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Tagesmail

Dienstag, 16. Juli 2013 – Gottes eigenes Land

Hello, Freunde Amerikas,

„Das Land, in dem ich damals lebte und blieb, war ein anderes Amerika“, schreibt kein Geringerer als Daniel Ellsberg, der als wichtigster Whistleblower Amerikas gilt. Die „Pentagon-Papers“, die er in der Regierungszeit Nixons veröffentlichte, trugen dazu bei, den Vietnamkrieg zu beenden.

Snowden empfiehlt er, nicht in die USA zurückzukehren. Heute gäbe es keine Chance mehr zu einem fairen Prozess, wie es in den 70er-Jahren noch möglich war. „Ich hoffe, dass Snowdens Enthüllungen eine Bewegung anstoßen, die unsere Demokratie rettet. Er selbst aber hätte nie in den USA bleiben und Teil dieser Bewegung werden können. Würde er in die USA zurückkehren, wären die Chancen gleich null, dass man ihn auf Kaution freilassen würde. Aber selbst wenn er das Land überhaupt nicht verlassen hätte, wäre es unwahrscheinlich, dass man ihm eine Kaution genehmigt hätte. Stattdessen säße er genauso wie Bradley Manning ohne Kontakt zur Außenwelt in einer Gefängniszelle.“

Die Haftbedingungen Mannings, eines anderen „Geheimnisverräters“, seien „grausam, unmenschlich und entwürdigend“. „Diese Aussicht sollte an sich für die meisten Länder schon Grund genug sein, Snowden Asyl zu gewähren. Wenn sie den Schikanen und der Korrumpierung der Vereinigten Staaten standhalten würden.“ (Daniel Ellsberg in der SZ)

„Ich hoffe, er findet einen Zufluchtsort, an dem er vor der Entführung oder Ermordung durch US-Spezialeinsatzkräfte so sicher wie nur möglich ist, nach Möglichkeit ein Ort, an dem er frei sprechen kann. Wenn wir seinen

Enthüllungen und den daraus folgenden Herausforderungen gerecht werden, hat er uns die größte Chance gegeben, dass wir uns vor einer vollkommen außer Kontrolle geratenen Überwachung retten, die alle effektive Macht an die Exekutive und ihre Geheimdienste verschiebt: an eine Vereinigte Stasi von Amerika.“

Stasi? Da wird man hierzulande böse, wenn man eine lupenreine Demokratie mit einem lupenreinen Sozialismus vergleicht. BILD weiß haargenau: alles, was eine gute Demokratie tut, ist gut. Alles, was ein böser Sozialismus tut, ist böse. Auch wenn die Geruchsprobenschnüffler der Stasi, verglichen mit der High-Tech-NSA, eine Holzhackerbrigade waren.

Das Bewertungsmuster der BILD ist reiner Augustinismus. Alles, was Gläubige tun, ist gut – auch wenn es nicht gut ist. Durch Reue und Buße wird es von Gott gut gemacht. Alles, was Heiden tun, ist böse – selbst, wenn es noch so moralisch ist. Heiden können aus der Tiefe ihres bösen Herzens nur Böses emittieren. Ihre Tugenden sind goldene Laster.

Luther, Augustins bedeutendster Schüler, würde dem Protestanten Obama zurufen: Sündige tapfer, oh Großer Bruder – nur glaube. Dann bleibst du der beste Demokrat der Welt. Auch wenn du bereits die größte Digitalokratie der Weltgeschichte eingerichtet hast. Christen erheben den Anspruch, unfehlbar zu handeln – wenn sie nur glauben. Ihre Sünde wird ihnen nicht zugerechnet.

Das erklärt auch Mutter Merkels politisches Durchwursteln. (Nicht zu verwechseln mit Poppers Stückwerktechnologie, die die beste politische Lösung erst versuchsweise erproben und überprüfen muss, bevor sie als Standardverfahren eingeführt werden darf.) Ihr Glaube schütze sie vor Utopien, sagte Angela in Schwäbisch-Gmünd. Hört, hört.

Eine Utopie dient der Verbesserung menschlicher Verhältnisse – wenn sie keine platonische Zwangsbeglückung ist. Merkel verzichtet mit Fleiß darauf, das Los der Menschheit zu humanisieren. Von ihrem himmlischen Vater erhielt sie die Lizenz, Allotria zu treiben oder in ihren Worten: sie darf Fehler machen. Gott verzeiht alles, wenn man bereut. Für eine Lutheranerin ist Politik immer Sache der korrumpierten Welt, etwas Vorläufiges, Irreparables und Sündiges. Das Vollkommene ist Sache des Vaters und wird dem Menschen erst im Jenseits zuteil.

