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Das Graue V

Hello, Freunde des Grauen V,

das Graue –

die deutsche Erkenntnis der ununterscheidbaren, die Einsichtsfähigkeit des Menschen übersteigenden Komplexität von Gut und Böse,

die Lizenz zu einer nichts verbietenden und alles erlaubenden Macht- und Gewaltpolitik,

auch Staatsraison genannt, welche

„alle allgemeinen Moralgebote rücksichtslos beiseite schieben dürfe und müsse“,

um zu einer „höheren Moral“ zu kommen, einer

„über der allgemeinen und gewöhnlichen Moralität stehenden Sittlichkeit“,

ist die „vielleicht größte Revolution des Denkens, die das Abendland jetzt erlebte“.

So einer der renommiertesten Historiker Deutschlands im Jahre 1924. (Meinecke)

100 Jahre nach diesem euphorischen Fazit der Deutschen Bewegung, 75 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, steigen deren Giftdämpfe aus den Kloaken deutscher Geschichte verstärkt an die Oberfläche der Gegenwartspolitik, durchdringen die öffentlichen Äußerungen der Medien, Intellektuellen, wirtschaftlich-politischen Eliten und zersetzen den dünnen Firnis demokratischer Über-Ich-Bildung, den sich die Deutschen als Tribut an ihre Befreier angeeignet hatten.

Nach außen pflichtgemäß demokratisch, nach innen herrscht die Geschichte des Grauen und Grauens, die sich in allen Bereichen der Gesellschaft wiederholt, Zerwürfnisse mit den europäischen Nachbarn anheizt, das gemeinsame europäische Haus zum Einsturz bringt und die Gefahr neuer Kriege heraufbeschwört.

Ein dreiviertel Jahrhundert nach der Aufbruchsstimmung der Völker hat

sich der Fond demokratischer Erneuerung auf dem Grund mangelnder Aufarbeitung der Vergangenheit als unfähig erwiesen, einen echten Neuanfang auf der Basis der Vernunft und einer eindeutigen Moral zu beginnen.

Moral, die man vertritt, darf man nicht nur predigen. Das Ethos der Humanität muss man in privaten und politischen Taten nachweisen – oder deren mangelhafte Realisierung durch selbstkritische Wahrnehmung einräumen und entschuldigen. Nur so lassen sich Attraktivität und Echtheit der eigenen Moral in Worten und Werken nachweisen.

Der Westen wollte der Welt seine demokratische Überlegenheit demonstrieren und den Planeten in einen Ort kooperativen Wettbewerbs in friedlicher Zusammenarbeit verwandeln. Der Versuch ist gescheitert, weil die religiösen Miasmen des Westens ihre demokratischen Fassaden von innen zersetzen.

Die christlich-jüdische Religion des Westens ist inkompatibel mit religionsfreier Vernunft aller Menschen auf der Basis der Gleichheit, Freiheit und Geschwisterlichkeit. Ein Gott, der die Menschheit nach Willkür selektiert, 99PROZENT auf den Abfall der Geschichte wirft und EINPROZENT in den Garten Eden führt, ist unverträglich mit der Gleichwertigkeit aller Menschen.

Die Würde des Menschen gibt es nur ganz oder gar nicht. Antastbare Würde in diffusen Grautönen, in unerkennbarer Komplexität, ist eine Attacke gegen das Grundgesetz und die Menschenrechtserklärung der UN-Charta. Schwarz oder Weiß, Entweder-Oder: alles andere ist von Übel. Wie soll man die verletzte Würde des Einzelnen erkennen, wenn man sie nicht dingfest machen kann?

Dass eine widersprüchliche Moral die Menschheit zersetzt, verstehen Zeitgenossen nicht, die gar nicht wissen, was Widersprüche sind. Dialektische Breibildung, das Zusammenrühren von allem mit allem, begann als deutsche Philosophenkrankheit und infizierte den ganzen Westen, der die denkerische Kraft der Germanen bewunderte.

Vor kurzem noch sah Frau Merkel den Zustand Europas in bester Kondition. Heute schon beschleunigt sich der Zerfall des alten Kontinents in rasender Geschwindigkeit. In einem eindringlichen Artikel beschreibt der polnische Literat Andrzej Stasiuk die Andersartigkeit der Oststaaten, die bereits vom Intermarium, einem eigenen Zusammenschluss der östlichen Staaten reden.

„Vieles und immer mehr deutet darauf hin, dass es zwei Europäische Unionen geben sollte. Eine westliche und eine östliche. Wie Rom und Byzanz. Oder die DDR und die BRD. Das sollte so sein, weil wir wirklich anders sind. Wir sind von weither gekommen, sind aufgestiegen aus den Abgründen anderer Zeiten. Aufgetaucht aus irgendwelchen Gebirgen und Steppen, wo Geschichte, Politik und das Leben überhaupt die Dimension von Elementarkräften und Kataklysmen besaßen. In Zelten und Höhlen mussten wir ausharren, um diese Schicksalsschläge zu überdauern. Wir saßen an Lagerfeuern und bildeten uns ein, wir wären sogenannte Europäer. Wir dachten uns Mythen, Legenden und Märchen zu diesem Thema aus. Damit wir in den langen Nächten am Feuer etwas zu erzählen hatten. Wir waren Europäer, gewiss, aber andere.“ (Andrzej Stasiuk in WELT.de)

Wie der Westen den Osten nicht versteht, versteht das unvergleichliche Individuum das andere unvergleichliche Individuum nicht. Wenn alles unvergleichlich ist, kann es weder erkannt, noch formuliert werden. Das Unvergleichliche ist Erbe des Heiligen, das durch Bilderverbot von keinem Sterblichen definiert werden darf. Heute ist jedes soziale Atom unvergleichlich, man könnte es auch autistisch nennen.

Wie können Gesellschaften zusammenwachsen, wenn die herrschende Wirtschaft unerbittliche Konkurrenz und antisolidarisches Verhalten – no bail out – vorschreibt?

Merkel, Freundin der Barmherzigkeit, verübt bodenlose Unbarmherzigkeit gegen Griechen, Franzosen und alle schwächeren Länder, die durch die gewaltige ökonomische Überlegenheit der deutschen Exportwalze planiert werden. Die immer despotischer werdende Türkei wird von Merkel hofiert und mit Geld bestochen, damit sie Europa die Flüchtlinge fernhält. Griechenland wird unbarmherzig bestraft. Trotz elender Wirtschaftslage soll das geschundene Land immer mehr Asylanten akzeptieren.

Griechenland hätte in diesen Tagen gute Gründe, an der EU zu verzweifeln. Weil man in Brüssel meint, die Lösung der Flüchtlingskrise liege in der Türkei und nicht auch an ihren Küsten, stellt die EU dem Beitrittskandidaten Türkei Milliarden Euro an Finanzhilfe und sogar visafreies Reisen in Aussicht. Das krisengeschüttelte Griechenland dagegen soll aber aus dem Schengenraum ausgeschlossen werden, weil es mit der Situation überfordert ist.“ (Süddeutsche.de)

Frankreich kommt wirtschaftlich nicht auf die Beine, weil Deutschland nicht bereit ist, seinen wirtschaftlichen Erfolg mit fairen Löhnen zu begleiten. Der Sozialabbau seit Schröder verzerrt den wirtschaftlichen Wettbewerb zwischen beiden Ländern. Nicht der geringste Grund, dass die Franzosen die Front National zur stärksten Partei Frankreichs gemacht haben.

