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Dienstag, 02. April 2013 – Augstein, der Gärtner des Utopischen

Hello, Freunde Europas,

Ungarn ist keine Demokratie mehr, sagt der Schriftsteller György Konrad in der FR. „Die EU hat kaum Zeit, sich auch noch um Demokratie zu kümmern. Zuerst kommt die Finanzkrise, dann lange nichts.“

Die Wirtschaft ist der Totengräber der Polis. Ein Leben außerhalb der Wirtschaft gibt es nicht mehr. Überstehen könne man das nur, „wenn man an eine Vision glaubt, die größer ist als das kleine Ungarn. An die Vorstellung, dass die liberale Verfasstheit in Europa am Ende doch die Oberhand behält. Auch in Ungarn.“ (Frank Herold in der FR)

Italien ist seit Montis Expertenregierung keine Demokratie mehr. Die Italiener haben gewählt. Nein, sie haben nicht gewählt, sondern Zettel in Urnen geworfen. Lähmendes Patt jenseits der Alpen. Dem Staatspräsident gelingt es nicht, eine Regierung zusammenzustellen. Bersani will nicht mit Berlusconi, Grillo weder mit Bersani noch mit Berlusconi.

Jetzt sollen wieder zehn männliche Fachleute ungewählt das unsteuerbare Schiff navigieren. Bei Neuwahlen könnte, laut Umfragen, Berlusconi wieder als Sieger hervorgehen. Als wahrscheinlich gilt ein neues Patt.

Die Völker entscheiden nicht mehr. Per Wahlen geben sie ihr Mandat an die Politeliten zurück. Die BürgerInnen misstrauen den Politikern und überlassen ihnen ihr Schicksal. Es wird Zeit, dass man dem Volk misstraut, das seine politische Macht zur Pilatusgeste missbraucht: was ist Demokratie? Demokratien, die nichts mehr entscheiden, stehen vor dem Aus.

Demokratisch haben einst die Deutschen ihre Volksherrschaft zur Strecke gebracht. Europa beginnt, der deutschen Spur ins Verhängnis

zu folgen. Hauptsache, die Konjunkturdaten stimmen.

Es gehört zur „Noblesse“ der Regierenden, ein Wahlergebnis nicht zu kritisieren. Die Noblesse ist die Maske der Verachtung. Wer nicht kritikwürdig ist, ist nicht demokratiefähig.

Die europäischen Völker beginnen, sich ins Abseits zu manövrieren. Sie erhoffen sich nichts von ihrer eigenen Initiative. „Wehe denen, die sich auf sich selbst verlassen, weil sie ihrer viele sind und auf diejenigen, die sehr zahlreich sind. Aber auf den Heiligen Israels nicht schauen und den Herrn nicht befragen.“

(Markus Sievers in der BLZ)

 

Jakob Augstein hat auch kapituliert. Im Zweifel links? Im Zweifel Jesus. Sein Vater Rudolf hat Jesus den Menschensohn in alle Einzelteile zerlegt, der Sohn hat ihn wieder zusammengestückelt und zum Leben erweckt. Niedergefahren zur Hölle, in der zweiten Generation wieder auferstanden von den Toten. (Jakob Augstein im SPIEGEL: „Die Jesus-Alternative“)

In Herrengeste bestimmt Augstein, was Christentum gefälligst zu sein hat: eine Utopie. Nicht im Jenseits, sondern im Diesseits. Der Tod ist hoffnungslos, aber es gibt eine Alternative.

Der Tod ist ein Irrtum, sagte Heiner Müller. Der Tod ist ein Affront, sagte eine Dichterin. Canetti wütet gegen den Tod: „Aber ich verfluche den Tod. Ich kann nicht anders. Und wenn ich darüber blind werden sollte, ich kann nicht anders, ich stoße den Tod zurück. Würde ich ihn anerkennen, ich wäre ein Mörder.“

Der Tod ist ein Meister aus Deutschland, er muss ungeschehen gemacht werden. Nach Augstein ist die christliche Utopie die Alternative zur Hoffnungslosigkeit des Todes.