Die irdischen Dinge systematisch zu verbessern, wäre für Angie Blasphemie. Durchwursteln und Improvisieren sind heilige Pflichten für eine gläubige Jüngerin. Durchwursteln ist für sie keine Unfähigkeit, sondern ein gewollter sakraler Akt. Wenn Gott nicht das Haus bewacht, wachen Politiker umsonst. An Gottes Segen ist alles gelegen.

Man könnte auch sagen, Deutschland ist zu heidnisch und verdorben, als dass Merkel eine gradlinige Politik verfolgen könnte. Nicht Merkel ist schuld am sinnlosen Herumdoktern, es ist das von Gott abgefallene Volk, das keine göttliche Logik zulässt. Das Durchwursteln ist von Merkels persönlichem Erlöser selbst eingeführt: Gebet dem Kaiser, was des Kaisers, Gott, was Gottes ist. Doch wem ist der Kaiser? Der Kaiser ist Gottes, aber erst am Ende der Tage.

Auf den ersten Blick klingt die Formel nach friedlicher Koexistenz von weltlicher und geistlicher Macht. Doch wehe, wenn ich an das Ende sehe: noch zu Lebzeiten der Jünger wird der Sohn als Pantokrator wiederkommen. Dann ist‘s aus mit allen weltlichen Kaiserlein und teuflischen Staatsgebilden. Dann ist Schluss mit Durchwursteln zwischen Heiligem und Weltlichem. Dann wird die Welt in unfreundlicher Übernahme vom Himmel eingemeindet. (Unfreundlich nur für die, die in die Hölle kommen.)

Die finale Hymne hat Petrus angestimmt: Man muss Gott mehr gehorchen als den Menschen: eine Doktrin, die für alle christlichen und jüdischen Pseudodemokratien von den USA über Deutschland, Ungarn bis nach Israel gilt. Selbst Finnland ist schon angekränkelt.

Nachdem der christliche Glaube dem Ansturm der Aufklärung nachgeben musste, passte er sich dem modernen Zeitgeist an, setzte sich an die Spitze der Bewegung und zermürbte den Gegner durch erstaunlich retroaktive Kreativität. Alles Wahre, Schöne, Gute, das er jahrhundertelang mit Feuer und Schwert geliebt hatte, war über Nacht auf seinem Misthaufen gewachsen.

Alexis de Tocqueville stellt sich erstaunt die Frage, warum reaktionäre Katholiken auf amerikanischem Boden sich plötzlich in vorbildliche Demokraten verwandeln. Und gibt die Antwort: weil sie arm und machtlos waren. Solange die Jenseitssucher auf Erden machtlose Untertanen sind, gilt Jesu’ Pragmatismusklausel: Im Zweifel still halten und warten, bis bessere Zeiten kommen. Oder auf evangelisch: Gebet der Demokratie, was der Demokratie und der Kirche, was der Kirche ist. Wisset, eines baldigen Tages ändern sich die Zeiten. Da bleibt kein Stein auf dem andern.

Alles nachzulesen in Geschichtsbüchern, als das Christentum an die Macht kam und Staatsreligion wurde. Über Nacht wurden alle heidnischen Tempel und Philosophenschulen geschlossen und geschleift, kostbare antike Schriftrollen für immer vernichtet. So viel zur kulturübermittelnden Funktion der Klöster und Mönche. Bewahrt wurden nur jene Texte, die der kirchlichen Ideologie dienlich schienen: Platon, Aristoteles.

Die christlichen Kirchen, in der NS-Zeit die glühendsten Anhänger ihres novus dux (neuen Führers), waren pünktlich mit dem Glockenschlag der Kapitulation die besten Demokraten der Welt, hatten die soziale Marktwirtschaft erfunden, das Subsidiaritätsprinzip, den Pazifismus, die Entwicklungshilfe. Lange vor Alice Schwarzer war Geißler der beste Feminist der Republik. Das Subsidiaritätsprinzip bedeutet etwas Einfaches: wer sich selber helfen kann, soll dem Staat nicht lästig fallen. Andernorts nennt man dies demokratische Autonomie.

Inzwischen haben sich die Kirchen von ihrer anstrengenden Nachkriegspolitik in Demut und Caritas erholt und zeigen immer öfter den Big Stick im Rücken. Ex-Bischof Huber verbittet sich die Impertinenz des Staates, den nationalen Nachwuchs in Ethik zu erziehen. Die Kirche hingegen bezieht ihre Lizenz zur kindlichen Indoktrinierung von Gott persönlich. Notarielle Beglaubigungen liegen vor.

Ausgerechnet der lupenreine Demokrat Putin erhält zurzeit die unverhoffte Chance, dem Westen Heuchelei vorzuwerfen, weil ein blasser Mann, der es ernst meint mit der Demokratie, von der Superdemokratie wie ein Stück Vieh gejagt wird. Der Sache nach hat Putin Recht, auch wenn er die Affäre für eigene Zwecke ausbeutet. Obama droht anderen Ländern mit Konsequenzen, wenn sie sich seiner Direktive widersetzen. Ganz Europa liegt im Staube und leckt die Schuhsohlen der Silicon-Valley-Genies, die sich der NSA prostituiert haben.

Wir verstehen allmählich die geheime Anziehungskraft der digitalen Zukunftsherrscher auf deutsche Intellektuelle wie Kai Dieckmann und Frank Schirrmacher. An diesem gesegneten Ort wird die Weltherrschaft per Mausklick vorprogrammiert. Da werden deutsche Übermenschambitionen wach – wenn auch nur im konkordanten Standby-Modus. Ein paar Knöpfe bedienen und die Mausklicker wissen alles über dich, du Würstchen, der du dies hier gerade liesest. Nimm Haltung an, lümmel nicht so auf dem Schreibtisch, Gottes dreieiniges Auge ruht auf dir.

Das Amerika der 70er Jahre ist nicht mehr das von heute, wie Daniel Ellsberg sagte? Für Deutsche muss Amerika ewig-vorbildlich sein. In Broders Idylle darf‘s nur Bewunderung geben, sonst kommt er mit dem Antiamerikanismus-Prügel. Er handelt wie Jesus: wer nicht für mich ist, ist gegen mich. Den Begriff Kritik hat er aus seinem Wörterbuch getilgt.

Dass einem das Herz bluten kann, wenn Vorbilder sich ins Gegenteil verkehren, Freunde ins eigene Unglück rennen, scheint ihm unbekannt. Sein Weltbild ist von schlichter Übersichtlichkeit: was ihm nicht passt, ist entweder Antiamerikanismus, Antisemitismus oder sekundärer Antisemitismus – wenn ihm linke Antikapitalisten auf den Senkel gehen. Israelkritische Juden sind bei ihm immer Selbsthasser; wie er amerikakritische Amerikaner nennt, hat er noch nicht verraten. Wie wär‘s mit kaugummikauenden Angebern und Wichtigtuern?

In welchem Maß die NSA unser armes Vaterland bereits im Griff hat, beweist die Geschichte von Daniel Bangert, der auf Facebook spaßeshalber zu einem Spaziergang lud, um NSA-Spione aus der Nähe zu sehen. Schwupps stand die deutsche Polizei zweimal vor der Tür. Geht’s noch absurder? Ob er Beziehungen zum schwarzen Block habe? Den Spaziergang solle er als Demonstration anmelden, damit Polizeiautos die verdächtigen Flaneure unter Kontrolle halten könnten. (Judith Horchert im SPIEGEL)

Vorsicht, liebe Freundinnen und Freunde, vor der Benutzung staatsverräterischer Begriffe wie „U-Bahn“, „krank“, „elektrisch“, „Schwein“, „Schnee“, „Blitz“, „Heilung“, „Grenze“, „Welle“, „Wolke“, „Symptome“, „Grippe“, „Antwort“, „Telekommunikation“, „Rotes Kreuz“, die Nennung Mexikos, der Stadt Tuscon in Arizona.“ Wer diese harmlos aussehenden, aber hochbrisanten Begriffe verwendet – und die Polizei steht in zehn Minuten vor der Tür: wir haben euch gewarnt. (Bernd Graff in der SZ)

Verdächtiger ist noch mehr, wer diese Begriffe nicht verwendet. Der hat vor dem dreieinigen Auge gewiss was zu verbergen.

Nur am Rande: wo sind eigentlich die Antiverschwörungstheoretiker abgeblieben? Schon lange nicht mehr den Vorwurf gehört: Verschwörung, Verschwörung.

Wer vor kurzem gesagt hätte: der Große Vetter hat jeden Erdenbürger & Erdenbürgerin im Visier und die Welt in einen riesigen Heuhaufen verwandelt, aus dem sie Blitz, Schnee und Schwein herausfiltern, der wäre verlacht worden. Heute genügt ein angekündigter Spaziergang in Griesheim und du hast den Staatsschutz vor der Tür.