„Auch die Deutschen sind schuld, wenn der Front National aufsteigt. Denn Deutschland hat sich auf Kosten seiner Nachbarn saniert: Die Reallöhne wurden hier gedeckelt, um sich Wettbewerbsvorteile zu erschleichen.“ (Ulrike Herrmann in TAZ.de)

Auf der einen Seite asoziales Plattmachen in wirtschaftlichen Dingen, auf der anderen Seite pathetische Worte über die Erhaltung europäischer Werte.

Doch siehe, es gibt eine Beistandsverpflichtung zwischen den Nationen – in militärischer Hinsicht. Die mächtigste Frau der Welt wird von Hollande – der dank der Assistenz einiger IS-Krieger zum ruhmreichen Verteidiger der französischen gloire aufstieg – in einen Krieg gezogen, den sie nicht wollte. Kaum hatte sie erklärt, sie werde keine Kriegskanzlerin sein, ließ sie den Marschbefehl nach Syrien durch den Bundestag peitschen.

Wie verträgt sich Krieg gegen die einen mit Barmherzigkeit gegen die anderen? Nur durch Staatsraison, die es erlaubt, die Interessen des Staates mit Brutalität zu verfolgen, bei gleichzeitiger Propagierung des eigenen Heiligenscheins.

Die Wirklichkeit, sie ist widersprüchlich und muss mit widersprüchlichen Methoden kuriert werden. Beim naturalistischen Fehlschluss wollen die Menschen ihre selbst gewählte Moral der Natur in die Schuhe schieben. Beim hegelianischen Fehlschluss erklären sie ihre Moral zur Frucht des Weltgeistes: was wirklich ist, ist vernünftig, was vernünftig, wirklich. Wirklichkeit wird homöopathisch therapiert: Gleiches mit Gleichem. Ist die Wirklichkeit krank, soll sie mit kranken Methoden geheilt werden. Böse Menschen werden mit bösen Methoden traktiert, bis der Teufel sie holt.

Diese wenigen Beispiele zeigen die zerklüfteten Strukturen der Moderne.

A) Jeder Mensch spricht eine eigene Sprache. Wie kann bei gewollter babylonischer Sprachverwirrung Verständigung erzielt werden?

B) Kausale Ursachen der Konflikte sind abgeschafft: Schuldzuweisungen sind verboten. Gibt es keine Schuld, kann es auch keine Verantwortlichkeit geben. Alles kontingent, zufällig und komplex.

C) Probleme sind unlösbar. Wer sie für lösbar hält, ist ein populistischer Rattenfänger und Simplificateur.

D) Kaum eine Literaturkritik ohne den überschwänglichen Satz: gottlob erteilt der Autor keine Moralpredigt und zeigt nicht mit dem Finger auf andere. Denn böse ist jeder für sich selbst. Das religiöse Prinzip vom Splitter und Balken wird zum demokratischen Kritikverbot. Ob der Einzelne schuld ist oder nicht: seine staatsbürgerliche Pflicht ist es, die Mächtigen zur Rechenschaft zu ziehen und sie bei schuldhaftem Versagen in die Wüste zu schicken.

E) Obgleich das Grundgesetz eines demokratischen Staates aus einem Guss sein muss, gilt das Prinzip der Deutschen Bewegung: eine allgemeine Vernunft gibt es nicht. Die Realität ist eine Summa von unübersichtlichen, individuellen und unvergleichlichen Persönlichkeiten und Vorgängen. Gegen die Vernunft der Aufklärer erklärten Romantiker, Hegelianer und fast alle Dichter und Denker nach Kant den – damals noch nicht vorhandenen – deutschen Staat zum einmaligen und unvergleichlichen Organismus, der sich allen generellen Moralkriterien entzieht.

F) Jeder Mensch, jedes Volk, ist eine in sich geschlossene Monade. Verständigung zwischen isolierten Gebilden ist ausgeschlossen – es sei, über einen gemeinsamen transzendenten Glauben. Europa müsste wieder in den Schoß der mittelalterlichen katholischen Kirche zurückkehren, um den Kampf gegen heidnische Türken und Mongolen – heute Muslime und Terroristen – mit Erfolg zu bestehen.