Philosophieren war einst Vorbereitung auf den Tod, um ihn ins Leben zu integrieren. Um die Angst vor dem Tod zu besiegen, damit man sich des Lebens freuen kann. In der „Kulturgeschichte des Hellenismus“ von Carl Schneider heißt es: „Der Tod stand mitten im bunten Leben und man erfreute sich an der Darstellung Sterbender, weil man erkannt hatte, dass sie zum Bestand der Welt gehörten.

Schon im Früh- und Hochhellenismus gab es viele, die das Sterben für etwas Selbstverständliches, Natürliches und unter Umständen sogar für etwas Gutes hielten. „Der Tod gleicht einem guten Arzt“, der jede Krankheit heilt, „der Mensch ist von Natur sterblich, auch Herakles musste sterben“. Freiwillig sterben ist besser als unglücklich leben.

Euthanasie, das schreckliche Wort, bedeutete vor seiner Schändung das selbstbestimmte, glückliche Sterben. „Der hellenistische Mensch hatte gelernt, das Leben vom Tode her zu deuten“. Nicht als Schreckgespenst, sondern als Erfüllung, als Summa des Lebens. Wer erfüllt lebte, konnte lebenssatt abtreten. „Das geschah auf völlig unreligiöse Weise. Dem hellenistischen Menschen war es gelungen, «Tod und Leben als ein Ganzes zu sehen».“

Augstein ist leidenschaftlicher Gärtner. Er könnte wissen, dass der Tod zur Natur gehört. Gäbe es keinen Tod, hätte das Leben keine Chance. Wer den Tod töten und unsterblich werden will, will die Natur töten.

Ist die Besiegung des Todes die Alternative zum Neoliberalismus? Zu viel der Ehre für ein menschenfeindliches Wirtschaftssystem. Hier verwechselt der Schreiber die Register. Irdisches muss mit Irdischem bekämpft werden. Nicht mit ätherischen Cymbeln, sondern mit Pauken und Trompeten. Selbst wenn es Todlosigkeit gäbe, wäre sie keine Alternative zum Kapitalismus. Bekanntlich beginnt die Unsterblichkeit jenseits des Todes.

Mit solch einer illusionären Alternative kann die Kahlschlag-Ökonomie gut leben. Im Himmel soll es besser werden, wenn wir bei seinen Engeln sind. Weil der Erlöser den Tod besiegt hat, der Tod des Todes aber noch immer auf sich warten lässt, gilt Gevatter Hein mit Sichel als Tod-Feind.

Augstein will eine Utopie im Diesseits, doch sein Hass auf den natürlichen Tod bezieht sich aufs Jenseits. Seine Todesallergie entlarvt ihn als traditionellen Quietisten und romantischen Schwärmer. Sein Engagement gegen wirtschaftliche Ausbeutung sieht kein Ziel im todverseuchten Diesseits. Solange der Tod ist, ist alles nichts. Für gläubige Menschen, die ihren naturgegebenen Verstand noch nicht aufgegeben haben, muss es ein Schock sein, zu entdecken, dass moderner Kapitalismus und Erlösungsreligion zur Symbiose verschmolzen sind.

Wohlgemerkt nicht von Anfang an. Phönizier und Griechen erfanden den Austausch selbsthergestellter Dinge, das Kennenlernen fremder Kulturen, die harmlose Freude an schönen Vasen und Textilien als sportiven Wettbewerb, der den Menschen Kunde von der Welt und Wohlstand zu Hause brachte.

Die allmählichen Unterschiede zwischen Reich und Arm waren permanenter Gegenstand sozialen Streits, der zum Alltag jeder lebendigen Demokratie gehörte. Die Armen waren noch nicht eingeschüchtert und wussten noch, was wirtschaftliche Selbständigkeit bedeutete. Sie kämpften unermüdlich um den gerechten Anteil des beginnenden Reichtums.

