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Das Graue I

Hello, Freunde des Grauen,

Grau, teurer Freund, ist alle Theorie,
Und grün des Lebens goldner Baum.

Doch der den Augenblick ergreift,
Das ist der rechte Mann.“

Dass ein goldner Baum grün sein kann, überlassen wir der schillernden Freiheit des Poeten. Warum aber lieben die Deutschen die Farbe grau, obgleich Grauen, Gräuel und Grausamkeiten von dieser Farbe abgeleitet werden?  

Sie lieben das Graue und hassen das Schwarz-Weiß-Denken, das Alles oder Nichts, das Richtig oder Falsch, das Entweder–Oder, den Satz vom ausgeschlossenen Widerspruch. Da fehlt doch noch was? Richtig: das Gute oder Böse, personalisiert in Gott oder dem Teufel.

Doch jetzt wird’s duster. Wie kann man das Gute oder Böse ablehnen – doch das Böse zunehmend als Erklärung alles Schrecklichen favorisieren, ja, bereits auf Knien anbeten, wie es die Deutschen mehr und mehr tun? Vor allem: was hat grau mit dem Augenblick zu tun, den ein rechter Mann ergreifen soll?

(Versteht sich, dass Frauen ungeeignet sind, den rechten Augenblick zu ergreifen. Schließlich schrieb Goethe eine Tragödie über Macho Faust und nicht über Madame Fäustin. Auf den Höhengraden des Geistes bleiben Männer gern unter sich. Seit der Aufklärung ist die Frau zum abgefeimten Bösen nicht mehr geeignet, weshalb auch Mephisto sowohl Schweif- wie auch Schwanzträger sein muss. Gretchen ist ein naives Dummerchen, das gerade noch rechtzeitig ihrem überflüssigen Balg ins Jenseits folgen darf, um der Karriere des faustischen Mannes zum grauen-haften Menschheitsbeglücker nicht länger im Wege zu stehen. Weib und Kind sind Hindernisse in der Erfolgsgeschichte des Mannes, weshalb sie inzwischen

bis auf wenige kümmerliche Reste abgeschafft worden sind. In Faust II gibt’s nur noch tote Phantasie-Frauen wie Helena, mit denen Faust sich herumschlagen darf. Im schnöden Leben gibt’s keine gleichwertige Partnerin für den Mann, weshalb er sich eine aus der Erinnerung an goldene Zeiten selbst basteln muss. Eva, die dem arglosen Urmann das Böse unter die Weste jubelte, war auch nur Verführungsobjekt eines männlichen Teufels.)

Der Augenblick ist Sprössling der linearen Heilsgeschichte, die Sturm laufen musste gegen die zeitlose Wahrheit der Griechen. Wahres wie Unwahres waren zeitlos wahr oder falsch, dachten die Griechen, die sich‘s schon damals zu einfach machten – würden Merkel & Schäuble heute sagen, wenn sie nur die geringste Ahnung von Philosophie hätten.

Die lineare Heilszeit ist die Summe unendlich vieler Augenblicke. In jedem Augenblick kann das Wahre zum Falschen, das Falsche zum Wahren erklärt werden – durch Ukas des Himmels, der das Wahre täglich neu und anders offenbart.

„Kierkegaards Denken in Sätzen zu beschreiben ist schwierig, denn was er zur Geltung bringen wollte, war gerade, dass Wahrheit nicht in – zeitlosen – Sätzen gelehrt werden könne, sondern eine Bewegung des Menschen in der Zeit sei. In diesen Zusammenhang gehören seine Kategorien „Augenblick“, Wiederholung und „Sprung“ sowie sein pseudonymer, provokanter und paradoxer Stil. Das Wesentliche am Christentum war ihm, dass die Wahrheit in der Zeit (in Christus) gekommen sei und der Mensch nur ein Verhältnis zu ihm haben könne, indem er ihm gleichzeitig werde.“

Wenn Christus Wahrheit, Wahrheit aber Zeit ist, muss Christi Wahrheit – sich täglich neu erfinden können. Das ist der theologische Urgrund der heutigen Deutungswillkür, die sich stets der neuesten Zeitgeistphilosophie bemächtigt, um den zeitlosen Buchstaben zu töten und den linear-flotten, sich stets verwandelnden Geist zum allwissenden Orakel zu erklären.

Als die Zeit erfüllet ward: seitdem ist Wahrheit dem Diktat der Zeit unterworfen. Man muss es paradox formulieren: im Bereich der Offenbarung gilt die zeitlose Wahrheit, dass Wahrheit eine Variable der Zeit ist. Die Gläubigen der Heilszeit haben sich zu Diktatoren der Wahrheit ernannt, um in selbstherrlicher Unfehlbarkeit der Welt den neuesten Börsen- und Zeitwert der Wahrheit ex cathedra zu verkünden.

Der Mann, der den rechten Augenblick ergreift, muss auf zeitlose Wahrheit und Moral verzichten. Wahr ist, was dem jeweiligen Augenblick entspricht und morgen schon wieder veraltet und unangemessen sein kann. Ein zeitloses Kriterium des Wahren gibt es nicht. Nur so sind die heute beliebten Schlagzeilen zu verstehen: eins und eins müssen nicht immer zwei sein. Alle Wahrheiten, von denen der Mensch lebt, sind so alt wie der Mensch selbst.

Jetzt stehen wir am tiefsten Punkt der modernen Ökokatastrophe. Wenn Wahrheit der Natur zeitlos ist, die Wahrheit des Menschen aber die zeitlose Naturwahrheit durch ständig wechselnde Wahrheiten ignoriert und attackiert, müssen beide Wahrheiten einen Kampf auf Leben und Tod führen.

Grenzenloses Wachstum der Wirtschaft muss die Grenzen der Natur sprengen und ihre Substanz zerstören. Folgt der Mensch wechselnden Wahrheiten, die Krieg führen gegen zeitlose Wahrheit der Natur, müssen beide unvereinbare Wahrheiten ihn in der Mitte zerreißen. Wenn eine Religion es für richtig hält, naturfeindliche Wahrheit als unfehlbare göttliche Wahrheit zu etablieren, muss er sich für eine Wahrheit entscheiden – oder der Kampf um Sein oder Nichtsein wird ihn zerstören. Das ist ein Entweder-Oder, das Grautöne nur solange zulässt, solange die Natur in der Lage ist, die feindliche Widersprüchlichkeit des Menschen zu ertragen und auszugleichen.

Dem Zeitpunkt des irreversiblen Entweder-Oder ohne Kompromisse und Grautöne nähern wir uns mit Lichtgeschwindigkeit. Die Fähigkeit der Natur, die Vernichtungsangriffe des Menschen zu kompensieren, ist irgendwann erschöpft. Die ansteigende Klimaerwärmung zeigt das rasend schnell herbeikommende Ende der natürlichen Kompensationsfähigkeit.

Kann Natur die Kompromisse oder Grautöne der bisherigen Naturzerstörung nicht mehr wegstecken, würde sich das Entweder-Oder der beiden Wahrheiten in aller kategorischen Ausschließlichkeit zeigen. Entweder reale Natur – oder imaginäre Übernatur. Der christliche Glaube produziert, woran er glaubt: die apokalyptische Vernichtung der irdischen Natur zugunsten einer imaginären neuen Jenseitsnatur. Wer an eine Fata Morgana glaubt, hat sein Haus auf Sand gesetzt und gefährdet das Überleben aller Häuser.

Was heißt das? Ist das Überleben der Gattung mit einem Credo vereinbar, welches das Ende der bestehenden Natur ansteuert? Theoretisch auf keinen Fall. Doch tun die Christen, was sie glauben? Glauben sie wirklich an das nahende Ende der Heilsgeschichte?

a) Fundamentale Christen wie die amerikanischen glauben wortwörtlich an die baldige Wiederkunft ihres Herrn, verbunden mit Vernichtung der alten Welt und Erschaffung einer neuen, die ihre zukünftige Heimat werden wird. Gläubige Christen werden die Geschichte als Sieger beenden und in der neuen Welt Lieblinge Gottes auf ewig sein. Hier gründet der Protest der Republikaner gegen alles aufsässige „Heidentum“, dessen ökologische Versuche sie als satanische Gotteslästerung empfinden.

b) „Aufgeklärte“ Christen wie die Deutschen fühlen sich – dank diverser „Entmythologisierungen“ – über Glaubensartikel wie das Ende der Welt erhaben. Bewusst glauben sie nicht an die kosmischen Erschaffungs- und Vernichtungsmythen. Kirchen allerdings, die solche Glaubensartikel bislang versteckten und verdrängten, befinden sich in reaktionärer Rückwendung in den Fundamentalismus. Das Jüngste Gericht müsse wieder ernst genommen werden, lauten zunehmend die Botschaften führender Kirchenvertreter.

