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Dienstag, 09. Juli 2013 – Religion und Erlöserreligion

Hello, Freunde der Religionen,

wer von Religion spricht, wenn er über Religionen sprechen will, sollte über Religion schweigen. Es gibt keine Gattung Religion. Es gibt Religionen, die so unterschiedlich sind wie Faschismus und Demokratie.

Religion wird zumeist mit Rückbindung übersetzt. Wer sich vorwärts oder rückwärts bindet, ist auch gebunden. Wer sich an einen Gott bindet, der sich seiner Urteilsbildung entzieht, hat sich in die Gefangenschaft dieses Gottes begeben. Da dieser Gott die Projektion des Menschen ist, hat dieser sich in seine eigene Gefangenschaft begeben. Er missbraucht einen Gott, seine eigene Erfindung, um sich mit Hilfe einer Bindung – von sich selbst zu befreien.

Diesen verzwickten Vorgang nennen Theologen Erlösung. Doch sie entlarven den Vorgang nicht als das, was er ist: eine menschliche Tat, die sich selbst nicht versteht. Freiheit in Bindung, das war lange die Lieblingsfloskel christlicher Demokraten, die der neu gewonnenen Freiheit misstrauten und lieber gebunden als frei sein wollten.

Götter sind nützliche und unschuldige Wesen. Wer sie erfindet und an die Wand projiziert, sieht seine eigene Person in erkenntnisfördernder Vergrößerung. Willst du wissen, wer du bist, erfinde deinen Gott, erforsche ihn und du wirst dir auf die Spur kommen. Gott ist nicht das ganz Andere, sondern das bist du. Sollte er für dich das ganz Andere sein, bist du dir selbst ein Anderer. Willst du deinen Gott nicht erkennen, indem du Ihn zu einem Unbekannten und Fremden machst, willst du dich selbst nicht erkennen und verhüllst dich als Fremder vor dir selbst.

Die Psychoanalyse kennt nur die unbewusste neurotische Projektion. Deine

hassenswerten Seiten, die du nicht wahrhaben willst, wirfst du auf andere, um sie an dir nicht zu hassen. Projektiv suchst du dir einen Sündenbock für dein „Böses“.

Frauen sind für christliche Männer das Böse, weil sie Lust versprechen, Lust aber für jene das Böse ist, weil sie Angst haben vor der Lust, die sie nur erleben können, wenn sie ihrer Selbstkontrolle entsagen und sich der zärtlichen Zuwendung der Frau überlassen. Freiheitsfreunde sind für Gläubige das Böse, weil Freiheit für „Zurückgebundene“ das Böse ist.

Bislang sind Götter für Menschen Sündenböcke oder Ersatzhelden gewesen, man darf auch von Erlösern sprechen. Wird der Mensch mit seinen eigenen Machenschaften nicht fertig, sucht er sich stellvertretende Schuldige – Götter und Teufel – oder stellvertretende Retter: Erlöser und jesuanische Göttersöhne.

Anstatt die Götter als nützliche Idioten und künstliche Gebilde zu betrachten, in denen ich meine eigenen Wünsche und Verfluchungen erkenne, lass ich es zu, dass die virtuellen Gebilde in die Realität überwechseln, als seien sie selbst real. Es ist dasselbe Phänomen, wie wenn jugendliche Konsolenspieler die Scharmützel auf ihrem Bildschirm auf ihre Umwelt übertragen und ihre Lehrer und Mitschüler mit realen Feuerwaffen niedermähen.

Wenn Virtualität zur Realität mutieren kann, erhalten wir Terrorismus und Herrschaft der Priester. Wenn Phantasie eins zu eins in Wirklichkeit übersetzt wird, verwandeln wir Projektionen in psychisch-materielle Gebilde und erhalten messianische und teuflische Scharlatane. Wenn die Materialisierung unserer Einbildungskraft Macht über uns gewinnen darf, sind wir nicht mehr Herren, sondern Knechte unserer Phantasie. Unsere Phantasie hat Macht über uns gewonnen.

Das trifft bei allen Monotheismen zu, die die Lösung unserer Probleme durch übermenschliche Kräfte in Aussicht stellen. Der Wunsch des Menschen, auch seine Abneigung und Furcht, sind zu Vätern des Gedankens geworden, der den realen Menschen im Würgegriff hat.

Es gibt zweierlei Arten von Religionen. Die einen sind harmlos, weil sie die Welt in mythischen Gestalten betrachten, die die Natur nur beschreiben. Die nur die Natur beschreiben. Auch ohne mythische Gestalten gäbe es die Natur. Natürliche Mythen setzen sich nicht an die Stelle der Natur, wollen sie weder ersetzen, geschweige vernichten. Natürliche Mythen sind Wegweiser zur Natur, keine furchterregenden Schöpfer und apokalyptischen Vernichter.

Der Mythos der Naturreligionen erzeugt keine zweite Wirklichkeit. Mythische Naturgestalten sind nur erfahrungsgesättigte Etiketten oder Namengebungen für Ereignisse und Dinge in der Welt, die man anders nicht identifizieren kann. Ein Naturmythos ist eine kindliche Bildersprache, die auf die Wirklichkeit verweist, in der wir alle leben: die Wirklichkeit der Natur. Kinder können sehr wohl zwischen Märchen und Wirklichkeit unterscheiden, nur monotheistische Gläubige nicht.

Ganz anders die Erlösungsreligionen, die das Gegenteil der Naturreligionen sind. Ihre mythische Sprache erkühnt sich, eine zweite, ja, bessere oder realere Wirklichkeit zu sein, als die der Natur. Der Mythos der Erlösungsreligion installiert über unsern Köpfen eine zweite Giganto-Realität, die Allmachtsansprüche über unsere natürliche Realität erhebt. Mensch und Natur müssen sich in Erlöserreligionen der Verdinglichung ihrer eigenen Projektionen unterwerfen. Der Mensch unterwirft sich – sich selbst.

Statt sich in seinen Projektionen zu erkennen, zu entfalten, immer freier und menschlicher zu werden, errichtet der erlösungssüchtige Mensch eine zweite Realität, die ihn fesselt, unterdrückt und die ganze Menschheit als Höllenbrut verflucht – wenn sie den Glauben an diese Realität verweigert. Der Mensch, der sich mit seinen eigenen Projektionen fesselt, will sich entschädigen für die Selbstfesselung, indem er – andere fesselt.

So entsteht die Herrschaft der Priester über ihre auserwählten Schäfchen und – dem Endziele nach – über die ganze Welt. Kann ich andere drangsalieren, die schwächer sind als ich, spüre ich kaum noch, wie ich mich selbst drangsaliere. Fremdfesselung entlastet von Schmerzen der Eigenfesselung. Habe ich Macht über andere, kann ich mir verheimlichen, dass ich selbst ohnmächtig bin. Ich bin mein eigener Herr und Knecht.

In Hegels Analyse des Herr-Knecht-Problems werden beide Figuren auseinander gerissen. Strikt gesprochen, gehören sie zusammen und bilden die Spaltprodukte unserer zerrissenen Persönlichkeiten. Natürlich gibt es das Gegenstück der Herrin-Magd-Problematik und alle erdenkbaren Variationen irdischer Machtverhältnisse seit Erfindung der männlichen Hochkultur und der Vernichtung der Matriarchate.

Im Reich der Mütter gab es weder Erlösungsreligionen, noch machtgespaltene Persönlichkeiten. Das war die Erfindung der Patriarchen, die mit Hilfe eines männlichen Schöpfergottes die Herrschaft über Frau, Kind und Natur antraten.

In krasser Form erleben wir die Herrschaft des Mannes über die Frau zurzeit in Kairo, wo demonstrierende Frauen von Männerhorden vergewaltigt werden mit hasserfüllten Sätzen wie: Wenn Allah gewollt hätte, dass Frauen gleichberechtigt wären, hätte er es im Koran gesagt. Deine Vagina gehört uns allen.

Ohne Phallokratie keine Erlösungsreligionen, in denen der Gott dem Manne befiehlt, beim Schwur seine Hände unter die Lende zu legen.

So ergeben sich Herr-Magd-, Herrin-Magd– (wenn die Frau einem mächtigen Clan angehört), Herr-Knecht-, Herrin-Knecht-Verhältnisse, die erst durch Revolutionen aufgelöst werden können.

Bei einer „misslungenen“ Revolution verkehren sich Oben und Unten, die Machtverhätnisse aber bleiben gleich. Also erhalten wir Exknecht-Exherr-, Exmagd-Exherrin-Verhältnisse. Die Schichten mögen rotieren, die Strukturen verändern sich nicht. Es ist unmöglich, dass die bloße Umkehr der Machtverhältnisse übersprungen, dass aus dem Stand eine gleichberechtigte Demokratie errichtet werden kann. Das ist das Schwierige an einer primären Revolution, die von völliger Freiheit träumt und sich dennoch fürs erste damit begnügen muss, die alten Despoten zum Teufel zu jagen.