Gerechtigkeit war ein Zentralpunkt der Philosophie. Erst das Gärungsmittel unendlicher Macht in der pax romana ließ die humane Betätigung des sich selbst Ernährens und vergnüglichen Einrichtens zu einem Sprengsatz bürgerlicher Gleichberechtigung werden. Senatus populusque romanus, Senat und Volk von Rom, ursprünglich austariert, entwickelte sich zur winzigen Reichenschicht plus mittellose Masse, die man täglich mit Weizenlieferungen aus aller Welt wie eine Krankenhorde abfüttern musste.

Die ungeheure römische Gewalt, die sich des noch immer naiven Kapitalismus bemächtigte, ließ das menschenfreundliche Projekt des Tauschs, der kaufmännischen Vernetzung aller Völker zu einem nicht mehr zu bändigenden Monstrum anschwellen.

Es gibt kein einheitliches, von Grund auf erbsündiges kapitalistisches „System“, das man in toto über den Haufen werfen müsste. Das Miserable ist die Verirrung des Guten. Man muss herausfinden, welche sinnvollen Absichten sich allmählich verhedderten, sich widersprachen und – ohne es zu bemerken – zu einem abstoßenden Endprodukt mutierten.

Was ist dagegen einzuwenden, wenn jeder Mensch sich selbst ernähren und durch seiner Hände Arbeit zum behaglichen Leben der Menschheit beitragen kann? Echte Tauschverhältnisse – die es im machtgestützten Kapitalsystem längst nicht mehr gibt – sind Geschenkverhältnisse auf Gegenseitigkeit. Ich schenke dir die Früchte meiner Fleischertüchtigkeit, wenn du mir die Früchte deiner Bäckerfähigkeiten schenkst. Der Tausch ist gerecht, wenn beide Partner den Vorgang als Bereicherung auf gleicher Höhe erleben.

Der trügerische Kapitalismus beginnt mit der Verfälschung gleichwertigen Gebens und Nehmens durch Erpressungsmacht. Wer am längeren Hebel sitzt, kann dem andern Daumenschrauben ansetzen. Hier beginnt die Kluft. In dem Moment, wo die Schichten auseinanderdriften, hat der Tausch aufgehört, ein äquivalentes Geben und Nehmen zu sein. Nicht das vernünftige Wirtschaften auf Gegenseitigkeit ist das Problem, sondern das Erpressen und Ausnutzen mit Hilfe eines anschwellenden Machtgefälles.

Die ungleiche Macht der wirtschaftenden Akteure muss beendet werden. Auch in der Ökonomie gilt Montesquieus demokratischer Grundsatz vom Gleichgewicht der Mächte. Alles was too big to fail ist, ja, noch mehr, too big, um äquivalent zu sein, gefährdet Wirtschaft und Staat. Wenn die Wirtschaft es nicht schafft, sich zu äquilibrieren, muss der Staat einschreiten. Ohne austarierte Machtproportionen gibt’s keine Gerechtigkeit. Von Chancengerechtigkeit, der lügenhaften PR-Version der Gerechtigkeit, gar nicht zu reden.

Was nützen gerechte Chancen, wenn elitäre Verkrustungen der Gesellschaft die Anfangschancen langfristig ersticken? Auch wenn Einzelne es immer wieder nach oben schaffen, was nützt es den Schwachen, wenn nur wenige Starke den Aufstieg schaffen? Am Grundproblem ändert sich nichts: in jeder Gesellschaft gibt’s Schwache und Starke.

