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Dienstag, 04. Dezember 2012 – Aufklärung und Antisemitismus

Hello, Freunde der Juden,

da heulen schon die Sirenen. Juden gehen in Deckung, wenn sie von Deutschen ans Herz gedrückt werden, nur weil sie Juden sind.

Moshe Zuckermann fühlt sich angeekelt, wenn jeder Jude Albert Einstein und Moses Mendelssohn in einer Person sein muss. Besonders Evangelikale lassen sich an Judenvergötzung von niemandem überbieten. Für Zuckermann sind diese Biblizisten Feinde im Schafspelz. Denn sie wollten alle Juden mit demonstrativer Liebe zu Jesus führen:

„Wenn diese Leute irgendwelche endzeitlichen Vorstellungen haben, bei denen sie die Juden sozusagen verbraten wollen, damit es zur christlichen Erlösung der Menschheit kommt, dann können Sie sich denken, was ich als Jude dazu meine: Ich halte diese Leute erstens in ihrer Gesinnung für durchgeknallt – aber darüber hinaus auch für politisch immens gefährlich.“

Rafael Seligmann mag auch keine Philosemiten, aber wenigstens wollten sie keine Juden vernichten wie die Antisemiten.    (Siehe Deutschlandradio Kultur)

Momentan noch nicht. Auch Luther begann als Philosemit. Zum ersten Mal wurde der Begriff Philosemitismus von dem Historiker Treitschke benutzt – wahrlich keinem Freund der Juden –, der vor philosemitischen Linksliberalen warnte, die sich zusammengetan hätten mit reichen Juden, um große Teile der Presse zu kontrollieren und einen unbeschränkten Manchesterkapitalismus zu propagieren.

Die Gefahr liegt in der Kippbewegung von Judenliebe in Judenhass, wenn die Juden

sich nicht bekehren sollten. Dieselbe tödliche Kippbewegung gab es bei Merkels Glaubensheld Martin Luther, der mit seinem runderneuerten Christentum die Juden für sich gewinnen wollte, um gemeinsan den Papismus vor sich herzujagen. Als die Verstockten seinen Liebeswerbungen widerstanden, wurde er zum Judenfeind Nr. 1 in Europa und zum wichtigsten Mentor der Nationalsozialisten.

Hätte Hitler sich nicht auf den Reformator berufen können, der Nationalsozialismus hätte im lutherischen Deutschland keine Chancen gehabt. Theologen nannten in den 30ern Luther den „ersten Nationalsozialisten“. Hitler bewunderte ihn als „das größte deutsche Genie“. Die „wahre deutsche Religion“ sei der Protestantismus. Unter seinen vier ersten Leitfiguren in Wien befanden sich drei Lutheraner, alles erklärte Antisemiten.

Dabei war der junge Hitler gar kein Antisemit. Ursprünglich spricht er anerkennend von der jüdischen Tradition, schätzt den jüdischen Hausarzt seiner Familie, wird als Künstler von Juden gefördert, verteidigt Heinrich Heine und bewundert jüdische Komponisten. Erst unter dem Einfluss lutherischer Äußerungen verwandelt sich Hitler in ein antijüdisches Verhängnis.

„Luther war ein großer Mann, ein Riese. Mit einem Ruck durchbrach er die Dämmerung, sah den Juden, wie wir ihn erst heute zu sehen beginnen“ (Zitiert bei: Dietrich Eckardt, Zwiegespräche zwischen Adolf Hitler und mir)

Wie Hitlers Riese sich über Juden äußerte, hier ein Beispiel: „Wenn ich einen Juden taufe, will ich ihn an die Elbbrücke führen, einen Stein an den Hals hängen und ihn hinabstoßen und sagen: Ich taufe dich im Namen Abrahams. Hitlers Idol Schönerer: „Jud bleibt Jud, ob er sich taufen lässt, oder nicht.“

Auf diesem Satz beruht der ganze „Rassismus“ der Nationalsozialisten. Der biologische Schwachsinn war nur pseudowissenschaftliche Tarnung, Juden sollten keine Möglichkeit der Konversion haben.

Den biologischen Rassismus als Neubegründung des Antisemitismus zu bezeichnen, der mit dem religiösen so gut wie nichts zu tun habe, ist bloße Augenwischerei und übersieht den massiven Einfluss des lutherischen Protestantismus auf den Nationalsozialismus – wobei wir den Katholizismus nicht außen vor lassen können, der nur einige kleinere Probleme mit der rivalisierenden Systemähnlichkeit der beiden Führer hatte.

Der Nationalsozialismus ist politisch geronnenes Christentum hunderte Jahre nach Joachim di Fiore, der als erster die Erlösungsmär vom Himmel auf die Erde geholt und die innerliche Heilsgeschichte in den äußerlichen Fortlauf der Weltgeschichte transformiert hatte – in das Dritte Reich des Heiligen Geistes. Das erste Reich des Vaters war die Epoche des Alten Testaments, das zweite Reich des Sohnes die des Neuen Testaments.

Über den mittelalterlichen Italiener schreibt Karl Löwith in seinem überragenden Buch „Weltgeschichte und Heilsgeschehen“ (das wie alle guten Bücher untergegangen ist, weil die protestantische „Mafia“ inzwischen Berlin und die Medien erobert, der Vatikan sich von allen Sünden der Vergangenheit per Fälschungsdeutungen des Neuen Testaments gereinigt hat):

„Das dritte Testament der Joachiten erschien als „Dritte Internationale“ wieder und als „Drittes Reich“, verkündet von einem dux oder Führer, der als Erlöser bejubelt und von Millionen mit „Heil“ begrüßt wurde. Die Quelle dieser Versuche, die Geschichte durch Geschichte zu vollenden, ist die Erwartung …, dass ein letzter Kampf das Heilsgeschehen zu seiner weltgeschichtlichen Erfüllung und Vollendung führen werde.“

Die Dritte Internationale der Sozialisten ist im selben Maße ein endzeitliches Geschehen wie das Dritte Reich der Nationalsozialisten. Das ist die Systemgleichheit von Stalin und Hitler, alles andere ist Getöse und hat mit dem Kern des Geschehens nichts zu tun.

Schon kurz nach dem Tode des Joachim gab‘s in Italien die erste geschichtlich-politische Realisierung des Dritten Reiches durch den römischen Tribun Cola die Rienzo, der selbst als novus dux (neuer Führer) den messianischen Anspruch von Kaiser Friedrich II erneuerte und die nationale Erneuerung Roms und Italiens miteinander verbinden wollte. Sein Versuch scheiterte elend.

Später wird ein bekannter deutscher Komponist aus dem eschatologischen Stoff die Oper Rienzi schaffen. Nun ratet, welch opernbegeisterter Jüngling aus Linz die Wagner-Oper nicht oft genug sehen und zu seinem geheimen Lebensplan machen wollte? „Heil dir Rienzi, unserem Volkstribunen,“ singen die römischen Massen, die sich durch ihn zum Volk erhoben fühlen:

„Geschaffen hat er uns zum Volk,

Drum hört mich an und stimmt mir bei:

Es sei sein Volk und König Er!“

Hitlers Jugendfreund August Kubizek beschrieb in seinem Buch: „Adolf Hitler, Mein Jugendfreund“ die unbeschreibliche Erregung des jungen Adolf nach dem ersten Hören der Oper: „Etwa ganz Merkwürdiges, das ich früher, wenn er in erregter Form zu mir gesprochen hatte, nie an ihm beobachtet hatte, fiel mir in dieser Stunde auf: Es war, als würde ein anderes Ich aus ihm sprechen, von dem er selbst mit gleicher Ergriffenheit berührt wurde wie ich. Es war ein ekstatischer Zustand, ein Zustand völliger Entrückung. In großartigen, mitreißenden Bildern entwickelte er mir seine Zukunft und die seines Volkes.“

Der Messias der Deutschen hatte sein ultimatives Geburtserlebnis. Joachims Drittes Reich konnte in politische Formationen gegossen werden.

(Man kann natürlich auch anders zählen, wenn man alle christogenen Spuren verwischen will. Dann ist das Heilige Römische Reich das erste, das Bismarck-Reich das zweite und das Hitler-Reich profan das dritte Reich. Solche Banalitäten lieben deutsche Historiker, die im Nebenjob Weltmeister im Verdrängen sind.)

Noch ein Zeuge gefällig? Friedrich Heer (der Wiener Linkskatholik, der ebenfalls völlig untergegangen ist, von Rudolf Augsteins damaligem Chef-Philosophen, einem früheren SS-Mann, im SPIEGEL niedergebügelt) schrieb in seinem Buch „Der Glaube des Adolf Hitler“ die unmissverständlichen Sätze:

„Johanneisch sieht Hitler die Weltgeschichte als einen Kampf der Kinder des Lichts gegen die böse Welt, gegen die Juden, die allezeit gegen das Licht kämpfen.“ Hitler, so Heer, wurde „später als ein „zweiter Luther gefeiert, seine religiös-politische Sprache und Predigt wird als wirkmächtigstes Sprachwerk seit Martin Luther bezeichnet.“

Hitlers Redestil wäre ohne protestantische Erbauungspredigt unmöglich gewesen. Er redete wie der Bergprediger: „wie einer, der Gewalt hat und nicht wie ihre Schriftgelehrten“ – also nicht wie die Juden. Es war keine zynische PR-Maßnahme, wie heute alles gern heruntertransformiert wird, wenn Goebbels in einer berüchtigten Rede den selbstergriffenen Satz in die Menge schrie: „Und wir gehen in diesen Kampf wie in einen Gottesdienst“. (Höre in YouTube)

Was war der Inhalt des Gottesdienstes? Wenn zwei Völker gleichzeitig den Anspruch erheben, von Gott oder der Vorsehung auserwählt zu sein, muss eines davon ein Lügenvolk und das andere das wahre auserwählte Volk sein. Das unvollendete Manuskript Dietrich Eckardts brach mit folgenden Zeilen ab:

„Es ist wohl so“, meinte er (= Hitler), „wie du einmal geschrieben hast: man kann den Juden nur verstehen, wenn man weiß, wohin es ihn letzten Endes drängt. Über die Weltherrschaft hinaus, zur Vernichtung der Welt. Er glaubt, die ganze Menschheit unterzukriegen zu müssen, um ihr, wie er sich einredet, das Paradies verschaffen zu können. Während er sich vorspiegelt, die Menschheit hochzubringen, peinigt er sie in die Verzweiflung, in den Wahnsinn, in den Untergang hinein. Wenn ihm nicht Halt geboten wird, vernichtet er sie. Auf das ist er eingestellt, dazu drängt es ihn; obwohl er dunkel ahnt, dass er sich dadurch mit vernichtet. Er kann nicht anders, er muss es tun. Dieses Gefühl von der unbedingten Abhängigkeit seiner Existenz von der seines Opfers scheint mir die Hauptursache seines Hasses zu sein. Einen mit aller Gewalt vernichten zu müssen, gleichzeitig aber zu ahnen, dass das rettungslos zum eigenen Untergang führt, darin liegts. Wenn du willst: die Tragik des Luzifer.“

Der Jude war Luzifer, der Satan, der Teufel, der Gegenspieler Gottes. Wenn Juden die Teufel waren, wer waren dann die gehorsamen Engel Gottes? Engel müssen sich an keine Zehn Gebote halten, sie stehen über dem Gesetz.

Der Verlag, der damals das Eckardt-Buch herausgab, wusste, was er tat, als er es mit dem Werbeslogan anpries, es sei ein „Zeugnis für die christliche Einstellung der völkischen Bewegung.“

Von Luther bis Hitler, eine beliebte Historikerformel des 1000-jährigen Reiches. Heute murmeln die Protestanten ein leises Mea Culpa („Meine Schuld“) ob des Antisemitismus ihres reformatorischen Gründers und glauben sich damit aus dem Schneider. Auf zu den nächsten Luther-Festspielen, als ob der Antisemitismus des großen Meisters ein ablösbarer Tumor gewesen wäre, der mit dem Organismus der Frohen Botschaft nichts zu tun hätte.

Mit derselben Berechtigung könnten wir auch den Geburtstag des Führers als staatlichen Feiertag begehen – versehen mit dem kleinen Zusatz: schade, dass er die Juden vernichtet hat, das wäre nicht nötig gewesen. Sonst aber war alles okay. Wie viele Naziväter haben noch in der Nachkriegszeit ihren Kindern den Führer mit dieser lässigen Absolution schmackhaft machen wollen.

Hier eine Gegenüberstellung von Worten Martin Luthers – und Taten der Nazis, die sich oft wortwörtlich an Luthers Hassparolen hielten: „Der Antisemit Martin Luther – ein geistiger Vater des Holocaust“.

Nur eine „Kleinigkeit“: 1941 verbieten die Nazis Freundschaften zwischen Deutschen und Juden. In öffentlichen Einrichtungen dürfen Juden nicht bei Deutschen sitzen. Kein Wunder, dass die Juden bis heute allergisch sind, von Deutschen als Freunde angesprochen zu werden. Würde es heute wieder zu einem ähnlichen gesetzlichen Verbot kommen, wie viele Deutsche würden die Anordnung sofort befolgen?

Die Antworten auf solche Fragen wären der Test, ob die Deutschen ihre Vergangenheit tatsächlich „bewältigt“ haben.

Victor Klemperer hat beschrieben, wie es ist, wenn alle so genannten Freunde von heute auf morgen zu grüßen vergessen, einem nicht mehr sehen, die Straßenseite wechseln, um jeder Begegnung auszuweichen. Auch Klemperer hat in seinem Buch über die Sprache des Dritten Reiches (LTI – Lingua Tertii Imperii) die religiösen Momente sorgfältig herauspräpariert. Klemperer führte die Sprache der Nazis auf die religiöse Regression der Romantiker zurück und deren Absage an die Vernunft.

Heute erleben wir eine regressive Neoromantik mit Verwünschungen der Vernunft in allen Preisklassen. Nicht unschuldig an diesem Rückfall in Diffamierungen der Ratio („Vulgärrationalismus“ bei Gauck) ist nicht zuletzt die Frankfurter Schule, die einen außerordentlich großen Einfluss bei vielen späteren Edelschreibern hatte.

Bis heute haben die Ex-68er es nicht für nötig gehalten, die expressive Gegenaufklärung von Adorno und Horkheimer zur Kenntnis zu nehmen, zu erklären und zu revidieren. Gutbestallte Adorno-Fans, wenn sie ausnahmsweise mal nach solchen Zusammenhängen befragt werden, winken nur ab. Das Buch „Die Dialektik der Aufklärung“ hätten sie gar nicht so genau gelesen, Sätze wie „Aufklärung ist totalitär“ seien nicht ernst zu nehmen und nur dem düsteren Augenblick des Schreibens geschuldet.

Bis heute hat die Linke ihre Beziehung zu Christentum und Aufklärung nicht geklärt. Der Wiederaufrüstung der Religion haben sie nichts entgegenzusetzen. Im Gegenteil, sie gefallen sich als anonyme und dadurch besonders glaubwürdige Christen, der Bloch-These gemäß: die besten Christen sind die Atheisten, die besten Atheisten Christen. Mit solchen Schleimschlieren mogeln sie sich durch die Feuilletons.

Sibylle Tönnies ist die einsame Ausnahme von der Regel. In ihrem Buch „Die Menschenrechtsidee“ beschreibt sie Adornos Hass auf den Kerngedanken der Aufklärung: die universelle Gleichheit der Menschen. Gleichheit wurde von ihm – Marx folgend – mit entfremdeter Ware in Verbindung gebracht. Das ganze Rechtssystem lehnte er ab, weil es auf abstrakte Gleichheit hinausliefe. Er hingegen wollte konkrete Ungleichheit, seine Devise war: zurück in die Epochen der Voraufklärung, zurück zu den Zyklopen der homerischen Welt.

Das kann man heute kaum noch verstehen. Sogar vor Blut- und Bodenmetaphern schreckte Adorno nicht zurück. Das klingt so absurd, dass Tönnies einräumt, das könne man heute kaum noch verstehen. Adorno strebte „zurück in die Höhlen der Urväter, deren Entscheidungen über das Wohl und Wehe ihrer Horde noch nicht von generellen Maximen geleitet waren, sondern aus den Tiefen ihrer Bäuche kamen.“ (Tönnies)

Die Spuren der Romantik und des christlichen Glaubens kann man heute in der ganzen intellektuellen Szenerie nachweisen. Hier liegen die Hunde begraben, aus diesen miasmischen Sümpfen wabern und gären die „kruden Ideen“ der Rechtsextremen. Auf diese Spuren wird nirgendwo hingewiesen, weil sich niemand mit Oberpriestern anlegen will.

Darunter leiden auch alle empirischen Forschungen zum Antisemitismus. Die deutsche Antisemitismusforschung ist ein wissenschaftstheoretisches Ärgernis: Keine evidente Theorie und keine nachvollziehbare Empirie. Die Fragen, die das verborgene judenhassende ES der Deutschen herauskitzeln sollen, sind an Schwachsinn nicht zu überbieten. Man fragt etwa nach Judenklischees, am besten nach der krummen Nase.

Klischees sind nicht per se falsch. Natürlich gibt es jüdische Klischees, wie es deutsche, französische und amerikanische gibt. Manche sind richtig, manche falsch, nicht alle sind ehrenrührig. „Den Juden“ gibt es nicht, und doch gibt es ihn in statistischer Form, wie es durchschnittlich-statistische Verhaltensweisen in allen Nationen gibt.

Es widerspricht sich, wenn „Juden“ in Wirform von jüdischem Verhalten sprechen, im gleichen Atemzug aber Nichtjuden verbieten, von typisch jüdischem Verhalten zu sprechen. Es grenzt an Verblendung, die Einschätzung, Israel würde die amerikanische Politik nicht unwesentlich beeinflussen, als Indiz für Antisemitismus einzustufen. Hat nicht Sharon selbst gesagt: Wir bestimmen die amerikanische Außenpolitik?

Vor zehn Jahren war es ein fluchwürdiges Verbrechen, von jüdischen Lobbyisten zu sprechen. Heute ist das Thema spurlos verschwunden, jeder wundert sich eher umgekehrt, wie Obama es heute wagen kann, seinen speziellen Freund Netanjahu nicht zu empfangen. Überall wird hysterisch hingewiesen: haltet den Dieb. Die wirklich gefährlichen Stellen bleiben unsichtbar und ungenannt.

Jede Kritik an Israel wurde bislang mit der Antisemitismus-Keule traktiert, derweilen ging der Staat Israel so vor die Hunde, dass nicht nur Brumlik eine Neugründung des Staates fordert. Selbst Broder, der es für richtig hielt, den Antisemitismus auf Körpergeruch zu reduzieren, hat sich durchgerungen, das neue Gebilde des Palästinenserstaates formell anzuerkennen.

