine Demokratie ist ideal. Woran erkennen wir, dass sie noch eine Demokratie ist oder bereits, im trügerischen Mantel der Demokratie, zur totalitären Einrichtung geworden ist? Solange sie die Kraft hat, sich ständig zu verbessern und immer humaner und demokratischer zu werden, solange ist Demokratie au fond intakt.

Der Wille zur stetigen Verbesserung aber darf durch Utopie- und Paradiesverbot nicht stranguliert werden. Denn Utopieverbot ist Verbesserungsverbot.

Wenn Merkel der Utopie eine lutherische Absage erteilt, weil die Erfüllung ihres Lebens nur im Himmel stattfinden darf, so hat sie dem Baum die Axt schon an die Wurzel gelegt. Bei ihr steht der weltliche Staat unter einem heiligen Gebot: bleibt auf dem Stand der Sünde und ändert euch nicht in alle Ewigkeit. Die Demokratie darf nicht besser werden.

Durchwursteln, bis der Messias kommt. Das ist ein Faustschlag gegen alle Wahlkampfversprechungen, dass die Verhältnisse besser werden sollen. Wer den Christdemokraten glaubt, glaubt wider allen Augenschein. Wer Utopieverächter wählt, glaubt ihnen, weil es absurd ist.

Im Bereich der Mathematik und Logik gibt es absolute Wahrheiten. Wahr-Unwahr, Falsch-Richtig. In diesem Bereich ist die Welt schwarz-weiß. Grautöne sind falsche Töne.

Im Bereich des komplexen Lebens gibt es vor allem Widersprüche. Denn wir leben in einer Kultur der Widersprüche. Der Widersprüche zwischen Diesseits und Jenseits, Vernunft und Glauben, Demokratie und Theokratie. Wir schließen faule Kompromisse, anstatt klare Entscheidungen zu treffen.

Der Mensch ist kein ausgeklügelt Buch, sondern ein Wesen in seinem christlich-griechischen Widerspruch. Wir sind nicht im Reinen mit uns. Das sollen wir auch nicht sein. Die Gesunden bedürfen des Arztes nicht.

Wenn wir nicht die intoleranteste Religion der Geschichte ans Herz drücken, sie sogar mit allen demokratischen Mitteln bekämpfen, um ihren machtgierigen Einflussbereich aufs Private zu reduzieren, dann sind wir intoleranter als die Auserwählten, die mit Genugtuung auf die Sünder in der Hölle herniederblicken.

Unsre Widersprüche sind dennoch nicht grau, sondern bestehen aus vielen schwarz-weißen Bausteinen, die nur von ferne grau erscheinen. Wann immer wir menschlicher werden wollen, müssen wir unsere auferzwungenen Widersprüche und faulen Kompromisse zur Kenntnis nehmen, erinnern, wiederholen und durcharbeiten. Das Ziel muss sein, mit Bewusstsein jenen Ursprung wieder zu erlangen, den wir einst verloren hatten: das kindliche Urvertrauen in die Menschheit.

Eine dogmatische Grenze menschlicher Perfektibilität kann von keinem Priester oder Menschenhasser verordnet werden. Wie vollkommen kann der Mensch werden? Das hängt allein vom Menschen ab. Weder von einem materiellen Sein, noch von einem eingebildeten Schöpfer oder einer illusionären Heilsgeschichte.

„Unter Vernunftgründen ist der Begriff Vollkommenheit (so leer, so unbrauchbar er auch scheinen mag) noch immer besser als der theologische Begriff, sie von einem göttlichen, allervollkommensten Willen abzuleiten.“ (Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten)