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Dienstag, 11. Juni 2013 – Verschwörungstheorie

Hello, Freunde der Verschwörungstheorien,

die beste Verschwörungstheorie ist die, dass es keine Verschwörungen gibt, worunter wir den Willen zur Macht verstehen wollen. Man kann offen zur Macht kommen wollen, dann braucht man keine Verschwörung. In einer Demokratie kann man sich wählen lassen. Legale Methoden zur Machtgewinnung benötigen keine Verschwörungen.

Wer sich illegaler und verborgener Mechanismen bedient, muss leugnen, dass er Macht hat oder erringen will. Das Leugnen seines Machtwillens ist bereits eine Verschwörung. Je intransparenter die Machterringungsmethoden, je mehr Leugnungs- und Vertuschungslegenden werden benötigt.

Hätte Nietzsche Recht, dass jeder Mensch vom Willen zur Macht beseelt ist, wäre jede Leugnung seiner These eine Verschwörung, die einen falschen Schein erzeugte, um die Wahrheit zu vertuschen. Verschwörung begänne im Reich der Gedanken. Jede Lüge, jedes absichtliche Leugnen der Wahrheit wäre Verschwörung.

Vor einiger Zeit wäre die Behauptung, der amerikanische Geheimdienst schöpfe die ganze Welt ab, als Orwell‘sche Verschwörungstheorie niedergemacht worden. „Es gibt ein paar Menschen, die tingeln seit Jahren durch Deutschland und werden häufig für Spinner gehalten. In Vorträgen berichten sie über nahezu Unvorstellbares: dass US-amerikanische Geheimdienste die Inhalte sämtlicher Telefonate weltweit mitschneiden und archivieren. Und dass diese Behörden alle Mails sammeln und speichern, die sie irgendwie weltweit abfangen können. Verschwörungstheorie, heißt es dann oft.“ (Martin Kaul in der TAZ)

Wenn eine Verschwörungstheorie sich als richtig herausstellt, war sie eine wahre Theorie. Wer sie verleugnet hatte, stellt sich als Dummkopf, Lügner – oder

Verschwörer heraus, der den Vorwurf der Verschwörungstheorie nutzt, um seine eigene Verschwörung zu verheimlichen. Tatsächliche Verschwörungen müssen durch den Gegenvorwurf immunisiert werden: schaut, welch abenteuerliche Verschwörungstheorien.

„Das Ausmaß der Spitzelei, wie es mit dem jetzt bekannt gewordenen US-Überwachungsskandal offenbar wird, wirkt, als entstamme es selbst einer solchen, schlechten Verschwörungstheorie. Das Problem ist nur: Es ist keine Theorie, es ist tatsächlich eine Verschwörung.“

Bislang wurden alle Menschen als Verschwörungstheoretiker traktiert, die hinter sichtbaren Machballungen einen gezielten Willen vermuteten. Einen bewussten Willen, der alles Erdenkliche unternimmt, um ans Ziel der Macht zu kommen. Gibt es einen unbewussten Willen, wonach ein Mensch etwas will, ohne es zu wissen?

Alle Idealisten stehen in Gefahr, sich über ihre wahren Beweggründe zu täuschen. Sie wollen Macht, reden sich aber ein, nur moralische Ideale zu verfolgen. Attacken gegen Gutmenschen beruhen auf dem Eindruck, dass die Blauäugigen ihre guten Zwecke nur zur Tarnung ihres verdrängten Machtwillens in Szene setzen. Kritiker der 68er Revoltierer unterstellten, die Weltverbesserer wollten durch ihre Aktionen nur an die Macht. Wer bewusst Gutes vortäuscht, um Verwerfliches, Verbotenes oder Amoralisches zu tun, gilt als Machiavellist.

Nach Hannah Arendt war Machiavelli ein Täuschungskünstler, der sich nicht zeigte, wie er war, sondern einen Schein verbreitete, um sein wahres Sein zu verbergen. Mehr Schein als Sein, lautete das Grundprinzip des Machiavellismus, der ohne moralische Grundsätze an die Macht kommen oder sie bewahren wollte. Das altpreußische Gegenstück lautete: mehr Sein als Schein. Womit bewiesen, dass in Preußen weder Verschwörungen noch Verschwörungstheorien möglich waren.

„Nach Arendt vertrat Machiavelli eine klare Trennung zwischen Kirche und Staat. Ihr Fazit in ihrem Werk „Über die Revolution“ lautet: „Erscheine, wie du sein möchtest, und meinte damit: Wie du in Wahrheit bist, hat für diese Welt und ihre Politik keine Bedeutung; sie besteht ohnehin nur aus Erscheinung, und das wahre Sein spielt in ihr keine Rolle …“ Arendts Zitat klingt, als ob Schein dem Staat und Sein der Kirche vorbehalten wäre. (Arendt hätte besser von Schein statt von Erscheinung reden müssen. Schein ist Trug, Erscheinung ist eine bestimmte Form des Seins.)

Auf der Eucharistiefeier der katholischen Kirche am Sonntag – bei der alle Kardinäle in voller Berufsmontur in der ersten Reihe saßen und Zollitsch auf erhöhtem Podest wie ein kleiner deutscher Papst – predigte Kardinal Meisner, die Kirche sei kein Verein zur Durchsetzung kirchlicher Interessen in der Welt, sondern Bein vom Bein und Fleisch vom Fleisch des Herrn. Die Gläubigen seien mit dem Herrn identisch.

Wer mit dem Herrn der Heerscharen identisch ist, hat Teil an der Macht des Herrn, der über Himmel und Erde regiert. Somit auch über die irdische Politik. Für Meisner wäre es eine Verschwörungstheorie, wenn man seinem frommen Klub weltliche Machtinteressen unterstellte – die er jedoch mit seiner Eucharistieformel bestätigt.

Das Dementieren eines verschwörungstheoretischen Vorwurfs ist selber eine Verschwörungstheorie. Den Glauben an einen allmächtigen Schöpfer der Welt als universelle Verschwörung zu betrachten, gilt unter Frommen als Blasphemie. Dabei beten sie – oder sollten beten –: Herr, komm, ach komme bald. Wenn der Herr wiederkommt, wird Endgericht über die Welt gehalten. Die wahren Gläubigen werden zur Rechten des Sohnes sitzen, zu richten die Lebendigen und die Toten. Sie reden von Glauben, meinen aber Macht im Diesseits und im Jenseits.

Jede religionskritische Theorie, die den Glauben als heimlichen Willen zur Macht, nein, zur Allmacht, entlarvte, wäre für Gläubige eine satanische Verschwörungstheorie. Wäre sie aber vom Buchstaben des Evangeliums gedeckt, wäre die Verschwörung auf Seiten der Gläubigen, die ihre wahren Ziele verbergen, um den Schein der Demut und Schwäche aufrecht zu erhalten.

Sie wollen nicht dem griechischen Motto folgen: Immer der Erste zu sein und voranzustreben den Andern, sondern die Welt der Starken auf den Kopf stellen. Stellt man die Welt mechanisch auf den Kopf, bleibt sie sich gleich – nur die Köpfe werden ausgetauscht. Die Letzten werden die Ersten sein. Das Darwin‘sche Prinzip des Herrschens der Starken hat sich mitnichten geändert. Nur die Strategie ist um eine Schleife unerkennbarer geworden: Gott ist in den Schwachen mächtig. Wer der Erste unter euch sein will, sei euer aller Knecht.

(Nur nebenbei: Darwin hatte vollkommen Unrecht. Nicht die Stärksten werden überleben, sondern die Schwächsten. Kommen Menschen- oder Naturkatastrophen über die Erde, werden Ratten, Wanzen und Einzeller alles überleben. Die überdimensionierten Dinos und ihre Nachfahren, die Menschen, werden über die Klippe springen. Survival of the weakest. Schon immer hatten die Starken Angst, dass die Schwachen sich verbünden, um sie unterzukriegen.)

Religion ist eine Verschwörung zur Erringung der Weltherrschaft, die als harmloser Glaube auftritt, damit man ihr nicht in die Quere komme.

Eine sinnvolle Religionskritik ist nicht an der Destruktion absurder Glaubenssysteme interessiert – solange sie privat bleiben und die Welt nicht weiter belästigen –, sondern an der Destruktion des Willens zur Allmacht, der sich des Glaubens als harmloses Mäntelchen bedient. Wer auch immer und zu welchem Zweck auch immer die Protokolle der Weisen von Zion gefälscht hat: die Christen warfen den Juden vor, was auf sie selbst zurückfallen muss.

Alle Erlösungsreligionen benutzen die Fabeln von einem Schöpfer der Welt, einer Heilsgeschichte als Machtgeschichte, eines apokalyptischen Finales, um sich als Erben der Allmacht die Welt unter den Nagel zu reißen. Der Verschwörungscharakter besteht darin, diese Verschwörung-per-Glauben zu verleugnen. Solange der Glauben dazu dient, den Willen zur Allmacht zu befördern, ohne sich als Machtwille zu erkennen zu geben, solange stellen sich die Frommen als einfältige Marionetten dem Allmachtswillen ihrer Priester, Rabbiner und Imame zur Verfügung.

Verschwören heißt Lügen, heißt Leugnen, was man wirklich will. Der Teufel ist der Vater der Lüge, demnach der oberste Verschwörungstheoretiker – aus der Perspektive seines göttlichen Widersachers. Der wiederum – aus dem Blickwinkel des Teufels – der größte Lügner ist.

Der symmetrische Lügenvorwurf entspricht Luthers Definition, dass Gott und Teufel identisch sind. „Ihr stammt vom Teufel als eurem Vater und wollt die Gelüste eures Vaters tun. Der war von Anfang an ein Menschenmörder und stand nicht in der Wahrheit, denn Wahrheit ist nicht in ihm. Wenn er die Lüge redet, so redet er aus seinem Eigenen, denn er ist ein Lügner und ist der Vater derselben. Weil aber ich die Wahrheit rede, glaubt ihr mir nicht.“

Vor Gott sind alle Menschen gleich? Das Gegenteil ist richtig. Die einen werden als Kinder des Teufels, die andern als Kinder Gottes geboren. Die Satansbraten können die Wahrheit des Gottessohnes nicht verstehen, sie verstehen nur die Lügensprache ihres teuflischen Vaters. Kinder Gottes verstehen nur Göttliches, weil sie Kinder Gottes sind; Kinder des Teufels verstehen nur Teuflisches und keinen Funken Göttliches.

Viele Deutsche haben Angst, als Teufel zu gelten, wenn sie Teuflisches verstehen. Dem Bösen darf man kein Verständnis zeigen, sonst wird man vom Bösen angesteckt.

Es gibt zwei Sorten von Menschen, die nur äußerlich etwas gemein haben. Näher besehen sind sie voneinander geschieden wie Tag und Nacht: die Teufelskinder und die Gotteskinder. Der Teufel hält alles Göttliche für Verschwörung, der Gott alles Teuflische. Gemeinsamkeiten: keine, außer dem Hass auf das absolute Gegenteil.

Vor kurzem hielten Antisemitismus-Experten jeden, der an Verschwörungen glaubte, für einen primären oder sekundären Antisemiten. Als ob der Wille zur Macht sich transparent auf dem Marktplatz zutrüge und nicht hinter den Kulissen.

Adam Smith wollte den Kapitalisten verbieten, bei gemeinsamen Geselligkeiten sich über Geschäfte zu unterhalten. Der faire Wettbewerb der Kapitalisten sei durch solche „Verschwörungen“ verzerrt. Das war so naiv wie die Annahme, dass Geschäfte ohne private Beziehungen möglich wären. Verschwörungen sind in kapitalistischen Ländern so alltäglich wie Ein- und Ausatmen, denn in keiner Gesellschaft bleibt jeder zu jedem in gleicher Distanz. Die Klassen – und Gesellschaftsschichten sind der sichtbarste Beweis für systematisch hergestellte Nähe und Ferne.

Wenn Warren Buffett von einem Krieg zwischen Reichen und Armen spricht, der von den Reichen gewonnen werden wird, meint er die überzufällige Nähe der Reichen zueinander und die erwünschte Entfernung von den Schwachen.

Natürlich halten Schwache das Verklumpen der Reichen für Verschwörung: jede starke Hand wäscht die andere. Hinter den Kulissen ereignen sich die wahren Geschäftsbeziehungen. Man kann es kaum glauben, dass dieser Faktor geleugnet oder als paranoides Syndrom gedeutet werden kann. Die Reichen unterstützen die Reichen, den Schwachen fehlen alle Voraussetzungen zum Kungeln oder zum öffentlichen und nichtöffentlichen Vernetzen.

Schaut man sich die vielen Skandale der letzten Jahrzehnte an, muss man fragen, was am neoliberalen Wirtschaften nicht auf klammheimlichen Beziehungen, Durchstechereien, kriminellen Akten oder verstecktem Übervorteilen beruht.

Zum verschwörerischen Tun gehören auch die vielen „wissenschaftlichen“ Bemühungen“, das unfaire Treiben mit objektiven Thesen und Untersuchungen zu legitimieren. Faires Geschäft aufgrund fairer Voraussetzungen muss als Ausnahme von der Regel gelten.

Als Hauptargument gegen Verschwörungstheoretiker gilt der Satz, die letzteren könnten ihre Vermutungen nicht beweisen. Das wäre ein Wunder, wenn gewiefte Verschwörer sich beim Fädenziehen hinter den Kulissen ertappen ließen.

Verschwörungstheorien sind Hypothesen, die schwer nachweisbar sind, weil das Machtgefüge hierarchischer Gesellschaften immer intransparenter wird. Über logische Vermutungen kommt man selten hinaus. Das Geschäftsgebaren der Eliten verwächst immer mehr mit ihren persönlichen Beziehungen. Ins Innere der Absprachen einzudringen, erforderte das Eindringen ins gesellschaftlich-intime Leben der oberen Zehntausend.

Doch was nicht bestätigt werden kann, muss noch lange nicht falsch sein. Die Gegner der Verschwörungstheorien bleiben den Beweis ebenfalls schuldig, dass allzu viele Zufälle – reine Zufälle sind. Oft kann man nur sagen: Es muss keine Verschwörung sein, doch es wäre ein Wunder, wenn es keine wäre. Die Ermordung Kennedys enthält allzu viele Ungereimtheiten, um sich mit amtlichen Erklärungen zufrieden zu geben.

Es entspricht einer allzu menschlichen und sinnvollen Fähigkeit, Ungereimtheiten als solche zu erkennen und den Versuch zu unternehmen, sich selbst einen Reim zu machen. Dies abzutun mit der üblichen Formel, hier wolle jemand die Komplexität reduzieren, übersieht, dass alles Erkennen eine Reduktion der Komplexität ist. Paradox müsste man sagen, das Festhalten an Komplexität ist ebenfalls eine Reduktion der Komplexität. Religionen sind allesamt Reduktionen der Komplexität in seligmachende Simplizität.

Der Reim muss nicht richtig sein, allein die apriorische Borniertheit, jeden Versuch des Erkennens der Welt als neurotische Verschwörungstheorie zu bezeichnen, ist noch neurotischer und ideologieverdächtiger. Inzwischen haben sich so viele Verschwörungstheorien, die man noch vor kurzem als „Metaphysik der Dummen“ abqualifizierte, als wahr erwiesen, dass man die Allesgläubigen als blinde Untertanen eines gottgegebenen Machtsystems bezeichnen muss.

Die Deutschen folgen noch immer der lutherischen Devise: wem Gott ein Amt gibt, dem gibt er auch Verstand und Gradlinigkeit. Oder im Gegenteil: alle Mächtigen sind ausnahmslos Lumpen und Schurken. Es gibt a) den Alphafehler allzu großer Gutgläubigkeit in die Verhältnisse der Welt und b) den Betafehler des übergroßen Misstrauens.

Geht man davon aus, dass Eliten keine Eliten geworden wären, wenn sie nur lautere Geschäfte betrieben hätten, wäre gegen obere Etagen größeres Misstrauen angesagt als gegen die unteren, die weder Macht besitzen noch raffinierte Methoden entwickeln können, sie zu verteidigen. Auch wenn Eliten dieses Urteil als Vorurteil bezeichnen sollten – deshalb muss es noch lange nicht falsch sein. Hier stehen sich Vorurteil der Oberen und der Unteren geradezu unversöhnlich gegenüber.

Wenn Popper sich dagegen wehrt, gesellschaftliche Abläufe als „Ergebnis eines Planes mächtiger Individuen oder Gruppen“ zu betrachten, hat er nur die Hälfte der Wahrheit zugelassen. Richtig ist, dass mächtige Männer oder Gruppen nur dann ihre Ziele erreichen, wenn sie von weiteren Gesellschaftskreisen ideologisch gestützt werden .