Heute müssen wir konstatieren, die gesamte deutsche Israelpolitik der besonderen Verantwortung vor der Geschichte war eine besondere Heuchelei und ist auf der ganzen Linie gescheitert. Jetzt, wo die ganze Welt das unrechtmäßige Tun der Netanjahu-Regierung in der UNO durch Anerkennung der Palästinenser für unannehmbar erklärt, stehen Westerwelle und Merkel vor einem Scherbenhaufen.

Selbst die USA sind ob der neuerlichen Steigerung des verbrecherischen Siedlungsbaus und des Zurückhaltens von Steuergeldern äußerst verärgert. Europäische Regierungen planen, ihre Botschafter abzuziehen. Israel hat nicht nur Europa verloren, sondern die ganze Welt.

Das Verhängnisvolle ist, dass die Mehrheit des israelischen Volkes sich durch diese globale Kritik – bestätigt fühlt. Das sei das religiöse Schicksal, dass Juden von aller Welt gehasst werden, das müssten sie seit Jahrtausenden akzeptieren. Nicht anders als in Deutschland verhindert das Erstarken der Religion eine realistische und kritische Selbstwahrnehmung der eigenen Nation.

Während bei uns an den absurdesten Stellen Antisemitismus gewittert und geprügelt wird, werden die wahren Gefahrenquellen nicht mal theoretisch gesehen. Graumann wütet gegen ein Grassgedicht, das von kritischer Sorge über Israel getragen wurde – über Einzelheiten hätte man debattieren und nicht schäumen sollen –, aber die angehende Lutherkampagne wird von ihm mit keinem Wort erwähnt. Hatte der überraschende Besuch Merkels beim Zentralrat der Juden etwa den Sinn, den antisemitischen Luther schon im Vorfeld absegnen zu lassen?

Viel gemeinsames Abwiegeln, Ablenken, Wegsehen und an der falschen Stelle Zuschlagen bei Tätern und Opfern. Die wahre Quelle des uralten Gifts wird komplett verleugnet. Der Antisemitismus ist solange eine konkrete Gefahr, solange in der abendländischen Kultur heilige Texte angebetet werden, in denen Juden nicht nur als Gottesmörder dargestellt werden, sondern als Rivalen auf Tod und Leben im Kampf um das himmlische Gütesiegel: auserwähltes Volk.

Der israelische Staat ist am Wiedererstarken antisemitischer Emotionen in der Welt nicht unschuldig. Er verhält sich, als dürfe er nichts unterlassen, uralte Vorurteile gegen Juden durch eine verhängnisvolle Politik am Leben zu erhalten, damit er ungerührt weiterhin gegen alle grundlegenden Völkerrechte verstoßen könne. Nach dem Motto: wenn die Weltgemeinschaft uns schon für unsre Missetaten ablehnt und hasst, können wir mit denselben fortfahren.

Karl Barth, den von Walser bewunderte Schweizer Theologe, verwarf das Judentum völlig. Schon die Existenz des Judentums ist nach Barths Ansicht eine „Gotteslästerung“, erinnert Jeshajahu Leibowitz in seinem biografischen Buch „Gespräche über Gott und die Welt“. Barth gilt als schärfster Gegner Hitlers. Wenn selbst Hitlers theologische Gegner wie er die Juden verwerfen, wo soll der großartige Widerstand der Kirchen gegen Hitler gewesen sein?

Nach Barth gibt es für das Judentum keine Rettung, denn das Evangelium ist ihm gegeben und von ihm zurückgewiesen worden. Umso erstaunlicher und unerklärlicher die Schlussfolgerung von Leibowitz: „Schon die Existenz des Judentums ist also für das Christentum ein schreckliches Problem; uns dagegen – geht das Christentum überhaupt nichts an.“

Das Streitgespräch zwischen Christentum, Judentum und Säkularen hat noch nicht mal begonnen. Dabei gäbe es nur eine einzige realistische Methode zur Ergründung und Ausmerzung des Antisemitismus: die rückhaltlose Aufklärung über alle Religionen.