Die Schwachen – die den Starken in sozialen und musischen Dingen bei weitem überlegen sein können – haben es nicht verdient, wegen mangelnder Ellbogenqualitäten gedemütigt zu werden. Die Stärksten in oeconomibus sind nicht die Stärksten in Humanität und Lebenskunst. Wenn vor allem hemdsärmelige Brutalinskis und Schlaumeier durch ein System belohnt und alle anderen – wie Mütter, Erzieherinnen, Künstler, Denker, Sozialarbeiter, die für den Kitt der Gesellschaft zuständig sind – übers Ohr gehauen werden, darf man sich über zunehmende Verrohung der Verhältnisse nicht wundern.

Eine Demokratie, die mehr sein will als regellose Arena für geldgierige Raufbolde und Muskelpakete, hat dafür zu sorgen, dass alle Talente, besonders die gemeinschaftsfördernden, wirtschaftlich gestützt und abgesichert werden. Von Natur aus gibt es weder Parasiten, noch Krimininelle. Wer das Pech einer glücklosen Geworfenheit erlebt, muss eine ernsthafte Chance zur Korrektur seines ungünstigen Schicksals erhalten.

Im Kapitalismus hingegen gilt: hat jemand kein Glück des Anfangs, kommt mit Sicherheit das Pech und die lebenslange Bestrafung durch die „Starken“ hinzu. Die Opfer müssen blamiert, die zufällig Glücklichen unrevidierbar belohnt werden. Das System des steigenden Machtgefälles verstärkt sich durch sich selbst. Der Erfolg der Starken gibt ihm Recht.

Das Los der Schwachen gilt als selbstverschuldeter Fehler, der mit dem System nichts zu tun hat und auf die Psyche der Geworfenen projiziert wird. Nicht die wahllose Geworfenheit: die Psyche der Neugeborenen wird zur Quelle der zuschreibbaren und schuldfähigen Insuffizienz.

Für aufrechte Gläubige muss die Entdeckung ein Schock sein, dass Wirtschaft und Erlöserreligion zur Einheit gewachsen sind. Das eine kann ohne das andere nicht leben. Wie das Individuum in der Religion zum schuldbewussten Wesen gestempelt wird – obgleich es von himmlischen Mächten prädestiniert ist – so das Individuum im Kapitalismus. Wer mit falschen Talenten und Interessen geboren wurde und Geldmachen nicht liebt, hat Pech gehabt und wird bestraft.

Die gesamte griechische Kultur, der wir alles zu verdanken und deren Helligkeit wir noch lange nicht erreicht haben, wäre im Kapitalismus mit wehenden Fahnen untergegangen. Es ist marxistischer Unsinn und linke Einseitigkeit, die griechische „Sklavenhaltergesellschaft“ als faulenzende Mußegesellschaft zu bezeichnen. Erstens wurde die Sklaverei durch die Humanität der sokratischen Schulen selber abgeschafft. Zweitens war Muße die Tätigkeit der Leidenschaft, keine Untätigkeit in der Hängematte. Die Muße des Aristoteles bestand darin, das größte wissenschaftliche Werk in der Menschheitsgeschichte zu schreiben und zu lehren.

Im Kavallerieton befindet Augstein, dass der Kapitalismus eine „reine Kultreligion“ sei und mit Dogmatik und Theologie aber nichts zu tun habe. Da sollte er sich mal mit einer wirtschaftlichen Dogmengeschichte beschäftigen, die – nicht anders als eine theologische – die vielfältigen Glaubenssätze der oeconomia militans darlegt. In einem religiös dominierten Abendland kann‘s nur religiös dominierte Systeme geben.

Nicht falsch, wenn Augstein bemerkt, die Konservativen hassten die Utopie. Doch welche? Sie hassen die Utopie der autonomen Menschheit, die selbst herauskriegen und bestimmen will, wie sie leben möchte. Konservative sind in der Wolle gefärbte Fromme, die ihre himmlische Utopie durch hybrides Treiben der Gottlosen nicht gefährden lassen wollen. Himmlische Utopie im Jenseits gegen irdisches Selbstgestalten.

Keine Rede, dass der Neoliberalismus eine „dystopische“ Erfindung wäre. Im Gegenteil, er ist die selbsterfüllende Prophezeiung der Heilsgeschichte mit zwei unverträglichen Endpunkten: A) die Welt muss in einer Katastrophe untergehen. B) die untergegangene Welt wird durch messianische Intervention in einem neuen unvergleichlichen Zustand auferstehen.

Warum verteidigt Augstein das Christentum, wenn er keinen Wert darauf legt, selbst ein Christ zu sein? Er gehört – wie Habermas und die Majorität halbgläubiger Edelschreiber – zur exzellenten Zunft der „religiös Unmusikalischen“, die aus „neutraler“ Position glauben, die Religion am lautersten verteidigen zu können.

Vorbild der kühlen Objektivisten ist der ungläubige Thomas. ( Neues Testament > Johannes 20,24 ff / http://www.way2god.org/de/bibel/johannes/20/“ href=“http://www.way2god.org/de/bibel/johannes/20/“>Joh. 20,24 ff) Durch Zweifel wollen sie ihren Möchtegernglauben nachträglich nobilitieren. Das reicht nicht zum Glauben de luxe. Doch immerhin zum Nachweis, dass sie ihr Fürwahrhalten im Feuer der Skepsis überprüft haben.

Dann sagte er zu Thomas: „Streck deinen Finger aus – hier sind meine Hände! Streck deine Hand aus und leg sie in meine Seite und sei nicht ungläubig, sondern gläubig!“ Thomas antwortete ihm: „Mein Herr und mein Gott!“ Jesus sagte zu ihm: „Weil du mich gesehen hast, glaubst du. Selig, die nicht sehen und doch glauben.“ Herr, sie möchten so gerne glauben, hilf ihrem edlen skrupulösen Unglauben.

Entlarvend die Sätze des kryptisch-frommen Augsteins: „Im säkularen Zeitalter wäre es die Aufgabe der Politik, ihnen mit der Kraft der Utopie zu begegnen. Aber die Politik versagt. In der Krise zeigt Angela Merkel einen erschreckenden Mangel an politischer Phantasie“. Nicht die Politik versagt, es ist die Politik des säkularen, glaubenslosen Zeitalters. In frommen Zeiten wäre Merkel zur Jeanne d’Arc geworden, die mit frommen Fanfaren die Scharen der berittenen Jesusjünger in den Kampf gegen das Böse geführt hätte.

Das Christentum soll die Religion der Unterdrückten sein, so Augstein im Gestus der Päpste, besonders des neuen Armutsdarstellers. Man glaubt es nicht. Nach 2000 Jahren Heilsgeschichte der ecclesia triumphans, nach Eroberung des gesamten Erdballs durch eine christogene Wirtschaft, erzählt uns ein modern wirkender Zeitgenosse das Märchen vom Heil der Unterdrückten.

An Ostern wurde die Zeremonie des päpstlichen Segens urbi et orbi in allen Kanälen des Orbits übertragen. Der demütige Franziskus ernannte sich zum Herrscher der Welt. Ein wahrer Knecht der Menschheit. Das Märchen vom armseligen Jesulein: das lieben die in die Armut vernarrten reichen Frommen aus Neudeutschland. Dass Klein-Jesu so nebenbei der Pantokrator der Welt (Alleinherrscher des Universums) ist, das hat Rudolf Augstein noch gewusst. Sein Sohn ist bereits in die Dumpfheit der momentanen religiösen Regression abgetaucht.

Das Murren Luthers ist das Murren gegen Papst, Sünd und Teufel, aber keine Ethik der Revolution. Im Gegenteil: die Armen habt ihr allezeit. Es ist skandalös, wie selbstherrlich die Umdeuter des Credos die Aussagen der Schrift ignorieren. Das Christentum hat als Ganzes gewirkt, nicht als Auswahl jeweiliger Zeitphilosophien.