c) Unabhängig von bewusstem Glauben oder Unglauben sind die Tiefenstrukturen der christlichen Weltpolitik schon seit Jahrhunderten – spätestens seit dem hohen Mittelalter – eschatologisiert oder das Ende der Geschichte herbeiführend. Der technische Fortschritt des Abendlands ist nichts anderes als das Voranschreiten der Christenheit, um ihrem wiederkommenden Herrn entgegen zu eilen.

d) Hier gibt es einen klaffenden Widerspruch zwischen amerikanischen und deutschen Christen. Glaubensfeste Amerikaner kennen die biblischen Gründe ihrer vehementen Ablehnung der ökologischen Politik auswendig. Deutsche Christen, der Bibel unkundig, ignorieren die eschatologischen Strukturen der Moderne. Weshalb deutsche Naturschützer – wie die Grünen und die meisten Umweltverbände – sich als christlich und naturschützend definieren. Gemäß dem uralten Imperativ, die Schöpfung zu bewahren. Dass diese Bewahrung identisch ist mit dem Satz: Machet euch die Erde untertan, wollen sie nicht wahrhaben. Ebenso, dass die göttlichen Imperative nur gelten, solange Gott Geduld mit der irdischen Erde aufbringt. Irgendwann aber wird seine Geduld erschöpft sein und er wird dem ganzen sündigen Spuk ein Ende verpassen. Schöpfung aus dem Nichts und Erschöpfung ins Nichts bedingen sich gegenseitig. Das Ende wird kommen als Schrecken für die Ungläubigen, als jubelnde Freude für die Erwählten.

Ist Paris, aufgrund der Dominanz christlicher Weltpolitik, zur Erfolglosigkeit verurteilt?

Das hängt davon ab, in welchem Maß die Christen die traditionellen Glaubensartikel des christlichen Credos tatsächlich überwunden haben oder ihnen noch immer buchstäblich anhängen. Die barbarische Rachemoral ihrer heiligen Schrift haben sie tatsächlich in erheblichem Maße überwunden. Bewusst wollen die meisten im Sinne der Menschenrechte human sein und sonst nichts.

Doch törichterweise sind sie davon überzeugt, dass die Grundlagen ihrer demokratischen Humanität in der Schrift formuliert seien. Davon kann keine Rede sein. Wären humanisierte Christen konsequent, müssten sie sich vom Buchstabentext der Bibel lösen – ohne die Loslösung mit ängstlichen, schriftfixierten und priesterkonformen Deutungen zu unterlaufen. Solange sie human sein wollen, ohne die Nabelschnur zur Bibel zu durchschneiden, beherbergen sie in ihrer Mitte, ob sie es wissen oder nicht, die biblische Botschaft als trojanisches Pferd, aus dem der giftige Sinn der Buchstaben nach Belieben entschlüpfen und ihr Tun verseuchen kann.

Der parallele Vorgang bei den Muslimen: die überwältigende Mehrheit der Muslime lehnt die Terrorakte einiger Fanatiker eindeutig ab. Auch Muslime haben den barbarischen Buchstaben ihres Korans in ihrer Alltagsethik längst überwunden. Doch solange sie den Buchstaben nicht eindeutig kritisieren und verwerfen, decken sie ungewollt die Tatsache, dass wenige Desperados sich zu Recht auf den Text der Schrift berufen können, um ihr schreckliches Tun zu legitimieren.

Wer seine heiligen Schriften nicht verwirft, um seine eigene Bibel zu formulieren, macht sich – wissentlich oder unwissentlich – mitschuldig an allen Untaten, die im Namen der archaischen Schriften verübt werden.

Viele Nahost-Experten lehnen die Analyse der kriegerischen Zerwürfnisse als religiös verursachte Konflikte ab. Sie hegen die falsche Vorstellung von Religion als einer unpolitischen, rein innerlichen Spiritualität, die mit Macht- und Geldinteressen nichts zu tun haben kann.

In der Tat, es gibt pazifistische Religionen, die keiner Fliege was zu Leide tun. Die drei Erlöserreligionen gehören nicht dazu. Ihre gepredigte Doktrin ist identisch mit ihrer realen Weltpolitik. Ihr ideologischer Endzweck ist in ihren Schriften eindeutig als politischer und geistiger Gesamtsieg über die böse Welt definiert. Dies nicht nur im Geist der Sanftmut, sondern einer antinomen Moral, der alles erlaubt und nichts verboten ist – sofern es um die Vollstreckung des göttlichen Willens geht. Und darum geht es immer.