Wer vor kurzem gesagt hätte: die Wallstreet hat die Welt in eine Finanzkrise gestürzt und westliche Politiker zu Statisten verurteilt, der hätte als unrettbar gegolten.

Wer gesagt hätte, ein Ellsberg-Nachfolger muss nach Moskau fliehen, um sich amerikanischen Häschern zu entziehen, fremde Nationen werden von Washington bedroht, weil sie einem ehrlichen Mann Zuflucht bieten, der wäre in der Psychiatrie gelandet.

Inzwischen wissen wir, die Welt ist alles, was eine Verschwörung ist. Verschwörungen sind nichts als geheime Spielchen der Mächtigen. Seit wann verraten die Mächtigen den Ohnmächtigen, mit welchen Methoden sie die Menschheit übern Tisch ziehen? Antiverschwörungstheoretiker sind selbst Verschwörer. Sie wollen nicht, dass der Pöbel den Machenschaften der Durchstecher-Eliten auf die Schliche kommt. Alles soll rein und edel vor den Kulissen ablaufen. Es ist eine raffinierte Modernisierung des paulinischen Aufrufs: Seid untertan den Eliten. Es gibt keine Eliten, die nicht von Gott wären.

Es ist an der Zeit, über Amerika nachzudenken. Der Riesenkontinent hat noch immer die schärfsten Kritiker seines Landes. Wer kennt hierzulande den scharfsichtigen Noam Chomsky? Wer kennt die NSA-kritischen Bürgerrechtsbewegungen? Wer kennt die amerikanischen Schriftsteller, die ihr nationales System für gnadenlos halten? Wer kennt die vielen ökologischen Basisgruppen? Es gibt drüben geistige Inseln der Demokratie, denen wir nichts Vergleichbares entgegen zu setzen haben. Wer kennt das amerikanische Religionssystem? Wer die amerikanische Philosophie? Amerika beschränkt sich nicht auf das fanatische Silicon Valley, dessen Gefährlichkeit man erst jetzt zu ahnen beginnt.

Die lange Expansionsbewegung der USA auf der unendlichen Linie nach Westen ist vorbei. Geographisch schon seit 1900. Wirtschaftlich und militärisch seit dem Aufkommen der „Schwellenländer“, besonders von China, Indien, Brasilien.

Europa hat sich zum Blinddarmfortsatz der Wallstreet zurückentwickelt und spielt keinen kritischen Sparringspartner mehr für das gigantische Land. In schmählicher Weise duckt es sich weg und überlässt die Prägung der Zukunft dem Großen Bruder.

Unter Obama beginnt Amerika sich mit seiner militärischen Hardware zurückzuziehen – ohne jedoch den Anspruch auf Weltherrschaft aufzugeben. Wie geht das? Durch weltweite Überwachung der Welt, gepaart mit ferngelenkten, überall auf der Welt einsetzbaren Drohnen.

Die Globalisierung war kein Mittel, eine friedliche Menschheit auf gleicher Augenhöhe zu erarbeiten. Sie sollte die Vormacht der WASP – der White Anglo-Saxon Protestants – auf dem Planeten mit friedlich scheinenden Mittel zementieren und ausbauen.

China steht vor den Toren und will den Thron besteigen. Amerika rüstet zum Endkampf. Hat Amerika echte Freunde oder nur berechnende duckmäusige Partner?

Die engen Beziehungen zu Israel sind eine religiöse Folie a deux. Die Bewohner Neukanaans verachten das alte, ewig zerstrittene Europa. Vielmehr, sie interessieren sich überhaupt nicht für die Welt. Außenpolitik ist die Sache Washingtons. Auf den Gazetten rangiert sie auf den letzten Seiten. Herren des Universums bleiben gern unter sich. Es droht eine neue splendid isolation – bei gleichzeitiger Fernlenkung des Planeten in gigantischem Ausmaß.

„Unsere wahre Politik besteht darin, mit keiner einzigen fremden Nation ein Bündnis einzugehen. Die Nation, die sich den gewohnten Gefühlen von Liebe und Hass gegen eine andere ergibt, wird gewissermaßen Sklave. Sie ist Sklave ihres Hasses und ihrer Liebe“. (George Washington)

Der neue Kontinent ist auf bestem Weg, zum Sklaven seiner Allmacht und Auserwähltheit zu werden.