Der Nationalsozialismus wäre ohne Unterstützung christlicher Kirchen nie an die Macht gekommen. Oder der chauvinistischen Überzeugung der Deutschen, das auserwählte Volk zu sein. Letztendlich entscheiden Gedanken, Ideen und Glaubenssysteme, die aber nicht im abstrakten Raum realisiert werden können, sondern nur mit Hilfe mächtiger Gruppen, einflussreicher Familien und ideologischer Institutionen.

Ohne den Wagner-Clan wäre Hitler nie Führer geworden. Ohne die Nähe zu christlichen Dogmen, übersetzt ins Mythische und Germanische, wäre der Wagner-Clan in Deutschland nie erfolgreich geworden Und so fort bis zur Analyse der wichtigsten Grundelemente unserer Kultur.

Verschwörungen beruhen im Ursprung auf Glaubensüberzeugungen, die anfänglich reine spirituelle Ereignisse sein können, doch im Verlauf der Ereignisse sich in bestimmten Klassen konzentrieren, bis sie sich als Handlungen bestimmter Schichten konkretisieren. Der christliche Glaube würde keine Macht über die Geschichte der Neuzeit erworben haben, wenn er nicht viele Herzen und Köpfe erobert hätte.

Wenn viele Menschen dasselbe Weltbild teilen, bedarf es keiner Absprachen im Hintergrund, um eine Gesellschaft konkret zu beinflussen. Das allgemeine Klima in der Bevölkerung kann ausreichen, um eine kleine und unscheinbare Initialzündung in ein kolossales Ereignis zu verwandeln. (Siehe die momentanen Aufstände in Istanbul wegen eines unscheinbaren kleinen Parks.) Wenn ein bestimmter Geist in der Luft liegt, muss im Hintergrund nicht mühsam aufgewiegelt werden.

Verschwörungstheorien sind so lange nicht wahr, solange sie im strengsten wissenschaftlichen Sinn nicht verifiziert wurden. Der Umkehrschluss muss genauso gelten: solange eine Verschwörung nicht verifiziert ist, ist sie auch nicht falsifiziert. Das nicht bewiesene Wahre kann durchaus wahr-scheinlich sein. Wenn Verifizieren und Falsifizieren fehlschlagen, muss die Frage offen bleiben. Alle Dinge sind möglich, solange ihre Unmöglichkeit nicht erwiesen ist und jene im Bereich menschlicher Möglichkeiten liegen. Alle Dinge sind ausgeschlossen, wenn sie den Gesetzen der Natur und der Logik widersprechen.

Wer hätte vor kurzem für möglich gehalten, dass CIA-Flugzeuge deutsches Territorium überqueren, um Menschen als Folteropfer in geheime europäische Gefängnisse zu bringen? Wer hätte Obama zugetraut, die Rechte der Menschheit auf Schutz ihrer privaten Daten im universellen Maße zu verletzen? Wer hätte demselben Präsidenten – der seine Laufbahn als edler Ritter des Rechts begann – zugetraut, mit Hilfe ferngelenkter Drohnen Menschen ohne Anklage und Verteidigungsmöglichkeit zu liquidieren? „Ungeheuer ist viel, doch nichts ungeheurer als der Mensch“. (Sophokles)

Politische Kontrolle beruht auf einem methodisch angelegten Misstrauen gegenüber grenzenlosem Machtmissbrauch der Mächtigen, das sich gleichwohl ständig korrigieren lässt durch die Erfahrung immer wieder überraschender Menschlichkeit der Menschen. Der wohlmeinendste Menschenfreund darf niemanden durch blinde Gutgläubigkeit überfordern. Jeder Mensch hat es verdient, dass seine Schwächen wahrgenommen werden, um sich selbst sehen zu lernen. Kritisches Wahrnehmen ist demokratische Solidarität.

Wer Verschwörungen von vorneherein ausschließt, ist ein gutgläubiger Tropf, dem man nach Belieben ein X für ein U vormachen kann – oder ein hinterlistiger Verschwörer, dessen Macht nicht entlarvt werden soll. Wer Verschwörungen für das einzige Instrument der Weltpolitik hält, leidet unter Verfolgungswahn.

In gleichem Abstand zu blinder Gutgläubigkeit wie zu krankhaftem Misstrauen tastet sich der gesunde Menschenverstand in Irrungen und Wirrungen durchs Weltengetriebe.