Um der ökologischen Rettung der Welt eine Chance zu schaffen, bedarf es einer umfassenden Aufklärung mit zwei Zielrichtungen.

a) Bibelfesten Fundamentalisten muss klar gemacht werden, dass ihr apokalyptischer Glaube – realisiert in Technik, Wirtschaft und Politik – den Untergang der Menschheit bedeutet. Amerikanische Buchstabenchristen müssen über ihre feindselige Anti-Ökologie-Politik nicht aufgeklärt werden. Ihren Vernichtungswillen über die Natur kennen sie am besten und halten die Zerstörung der Welt für ein striktes Gebot ihres messianischen Glaubens. Kompromisse mit solch naturfeindlichen Fanatikern sind ausgeschlossen.

b) Scheinaufgeklärte deutsche Christen müssen darauf aufmerksam gemacht werden, dass sie – ohne es zu wissen – politischen Prinzipien folgen, die das eschatologische Credo in selbsterfüllendem Gehorsam vollstrecken. Ob man gläubig ist oder nicht: der abendländischen Verwandlung des Endzeitglaubens in Technik, Naturwissenschaft und Weltpolitik entgeht niemand – es sei, er bekämpfe die naturfeindlichen Tiefenprinzipien der Moderne in vollem Bewusstsein. Das wäre eine radikale Revision aller suizidalen Fortschrittsmythen, gigantesquen Eroberungsvisionen des Universums und der algorithmischen Erfindung der Unsterblichkeit.

c) Kein ökologisches Ziel ist erreichbar ohne utopisch-moralisches Tun der Nationen im Namen der Gerechtigkeit, Freiheit und Gleichheit. Solange die Menschheit glaubt, dass ihre Probleme unlösbar sind, solange werden sie unlösbar sein.

d) Naturverträgliche Gattung kann nur durch freie Einsicht der Vernunft erfolgen, die jeder Mensch als Geschenk der Natur erhielt. Was er als unentfaltetes Präsent erhalten hat, muss er durch autonomes Tun und Denken zur weltgestaltenden Realität entwickeln.

e) Bezeichnet man das Überleben der Gattung als weiß, ihren kollektiven Selbstmord als schwarz, kann es zwischen weiß und schwarz in finaler Hinsicht keine grauen Zwischentöne mehr geben. Zwischen Leben und Tod gibt es keine Kompromisse. Da wir aber nicht perfekt sind und in Versuch und Irrtum lernen müssen, gibt es dennoch Kompromisse allmählichen Begreifens. Aus ihnen ziehen wir den Schluss, dass die Zeit der Grautöne dabei ist, in rasender Geschwindigkeit vorbeizugehen.

Bei allen Zugeständnissen an unsere Unvollkommenheiten müssen wir uns klar machen, dass es letztlich nur zwei Ausgänge der Geschichte geben kann: den weißen oder den schwarzen. Grautöne selbst sind nichts als Mischungen aus mikrologisch-unscheinbaren schwarzen und weißen Elementen. Wir können sie nur überwinden, wenn wir das Graue mit dem unbestechlichsten Kriterium messen, das uns zur Verfügung steht: dem Maßstab des Weißen und Schwarzen, Wahren und Falschen, Heilsamen und Verhängnisvollen, Guten und Bösen. Nicht dem Bösen in theologischer Sicht, sondern dem Verirrten, Verzweifelten und Destruktiven, das durch Schuld seiner Umgebung böse werden musste. Das Böse ist Frucht menschlichen Versagens, nicht Erfindung metaphysischer Teufel und Dämonen.

f) Es geht nicht um finalen Streit zwischen Glauben und Unglauben. Sondern um Gestaltung unseres Glaubens, unserer Philosophie oder Weltanschauung im Einklang mit der Natur und in Verbundenheit mit der Menschheit.

An unseren Früchten sollen wir uns erkennen. Entweder die Früchte werden verträglich mit Mensch und Natur – oder wir müssen der bezaubernden Erde auf ewig Ade sagen.

Die Zukunft wird schwarz sein oder weiß. Ein Drittes gibt es nicht.

 

Fortsetzung folgt.