G) Eine gemeinsame Wahrheit gibt es nicht – mit Ausnahme der neoliberalen Wahrheit, dass Glück und Erfolg auf grenzenlosem Wohlstand und technischer Überlegenheit beruhen. Schon ist in Silicon Valley die nächste Revolution der Menschheit angesagt, ob die Menschheit will oder nicht. Zwangsbeglückung nannte man vor kurzem noch Faschismus. Technische Zwangsbeglückung ist faschistischer Fortschritt ins Land der Unsterblichkeit.

H) Die Natur selbst ist eine coincidentia oppositorum, ein dialektischer Brei voll widersprüchlicher Unverträglichkeiten, die nicht unverträglich sein sollen. Wer solche Geheimnisse algorithmisch beherrscht, wird die Menschheit am Zügel führen:

„»Die Natur ist nicht zufrieden, wenn ein Objekt nur in einem einzigen Zustand existiert«, sagt Neven. In der Chemie und der Biologie sei zu beobachten, dass die Welt nur funktionieren kann, weil sie viele sich überschneidende Formen zulässt. »Aber wenn sich alles so entwickelt, wie wir erwarten, wird das die Welt revolutionieren«.“ (SPIEGEL.de)

Wenn die Welt überkomplex und zufällig ist, voller Widersprüche, ohne allgemeine Wahrheit und Moral, kann sie nur durch Methoden beherrscht werden, die sich allen eindeutigen Schwarz-Weiß-Kriterien entziehen.

Im Griechentum entstand Moral als widerspruchsfreie Disziplin. Wer eine Moral ablehnte, musste eine andere konzipieren, die mit der ersten inkompatibel war. Das Naturrecht der Starken war unverträglich mit dem Naturrecht der Schwachen.

Das Christentum – in Feindschaft wider alle autonome Logik – verrührte beide Naturrechte zu einem antinomischen Einheitsbrei, der seinen Gläubigen nichts verbot und alles erlaubte – wenn sie es denn in göttlichem Gehorsam exekutierten. Wer unter euch der Größte sein will, sei euer aller Diener. Die Starken sind die Schwachen, die die wahren Starken sind. Demut ist die Fähigkeit, sich klein zu stellen, um am Ende der Größte zu sein.

Machiavelli berief sich wieder auf das antike Naturrecht der Starken – und widersprach der Moral der Kirchen, die er fälschlich als widerspruchsfreies Entweder-Oder betrachtete. Einem Fürsten ist jede Moral erlaubt, die dem Interesse des Staates dient. Die Heuchelei christlicher Staaten – von Sanftmut zu reden, aber mit dem Schwert die Heiden auszulöschen – wurde in aller Offenheit zur neuen Interessenmoral erklärt, der alles erlaubt und nichts verboten ist.

Machiavelli wurde zum Heros der Deutschen Bewegung. Die Deutschen, lange Zeiten in schrecklich staaten- und machtlosem Zustand, von ihren europäischen Nachbarn gedemütigt und zu einem bedeutungslosen Gewirr von Fürstentümern zerschlagen, träumten von künftiger nationaler Größe und Ehre. Private Kammerdienermoral würde nicht genügen, um den erträumten Staat in der Mitte Europas gegen starke und missgünstige Nachbarn zusammenzuschmieden. Also musste die Moral den besonderen Interessen der neuen Nation angepasst werden.

Allgemeine Vernunftmoral wurde verworfen. Jede Nation definiert ihre Moral nach ihren Bedürfnissen und Interessen. Im Innern des Staates, bei privaten Bürgern, sollte zwar nach wie vor die bekannte Moral des Dekalogs herrschen (die keine Moral, sondern eine Verpflichtung zum Glauben war), doch im Bereich der Außenpolitik sollte alles möglich sein, was zum Erhalt und der Erweiterung des Staates dienen konnte.

