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Die ERDE und wir. I

Tagesmail vom 05.08.2024

Die ERDE und wir. I

ein pathologisches Urthema. Pathologie ist die Lehre von der Krankheit.

Wenn die Geschichte von Mensch und Erde nichts anderes ist als eine Abfolge von Kriegen, Krankheiten, Hass und Zerstörung, sollten wir Begriffe wie Harmonie, Glück und Vollendung aus unserem Wörterbuch streichen – und dem Seelenforscher Sigmund Freud Recht geben:

„Interessenkonflikte unter den Menschen werden also prinzipiell durch die Anwendung von Gewalt entschieden. So ist es im ganzen Tierreich, von dem der Mensch sich nicht ausschließen sollte; für den Menschen kommen allerdings noch Meinungskonflikte hinzu, die bis zu den höchsten Höhen der Abstraktion reichen und eine andere Technik der Entscheidung zu fordern scheinen. Mit der Einführung der Waffe beginnt bereits die geistige Überlegenheit die Stelle der rohen Muskelkraft einzunehmen; die Endabsicht des Kampfes bleibt die nämliche, der eine Teil soll durch die Schädigung, die er erfährt, und durch die Lähmung seiner Kräfte gezwungen werden, seinen Anspruch oder Widerspruch aufzugeben.“ (Brief an Einstein)

Gehört der Mensch nicht zur Natur? ist er ein Fremdling auf Erden, der seine Fremdheit nie überwinden wird? Dann bräuchten wir uns keine weiteren Gedanken darüber machen, wie wir die Spaltung des Seins vermeiden könnten.

Platon und das Christentum hätten Recht, der Kosmos bestünde aus zwei Teilen, einer unvollkommenen und einer vollkommenen Hälfte. Daran würde sich für Platon nie etwas ändern, für Christen erst nach Vernichtung des ganzen Seins.

Die Erde wäre ein Jammertal, aus dem der Mensch sich nie befreien kann. Erst nach seinem Tode – wenn er sich in den Augen des Schöpfers korrekt verhalten hätte – könnte er selig werden.

Seligkeit wäre jene Form des Glücks, das der Mensch sich nicht selbst erarbeiten kann, sondern eine unverdiente, gnädige Gabe des Schöpfers.

Ein glückliches Leben kulturferner Eingeborener, die von Schuld und Sühne so gut wie nichts wissen: das kann sich der Begründer der Tiefenpsychologie nicht vorstellen. Deren Existenz muss er radikal bezweifeln.

Gibt es Urvölker, deren einfaches Leben von keiner Schuld getrübt wird, für die die Erde eine Einheit ist, in der kein Mensch im ständigen Kampf gegen die Natur steht?

Freud kannte noch nicht die Ergebnisse der Völkerkundler, die gewissen Eingeborenen ein völlig anderes Weltgefühl konstatierten. Das Gefühl einer fast vollkommenen Symbiose zwischen Mensch und Tier. Nehmen wir Werner Müllers Büchlein: Geliebte Erde.

„Am Rande der Missouriwälder und an den Ufern der Prärieflüsse wächst ein Strauch, der in Nordamerika seinesgleichen nicht hat: die Erdbohne oder die Falcata comosa. Diese Falcatabohne gehört zu den Lieblingsgenüssen der Indianer. Gekocht, gestampft und mit Fleisch versetzt, erhebt sie jede Mahlzeit zu einem Festessen. Nur bleibt die Ernte, unmittelbar durch den Menschen selbst, fast unmöglich, denn das dichte, kaum zerreißbare Geranke und die Verborgenheit im Boden hindern jeden nennenswerten Erfolg.

Die Indianer nützen deshalb die Arbeit eines Tiers, dem die Erdbohne ebenso schmeckt wie dem Menschen, der Wiesen- und Bodenmaus. Im Herbst trägt diese Maus massenhaft die Falcata in ihre unterirdischen Kammern und überdauert mit diesen Vorräten den langen frostklirrenden Präriewinter. Das Ausheben des Baues lohnt also und deshalb suchen die Indianer eifrig die Waldränder ab, um an dem Fleiß der Wiesenmäuse teilzunehmen.

Der Zeitgenosse wird diese Ausplünderung als Bestätigung seiner Weltauffassung werten. Der Kampf ums Dasein, das Recht des Stärkeren, die Macht als letzte Instanz: man kennt die Fraglosigkeiten der darwinistischen Lehre.

Doch die Sache bekommt ein anderes Gesicht durch die Haltung der Indianer, die einen anderen Menschentyp mit anderen Wertungen und Auffassungen vor uns hinstellen. Man darf, so erklären die Präriebewohner, der Wiesenmaus nicht alle Bohnen wegnehmen: es sei Bosheit, das schwache und wehrlose Tier seiner sämtlichen Vorräte zu berauben. Man müsse vor der Suche Herz und Gemüt vorbereiten. Niemals dürfe das Gefühl für die Anerkennung der Rechte aller lebenden Dinge, Pflanzen und Tiere verlorengehen.

Man müsse Sinn haben für die gegenseitige Abhängigkeit aller Lebendigen, für die Verpflichtung des Menschen gegenüber der ganzen Natur und allen geheimnisvollen Mächten. Wer auf diese Suche gehe, dürfe nur gute Gedanken denken und habe jedes boshafte und bittere Gefühl abzulegen. Besonders sollte er denken an seine Schuld gegenüber der Bohnenmaus, von der er solche Gunst erbitte.

Der Indianer nähert sich den Vorräten des Tiers nicht als Räuber, sondern mit der Bitte, einen Teil seiner Vorräte abzugeben. Ein Kenner der Stämme bezeugt, er habe bei sämtlichen Präriestämmen ein starkes Gefühl der Zuneigung für das kleine Tier gefunden. Immer wieder wurde ihm versichert: „Die Bohnenmäuse sind sehr fleißige Leute, sie helfen sogar den Menschen.“

Niemals nehme ein Indianer Früchte weg ohne Gegengabe. Er lege dann an ihre Stelle Mais, Speck und Fett, und so hätten die Mäuse doch auch einen Nutzen von dem verschwundenen Teil ihres Unterhalts.

Das ist der Urtausch der Menschheit: eine gleichberechtigte Anerkennung der Leistung aller beteiligten Kräfte, sei es der Natur, sei es des Menschen. Keine Bereicherung auf Kosten anderer, sondern Respekt, Loyalität und tiefe Verbundenheit aller mit allen. Der spätere Kapitalismus hat diese Symbiose zerstört. Hier begann der Fortschritt als Untergang auf Konkurrenzbasis: der Mensch beschädigte den Menschen, um die Natur zu beschädigen und mit schrecklichen Rekorden auf dem Rücken der Schwachen zu triumphieren.

Die Indianer betrachten die Arbeit der Maus mit Bewunderung und Ehrfurcht. Im Herbst, wenn die Fäden des Indianersommer über das Land wehen, wandern die Leute oft allein hinaus und setzen sich bei einer solchen Vorratskammer auf ein stilles Plätzchen, dankbar nachsinnend über die Mysterien des Lebens.

Dann flüstern sie: „Du bist freilich schwach, aber doch stark genug für deine Arbeit, denn heilige Mächte stärken dich. Du bist auch weise und heilige Weisheit ist ständig bei dir.“

Erst nach solchen Gebeten beginnt er zu graben.

Man stelle sich nur einen normalen Zeitgenossen vor und man erfasst den ganzen Gegensatz: wie er drauflos schaufelt, das geängstigte Tier mit dem Spaten erschlägt, die Bohnen in einen Sack füllt und davongeht, tief befriedigt, einem „Schädling“ das Lebenslicht ausgeblasen zu haben.

Ganz offenbar beruht das Indianerdenken auf der durchdringenden Überzeugung eines Verbands alles Lebendigen, einer Gleichberechtigung aller Lebewesen.

„Der Indianer begreift das Universum als eine lebendige, einige Gemeinschaft. In ihr haben alle Lebewesen, Pflanzen, Tiere und Menschen, vom kleinsten und unscheinbarsten bis zum größten und bedeutendsten ihren festen Ort, auch die Geistwesen, die Elemente und Mächte der Erde und des Himmels. Der Mensch steht in vitaler Wechselwirkung mit allen anderen Lebewesen.

Hier wird der Kern des indianischen Heidentums erfasst und diese Botschaft klingt anders als Genesis 1, 26 (5. Mose), wonach die Menschen herrschen sollen über die Fische im Meer und über die Vögel am Himmel und über das Vieh und über alle wilden Tiere und über alles Gewürm, das auf der Erde umherkriecht. Dieser Freibrief für die zivilisatorische Herrschsucht und das indianische Verwandtschaftsgefühl bis zu den Grenzen des Universums stehen meilenweit auseinander.

Ohne Umschweife gilt bei den Ureinwohnern das Kind als Bruder und Schwester von Sonne, Mond, Sternen, Winden, Wolken, Regen, Nebel, Hügeln, Tälern, Flüssen, Seen, Bäumen, Gräsern, Vögeln, Vierfüßlern, Würmern – eine unabsehbare Familie alles Laufenden, Kriechenden, Fliegenden, Atmenden und Wirkenden: es ist der Glaube des voreuropäischen Nordamerika.

Dieses Du-Gefühl beschränkt sich bei den Indianern nicht auf das frei bewegliche Leben, es bezieht auch das Elementarische mit ein, ja, es steigert sich zur Weltverschmelzung. Der Mensch löst sich auf in die Brüderlichkeit der Erscheinungen, er gerinnt zur Tier-, Pflanzen- und Elementarseele.“ (Geliebte Erde)

Das Ziel der Urgesellschaften war das Glück aller Lebewesen in der Einheit des Kosmos – der stoischen Welt am nächsten.

Seitdem die gespaltenen Religionen das Regiment in Europa übernommen haben, bestimmen die Erlöser das Geschehen: im Schweiß ihrer Arbeit sollen alle malochen, Glück nur als Gnade erleben. Wer nicht arbeiten will, soll auch nichts essen.

„Zur Ehrlichkeit gehört auch, dass der Unternehmenszweck nicht vordringlich darin besteht, die Beschäftigten zu glücklichen Menschen zu machen. Die Mitarbeiterzufriedenheit ist in dieser Perspektive nur instrumentell von Bedeutung, ein Mittel zum Zweck, um die Unternehmensziele zu erreichen.“ (Sueddeutsche.de)

Ziel aller modernen Arbeit ist Herrschaft über die Erde mit Hilfe von Maschinen, die immer mehr die Menschen ersetzen und übertrumpfen.

Wettbewerb, um mit besten Leistungen zu brillieren?

Sie sollen in allen Bereichen die Besten werden, nur nicht in Brüderlichkeit mit der Natur.

Sie sollen am weitesten hüpfen, springen, am schnellsten eine beliebige Strecke zurücklegen, aber nicht am innigsten Blumen und Bäume lieben, Gewässer schonen, Äcker fruchtbar erhalten – aber nicht den Ärmsten unter den Menschen ein gutes Leben bieten, die Reichsten zur Menschlichkeit anhalten.

Sensationen? Auf jeden Fall. Aber nicht, um die humanste Situation der Völker zu erhalten, die Verbindungen der Völker immer enger und fürsorglicher zu gestalten – sondern, um die schrecklichsten Rekorde im Universum mit Minderheiten zu feiern.

Rekorde, Rekorde, Rekorde, aber nicht um die Erde in eine natur- und menschenverbindende Symbiose zu verwandeln, sondern um naturfeindliche Krankheitsspuren in den Patienten Welt einzugraben.

Zur Stunde taucht auch die Religion aus den Höhlen des Landes auf und will öffentlich alles bestimmen und mit ihrem naturfeindlichen Segen infizieren.

„Es sei ein verbreitetes Narrativ des Konservatismus in den USA, so Faggioli, dass Europa in den vergangenen 60 Jahren fast alles falsch gemacht habe und man das in den USA nicht wiederholen dürfe. Katholizismus wird damit zum Mittel für den Kulturkampf. Mit dem Papst aus Argentinien, der mit scharfer Kapitalismuskritik von sich reden macht, der die Institution auf einen Reformprozess schickt und eine „verbeulte“ Kirche will, die sich den Menschen an den Rändern zuwendet, haben konservative US-Katholiken ihre Schwierigkeiten.“ (Sueddeutsche.de)

Dennoch ein seltsamer Artikel, der über die Macht der Frommen schreibt, aber kein einziges Wörtchen über ihre Lehre, die die Natur verachtet und der Erde ein nahes Ende prophezeit.

Konkurrenz, Konkurrenz – aber nur als Wettkampf um den besten Siegesplatz im finalen Vernichtungskampf der erlösten gegen die verworfenen Nationen.

Kämpfet um den besten Glauben, aber nicht, um die Einheit aus Erde und Mensch zu reparieren, sondern um beide Pole vollends zu spalten und den Sinn des Lebens in eine unklare Zukunft zu verschieben.

„Kämpfe den guten Kampf des Glaubens; ergreife das ewige Leben, wozu du berufen bist und bekannt hast das gute Bekenntnis vor vielen Zeugen. 13 Ich gebiete dir vor Gott, der alle Dinge lebendig macht, und vor Christus Jesus, der unter Pontius Pilatus bezeugt hat das gute Bekenntnis, 14 dass du das Gebot unbefleckt und untadelig bewahrst bis zur Erscheinung unseres Herrn Jesus Christus, 15 welche uns zeigen wird zu seiner Zeit der Selige und allein Gewaltige:“

Fassen wir den Vergleich der primitiven Indianer mit den Superfortgeschrittenen zusammen:

„Im Gedanken der Weltfamilie pulsiert die Lebenszelle des indianischen Heidentums. Nichts trägt weiter als die Auffassung von der Vollständigkeit des Kosmos. Sind alle Welterscheinungen Brüder, dann darf keine im Ring der Weltfamilie fehlen. Hier wurzelt ein religiös begründeter Naturschutz, weil für den Indianer die Weltbrüderschaft unverletzlich bleibt.

Immer wieder beschwören Äußerungen der Indianer die Mutter Erde als zentrale Persönlichkeit des irdischen Lebens.

„Die Erde liebt uns.

Sie freut sich, wenn sie uns singen hört.“

Erst wenn wir die Einheit von Mensch und Natur besingen und den Fortschritt nutzen, um beide zu verschmelzen – werden wir es zu einem lebenswerten Kosmos schaffen.

Fortsetzung folgt.