Dass Augstein sogar den Urkommunismus der Apostelgeschichte bemüht, ohne das Gleichnis vom obligaten Zinsnehmen zu erwähnen, disqualifiziert ihn endgültig. (Wer hat, dem wird gegeben, wer nichts hat, dem wird noch genommen, was er hat.) Keine Kirche, die sich nicht mit Händen und Füßen dagegen wehrte, dass Kommunismus etwas Christliches sei. Das erwähnt Augstein mit keiner Silbe. Wie ein kesser Konfirmant freut er sich, eine Stelle gefunden zu haben, die er den Popen brühwarm eintunken kann.

Schon singt er im höheren Chor, wenn er behauptet, die „ganze Welt“ verstünde die Botschaft des neuen Wundermannes Franz. „So korrupt kann die Kirche nicht sein, so verdorben kein Priester, dass das verschüttet würde. Und das erinnert uns auch daran, was wir Heutigen eigentlich mit einem Mann anfangen würden, der mit Tieren spricht. Keine Frage, die Ärzte wüssten eine Lösung: drei Wochen geschlossene Abteilung, täglich 25 mg Zyprexa – und dann wäre Schluss mit der ganzen Heiligkeit.“

Jetzt macht er den Pontifex zum „heiligen Narren“, zum potentiellen Objekt der Psychiatrie. Schwupps ist der Narr zum offiziellen Heiligen ernannt worden. Wenn Franziskus vom Vatikan nicht schon heilig gesprochen wäre, Jakob Augstein, Sohn bedeutender Väter, ersetzte den Vatikan voll und ganz.

Natürlich darf bei christentumslosen Christen Meister Bloch aus Ludwigshafen nicht fehlen, für den der beste Christ ein Atheist, der beste Atheist ein Christ sein muss. Für den ist die ganze bisherige Geschichte der Menschheit eine Vorgeschichte – also Müll. Es hat keinen Sinn, sich mit der Vergangenheit zu beschäftigen, sie ist nicht satisfaktionsfähig. Die wahre Erschaffung der gerechten Welt steht erst bevor. Der neue Himmel und die neue Erde müssten ex Nihilo erschaffen werden. Halt, nicht ganz ex nihilo, sondern aus dem Müll der Vorgeschichte, der erst vollständig vernichtet werden muss, bevor er als das ganz Neue und Unerwartete auferstehen kann.

Die Tat einer höheren Macht – bei Bloch die messianische Geschichte – nennt Augstein eine Utopie. Sie ist kein Werk des Menschen, sondern Wunder eines gottähnlichen Wesens. Der transzendente Herr traktiert die Schöpfung wie der irdische Gärtner Augstein seinen Freizeitgarten: möglichst naturaggressiv und am besten mit Gift in doppelter Dosis.

„Jakob Augstein ist ein Fan möglichst naturferner Gärten. Alles muss seine Ordnung haben, der Garten soll ein reiner Ziergegenstand sein, der darüber hinaus auch bitte keinerlei praktischen Nutzen haben soll. Selbst Beerensträucher widersprechen diesem radikalen Ästhetikkurs. Gemüse ist etwas Verachtenswertes und die Rückbesinnung auf den Nutzgarten ein Rückschritt, den uns die Wiedervereinigung eingebrockt hat. Damit der Garten allzeit schön und ordentlich ist, muss auf das volle Arsenal der käuflichen Chemie zurückgegriffen werden. Dünger reichlich, Gift am Besten gleich in doppelter Dosis. Es soll schließlich nicht zu natürlich werden.“ So die Worte eines milden Kritikers.

Wer solch naturferne Gärten propagiert, muss Experte für giftfreie soziale Utopien sein. Utopie als Einheit von Mensch und Natur ist mit der Wurzel des heiligen Geistes auszurotten.