Moral und Amoral wurden zum dialektischen Einheitsbrei. Heuchelei wurde abgeschafft. Niemand wollte den Staat zum privaten Mustermann degradieren, der heucheln musste, wenn er Böses tat. Sind alle Mittel erlaubt, ist keine Grausamkeit, Hinterlist und Brutalität im Dienste des Staates verboten.

Gewaltpolitik wurde zum Gottesbeweis unter den Völkern. Wer den Gegner besiegte, war ein Auserwählter Gottes:

„Der Krieg allein ist es, der jedem Volke seinen wahren Platz anweist und seiner Tatkraft diejenige Domäne zuteilt, die der biologischen Gerechtigkeit entspricht. Der Krieg ist die wahre und gerechte Prüfung der Völker: Gott selbst offenbart sich im Siege und läßt das Wesen über den Schein triumphieren. Es ist Gottes Gesetz selber, das die Besiegten verurteilt, und es ist darum auch Gottes Willen gemäß, dass der Sieger die Friedensbedingungen so diktiert, dass seine innere Stärke auch in äußerer Macht und Größe in Erscheinung tritt.“ (General von Bernhardi)

Diese Sätze wurden in der Zeit des Ersten Weltkrieges geschrieben. Im Jahre 1923 erschien ein Buch unter dem Titel „Post Christum“ von Karl Petras. Darin wurde eine neue Welt hemmungsloser politischer Barbarei angekündigt. Nicht im stolzen Ton eines neuen Programms, sondern beinahe demütig, als ein hartes und schweres Schicksal, das der deutsche Mensch ohne Widerrede auf sich nehmen muss. Dort hieß es: „Wir sind unbekannte Soldaten eines unbekannten Schicksals. Der deutsche Mensch hat die Illusionen von 2000 Jahren von sich getan und akzeptiert demütig das Gesetz der Bestie.“

10 Jahre später übernahm jener Barbar das politische Ruder im 1000-jährigen Reich, der seinen fanatischen Gläubigen das Geheimnis verriet, wie man die ganze Welt mit Krieg überziehen und Völker vernichten kann, ohne die Demut der Bestie zu verlieren. Sie wateten in Blut und blieben dennoch anständig. Die Saat der deutschen Staatsraison, der amoralischen Moral oder moralischen Amoral ging auf.

Die antinomische Moral des Christentums hatte politisch-philosophisches Format angenommen. Sündige tapfer, habe keine Hemmung, eine wilde Bestie zu sein – wenn du nur an den gottgesandten Führer glaubst. Die Saat des lutherischen Hegel und frommer Romantiker von der Beliebigkeit der Mittel im Dienst des erwählten Volkes war tausendfältig aufgegangen. Der Historiker Friedrich Meinecke beschrieb die neue Atmosphäre, die vom kategorischen Kant Abschied genommen und sich die Lizenz zu gottgleicher Willkür hatte geben lassen:

„Der bisher herrschende Glaube an eine Allgemeingültigkeit der Vernunft wurde erschüttert und abgelöst durch die Erkenntnis, dass die Vernunft sich in unendlich mannigfaltigen Formen offenbare. Hier gäbe es nur individuelle, nicht generelle Lebensgebote. Alles in der Geschichte sah nun anders aus als bisher, nicht mehr einfach und übersehbar, sondern perspektivisch mit unausmessbaren Hintergründen, nicht mehr in Wiederkehr zeitloser Wahrheit, sondern mit ewiger Neugeburt des Eigenartig-Unvergleichlichen. Dies tiefere Weltbild, das der entstehende deutsche Historismus schuf, erforderte ein biegsameres Denken, eine kompliziertere, phantasievollere, zu mystischem Dunkel neigende Begriffssprache. Cicero, Thomas von Aquin und Friedrich der Große hätten sich verstanden, wenn sie einander begegnet wären. Alle drei sprachen die leicht verständliche Begriffssprache des vernünftigen Naturrechts. Bei Herder, Goethe, Hegel und den Romantikern hätten sie Worte und Dinge gefunden, die ihnen unbegreiflich und abenteuerlich gedünkt hätten.“