Die unvermeidliche Enttäuschung über die nicht perfekte Revolution führt zur Einschätzung, die Revolution sei völlig missglückt – und die alten Verhältnisse seien doch besser gewesen. An dieser Stelle entsteht eine Regression zurück in die Despotie. Plötzlich ist Stalin wieder der gute Vater der Nation, obwohl er grade vom Sockel gestürzt wurde. In Tunesien bildet sich eine regressive Sehnsucht nach Ben Ali, den man erst vor kurzem vom Sessel holte.

Zum Thema Erlösungsreligion und Männerherrschaft in der muslimischen Welt, der ausgezeichnete Artikel von Abdel-Samad in der WELT: „Was ist das für ein Glaube? Was für ein Gott?“

Samads Analysen passen auch auf die hiesige Religion, auch wenn sie aus Mimikrygründen sich fortlaufend eine säkulare Erscheinungsweise zugelegt hat.

Wie kann man sich die Entstehung der beiden unterschiedlichen Religionen erklären? Das wird nur gelingen, wenn wir uns zuvor über den Prozess des Erkennens verständigen.

Ich erkenne die Welt, indem ich mir ein Bild von ihr mache, sie mit Sprache benenne, um mit anderen Menschen ein Gespräch über sie zu führen. Rede ich über einen bestimmten Baum mit köstlichen Früchten, muss ich Art und Standpunkt des Baumes so präzis angeben können, dass ich andere Menschen dorthin schicken kann. Ein optisches Bild genügt nicht. Alle meine Sinne müssen kooperieren, damit mein Gehirn die separaten Impressionen verknüpfen kann.

Erkennend stelle ich eine Beziehung zur Welt her und fühle mich als Teil der Natur. Ich erkenne, an welcher Stelle der Natur ich stehe, was ich tun muss, um gut zu leben und wie ich mich im Kontext aller Wesen fühlen darf. Fällt eine sinnliche Wahrnehmungsleistung aus, bin ich im Erkennen gehandicapt.

In der Männerreligion werden von Anfang an Wahrnehmungs- und Erkenntnisverbote ausgesprochen. Vom Baum der Erkenntnis sollt ihr nicht essen. Was die ersten Menschen aber dennoch taten – nein, das Weib tat es, das von abendländischen Männern jahrtausendelang als philosophie-unfähiges Wesen betrachtet wurde. Für ihr Erkenntnisinteresse wurden Eva und Adam mit dem Sündenfall bestraft. Hätten sie zusätzlich vom Baum des Lebens gegessen, wären sie unsterblich geworden wie Gott.

Auf den Steintafeln des Dekalogs stand ein weiteres Denk- und Wahrnehmungsverbot: „Du sollst dir kein Gottesbild machen, keinerlei Abbild, weder dessen, was oben im Himmel, noch dessen, was unten auf Erden, noch dessen, was in den Wassern unter der Erde ist.“ Das sind absolute Erkenntnisverbote des Gottes und der Natur.

In der Tat waren die Urhebräer in Naturerkenntnis aus religiösen Gründen weitaus behinderter als ihre Nachbarn. Von den Griechen nicht zu reden, deren grenzenloses Erkennenwollen zur Grundlage aller europäischen Natur- und Geisteswissenschaften wurde.

Dieses Erkenntnisverbot wurde von Paulus im Neuen Testament weitergeführt, indem er die Weisheit der Welt als Torheit vor Gott bezeichnet. Wie soll ich erkennen, wenn mir Erkennen von Höchster Stelle verboten wird, und wenn die Höchste Stelle ohnehin alles unfehlbar und irrtumslos weiß? Meine Erkenntnisse muss ich von jener Instanz beziehen, die die Macht hat, mir mein eigenes Erkennen zu verbieten oder nach Belieben einzuschränken. Gott besitzt das Erkenntnismonopol und ich bin darauf angewiesen, ob ich auf seine Erkenntnisse Zugriff erhalte.

Erkenntnisse von Gott – unter Ausschaltung aller anderen Erkenntnisquellen – nennen wir Offenbarung. Offenbarung ist eine anbetungspflichtige Importerkenntnis, die nicht auf meinem Mist gewachsen ist. Über göttliche Dinge habe ich nicht zu klügeln und nachzudenken, ich habe zu übernehmen und fraglos für richtig zu halten. Einwände sind verboten und stehen unter Strafandrohung.

Will ein Mensch unter Gottes Regiment selber denken, wird er von Gott zur Minna gemacht. Seine Denkversuche muss er bereuen und sich dem Erkenntnis- und Offenbarungsmonopol des Gottes unterordnen: „Einmal habe ich geredet und wiederhole es nicht, zweimal und ich tu es nicht wieder. Darum widerrufe ich und bereue in Staub und Asche“. Der Erkenntnisversuch Hiobs endet in einem totalen Bankrott.

Wie erfährt der Mensch die Offenbarungen Gottes? Allein durchs Hören von Worten: solo verbo. Allein sein Gehör darf ein passives und gehorsames „Erkenntnisorgan“ sein. Alle anderen sinnlichen Wahrnehmungsleistungen sind außer Kraft gesetzt. Er muss schweigen, wenn Gott redet. Er darf nichts sehen, riechen und berühren.

Bei den Griechen ist Erkennen ein sinnlich-denkendes Gesamtkunstwerk unter Führung des Sehens. Theorie ist Schau, Anschauung. Erst muss ich mir ein Bildnis und Gleichnis aller Dinge machen, dann Worte für sie finden und mit anderen Menschen in einen Dialog kommen, meine Sinneseindrücke mit denen der anderen vergleichen, meine logischen Schlussfolgerungen an denen der anderen messen und, wenn’s sein muss, mit ihnen einen Streit darüber führen. (Von Boman Thorleif gibt es das Buch: „Das hebräische Denken im Vergleich mit dem griechischen“)

Griechen sehen und denken, Bibelleser hören und glauben. Das griechische Denken ist ein Ensemble aller Sinne und abstrakten Denkfähigkeiten des Menschen. Deshalb wurden sie Lehrer des Abendlandes in allen Erkenntnisdisziplinen. In der Bibel wird Erkennen aufs Hören eines unfehlbaren göttlichen Wortes reduziert, das weder angezweifelt noch debattiert werden darf.

Diese beiden diametralen Erkenntnisarten prägten das Abendland, der Streit zwischen ihnen ist noch lange nicht entschieden. Denn die biblisch eingeschränkte Erkenntnisweise hat sich mit der Aura des Heiligen verknüpft und darf nicht angezweifelt werden. Das Hören einer autoritär vorgetragenen Botschaft hat sich als Erkenntnisinstrument fast vollständig durchgesetzt. Die Rhetorik der Offenbarer auf weltlichen und politischen Kanzeln hat gesiegt.

Gespräche, Zweifel, Debatten sind unerwünscht. Selbst der Presseklub will nur Fragen hören, Meinungen sind lästig.

Alles geht von oben nach unten. Jeder Rhetor auf Parteitagen, in Hörsälen ist ein glaubenfordernder Offenbarungsträger. Hat er Charme, muss er auch Charisma haben. Das biblische Erkenntnismodell hat die Moderne besiegt.

Das Erkenntnismodell der griechischen Demokratie hingegen ist Argumentieren auf gleicher Augenhöhe. Vor der Erkenntnis sind alle Menschen gleich. Wer etwas vorzubringen hat, soll nach vorne treten und seine Meinung furchtlos in den Ring werfen – ohne dass er sie als unkritisierbare Offenbarung präsentieren darf.

In Talkshows wird nicht methodisch gestritten, sondern werden rivalisierende Offenbarungen gegeneinander geführt. In Amerika ist es nur geringfügig anders. Auch dort kennt man keine gleichberechtigten Debatten, auch dort dominieren die Redner vor dem Herrn.

Allerdings gibt es noch ein wichtigeres Kriterium für die Auserwähltheit der Eliten: es ist die Höhe des Besitzes. Wer in Geld schwimmt, hat a priori Recht und wird empfangen, als sei der Messias zurückgekehrt.

Im Verlauf der abendländischen Denkgeschichte blieb Erkenntnis stets ein amputiertes Unternehmen. Im Besitz alleinseligmachender Wahrheiten durch Hören des Wortes, war sinnliches Erkennen vollständig diskreditiert. Alles spielte sich im erleuchteten Kopfe der Gläubigen ab. Empirische Überprüfungen an der sinnlichen Welt – überflüssig.

Erst Kant komplettierte das Erkennen, indem er zum Gottesbeweis auch das Zeugnis unserer Sinne forderte. 30 Taler kann man sich gedanklich leicht vorstellen. Wenn sie aber nicht optisch und sinnlich greifbar auf dem Tisch liegen, existieren sie nicht. Das ist der Unterschied zwischen Fiktion und Realität.

Im Kapitalismus ist die Missachtung sinnlicher Empirie noch immer deutlich bemerkbar. Hält man den Hohepriestern des perfekten Marktes entgegen, wie Millionen von Menschen unter dem privilegierten Geld leiden müssten, winken sie ab und verweisen auf den Glauben an die Zukunft: bei steigender Flut werden sich irgendwann alle Schiffchen heben. Auch wenn die meisten schon abgesoffen sind.

Welche negativen Wirkungen die Naturzerstörung in aller Welt hervorruft, könnte jeder Mensch – der nicht taub und blind ist – mit eigenen Sinnen feststellen. Doch lieber hält man sich die Augen zu, wenn man in TV-Dokus vertrocknete Ländereien in Afrika sieht.

Die ökologische Wende wird erst eintreten, wenn unerträgliches Klima jedem sinnlich auf die Pelle rückt. Sehen und Hören kann man sich verbieten. Doch wenn der eigene Pelz überschwemmt oder durch Hitze versengt wird, dann wird’s zum radikalen Umdenken kommen.

Es gibt zwei Formen der Erkenntnis. Die eine lässt die Welt, wie sie ist. Die andere will sie unter die Dominanz einer zweiten Überwelt bringen. Die erste Erkenntnis verhilft dem Menschen durch projektives Vergrößern zur Selbsterkenntnis. Mythen, Sprachen, Anschauungen machen sich hier nicht selbständig, sondern durchschauen ihre instrumentelle Hilfsfunktion.

Im zweiten Fall verwandeln sich die Projektionen in eine eigenständige Welt, die sich nicht mit Anschauen begnügt, sondern die Herrschaft über die erste Welt für sich verlangt. Man könnte sagen, die Erkenntnis des Menschen wächst ihm über den eigenen Kopf und versucht ihn zu kujonieren. Die erste Erkenntnis dient, die zweite herrscht.

In der zweiten verwandeln sich die Erkenntnisinstrumente in allmächtige Götter und Teufel, die ihre fiktiven Erzeuger an die Leine nehmen. Das Werk des Menschen wird zum Beherrscher des Menschen. In Goethes Zauberlehrling verkörpert der Meister die erste Form der Erkenntnis: der Besen bleibt gehorsames Instrument. Der schwache Lehrling übernimmt sich, kann dem Werkzeug seines hybriden Tuns keine Grenzen setzen, sodass es ihm über den Kopf wächst und ihn unterdrückt.

Mythische Naturreligionen durchschauen den Zweck ihrer Bilder. Sie wissen, dass sie Hilfsinstrumente des Erkennens sind, keine selbständigen Wesen, die ihre menschlichen Erfinder übertölpeln können.

In Erlöserreligionen hat sich das Erkenntnisinstrument verselbständigt und ist zur unabhängigen Existenz hypostasiert (= dinglich geworden). Die Erfindungen des Menschen wachsen ihm über den Kopf, was von ihm als ehernes Schicksal erduldet und erlitten wird. Solange Erlösungsgläubige die heiligsten Gegenstände ihres Glaubens nicht als eigene Produkte durchschauen, zu denen sie sagen sollten: Besen, Besen, bist gewesen, solange werden sie von ihren Besen geprügelt, als seien die Besen allmächtige Götter.

Den Prozess der religiösen Verdinglichung unserer Phantasieprodukte erleben wir momentan zum zweiten Mal. Unsere Maschinen beginnen, die Herrschaft über ihre Erfinder anzutreten. Die Maschine dient nicht mehr dem Menschen, der Mensch wird zum gläubigen Sklaven seiner superintelligenten Roboter.

Das amputierte Erkenntnisprogramm der Offenbarungsempfänger führt unausweichlich in die Knechtschaft der Gläubigen unter den Gott, den sie selbst ersonnen haben. Der Mensch hat Gott ins Leben gerufen, damit er sich seiner eigenen Person unterwerfen kann. In diesem Sinn ist er sein eigener Gott und Knecht.

Frei wird der Mensch erst, wenn er sich weder zum Herrscher des Universums erhebt, noch sich zum ohnmächtigen Wurm der Evolution degradieren lässt.