Hegels dialektische Einheit der Gegensätze vereinte Humanität und Bestialität zur sittlichen Einheit. Alles, was dem Staate nützt, ist sittlich unanfechtbar. Was ihm schadet, ist verwerflich. Die Nützlichkeit für den Staat, der allen Untertanen die Lebensregeln vorgibt, entscheidet über Gut und Böse.

Über der ordinären Vernunftmoral der Griechen und Aufklärer erhebt sich die neue Sittlichkeit der von Gott auserwählten deutschen Nation, die der Welt das Heil bringen wird. Keine Untat im Namen des Staates, die amoralisch gescholten werden könnte. Die Bestien wurden zu Rittern des heiligen Kriegs, zu Helden fleckenloser Sittlichkeit.

„So nahm Hegel eine geniale Verbindung von rücksichtslosem Realismus und transzendierender Betrachtung des Lebens vor. Der Schmutz der Wirklichkeit, der den Philosophen umgab, beschmutzte ihn nicht. Er ballte ihn vielmehr mit spielender Hand zusammen und formte aus ihm die Bausteine seines göttergleichen Palasts. Die Philosophie erklärt das Wirkliche, das unmoralisch scheint, zum Vernünftigen.“

Der Staatsrechtler Hermann Heller hatte Hegels Weltgeist als Verherrlichung einer bedenkenlosen nationalen Machtpolitik kritisiert. Meinecke widerspricht dieser Bewertung. Hegels Staatsraison sei nur vordergründig an Macht interessiert.

„Letzten Endes gipfelte seine Geschichtsphilosophie in einer erhabenen Kontemplation als höchstem Werte, den der menschliche Geist erreichen kann.“ Das ist der Gipfel deutschen Größenwahns, der Teuflisches und Göttliches in unbefleckter Reinheit verbinden wollte: wenn sie schon Völkerverbrechen begingen, dann in kontemplativer Gelassenheit. Keine kleinbürgerlich-moralisierende Hysterie beim Ausrotten von Millionen Menschen.

Dem Westen warfen die Deutschen Heuchelei (cant) vor. Wie alle Staaten würde er brutal und rücksichtslos gegen andere Völker vorgehen, gleichzeitig aber stets große Reden über Demokratie und Menschenrechte schwingen. Diese nationale Heuchelei wollten die Deutschen durch dialektische Einheit von Gut und Böse für immer vermeiden.

Die Deutschen brachten das Kunstwerk fertig, die griechische Erfindung der Moral zur humanen Beglückung der Menschheit in ein religiöses Instrument ihrer Bestialität zu verwandeln. Das Böse, welches sie in den Dienst des Guten zwingen wollten, wurde durch List der Unvernunft zur Vernichterin des Guten. Das Teuflische wurde zum Sittlichen erklärt. Deutsche Bestien wurden zu Heiligen eines von Gott geliebten Volkes.

In der Illusion, Geschichte könne sich nicht wiederholen, wähnen die Deutschen sich von aller Vergangenheit befreit. Ihre Bewunderung moralischer Komplexität und Unerkennbarkeit, ihre Anbetung ethischer Grautöne und feiger Unentschlossenheit – zurzeit noch gebremst von gelegentlicher Aufwallung des Humanen –, wiederholen immer stärker die demütige Amoral ihrer Vorfahren.

Der Sprung in den Krieg, die Politik ihrer grauenhaften Widersprüche, die keine sein sollen, der Ruck nach rechts: all dies sind Früchte ihrer wiedererwachten Vergangenheit, die nicht vergehen will, weil sie nicht vergehen soll.