Abgesang auf Amerika
zwei Momentaufnahmen aus Amerika, die weit über den Moment hinausgehen. Reinen Herzens kann sich kein Deutscher über den Verfall seiner Befreier freuen. Erzwungene Dankbarkeit erzeugt eh nur Ablehnung und keine wärmenden Gefühle. Amerika, du hast es besser, du hast keine Burgen und Schlösser, das konnte nur ein Weimaraner dichten, der die Stickluft seiner eigenen Winkelkulissen nicht ertrug und von Amerika keinen blassen Dunst hatte. Heute eilen Stars aus Kalifornien nach Bayern, um sich eine Burganlage mit Bodenheizung zuzulegen.
Wenn Amerika fällt, müssen sich die Deutschen von ihrer Ambivalenz verabschieden. Durch Bewunderung und Hass haben sie bislang den Kontinent der unbegrenzten Möglichkeiten als ihr Land der Länder stabilisiert. Solange Amerika umstritten war und die Völker polarisierte, konnte es die Miserablen der Welt in seinen Bann ziehen. Abschied nehmen von Amerika heißt Abschied nehmen von der schönen neuen Welt.
Die Vereinigten Staaten hatten keinen Kapitalismus, sie waren der Kapitalismus. Wenn Gottes Land untergeht, wird sich das anders abwickeln als beim Fall der Sowjetunion, das im geübten Leiden der Mamuschkas nur in sich selbst versank und, nach kurzer atheistischer Phase, zu Väterchen Gott zurückkehrte. Russland war kein babylonischer Turm, …
der, als er zusammenstürzte, viele unter sich begrub. Amerika ist zu groß, um sich folgenlos aus der Geschichte zu verabschieden. Gibt es eine Alternative zum herrschenden Wirtschaftssystem? Die Frage ist identisch mit jener: gibt es eine Alternative zu Amerika?
Mit welch außerordentlichen Ansprüchen ist der riesige Kontinent einst an den Start gegangen! Seine Flagge zeigt weiß, rot und blau. Weiß steht für Reinheit und Unschuld, rot für Tapferkeit und Widerstandsfähigkeit, blau für Wachsamkeit, Beharrlichkeit und Gerechtigkeit. Fünfzig Sterne leuchten der Welt den Weg durch die Nacht, bis die Sonne am Horizont erscheinen wird. Sie wird nicht erscheinen, sie ist schon erschienen und hat die Völker betört, verzaubert und verhext.
Nicht das marode und hochnäsige Britannia wurde zum kapitalistischen Prunk- und Vorzeigeland. Es war das neue Kanaan, der lebendige Beweis, dass der Gott Abrahams, Isaacs und Jakobs noch lebt und seine Wundertaten wiederholen wird, wenn er nur will. Die althebräische Landnahme, der Sieg über die Heiden, wurde erneut realisiert als Sieg über die wilden Ureinwohner. Nach tausenden Jahren Abstand zur ursprünglichen Heilstat, in einem unbekannten, neuen Kontinent, den Gott wie ein Wunder aus dem Meere zog und den Seinen zukommen ließ.
Hatten alteuropäische Christen nicht darunter gelitten, dass nach kurzer Apostelzeit der Herr des Himmels keine Wunder mehr geschehen ließ, um die Ungläubigen von seiner Kraft und Herrlichkeit zu überzeugen? Hier geschah das Wunder, die Geburt der Moderne aus dem Geist des göttlichen Zaubers.
Wie konnte nur die Fehlrede von der Entzauberung der Neuzeit aufkommen? Das mussten pessimistische Alteuropäer gewesen sein, die den Untergang des Abendlandes als unumkehrbare Trostlosigkeit erfuhren. Noch einmal bäumte Europa sich auf, konzentrierte seine chiliastische Restenergie im Volk der Mitte, um die Welt endgültig zu erlösen – oder zu vernichten. Was theologisch auf dasselbe hinausläuft. Danach versank Europa, wurde zum Darmfortsatz seines gigantischen Sprösslings, der nicht nur den sozialistischen Rivalen mit bloßer Kraft seiner Wohlstandsverheißungen niederrang, sondern die ganze Welt mit grenzenlosen Perspektiven betörte.
Now its time, to say Goodbye. Das alte und neue Kanaan verlieren synchron die Strahlkraft ihrer Anfänge. Es ist nicht der pure Mammon. Es ist der Gott des Mammons, der Messias der unbegrenzten Zukunft und des Sieges über die Natur, die ihre Zeit hatte und nun abtreten müssen. Es waren immer nur Ansätze von Reinheit, Unschuld und Gerechtigkeit, die jenseits des großen Meeres verwirklicht wurden: solange Amerika im Rausch seiner jugendlichen Glorie sich als auserwähltes Land unter allen Völkern fühlen konnte.
Im Niedergang triumphieren galoppierende Schuld und schreiende Ungerechtigkeit. Das Blut ihrer Opfer schreit nicht nur in Guantanamo zum Himmel, nahezu die ganze Welt haben sie gegen sich aufgebracht. Der Traum aus Cadillac, Swimming Pool, Cowboyhut ist zerstoben.
Wenn Amerika sich finden will, muss es tun, was es schon immer propagierte, aber noch nie bewiesen hat: es muss sich neu erfinden. Nicht mehr als Leitstern der Menschheit, sondern als lernfähiges Volk, das sein Prassen auf Kosten der Natur und Nationen einstellt, sich begnügt mit gerechtem Anteil an den Schätzen der Welt, sich bußfertig und gleichberechtigt einreiht in die Ökumene der Völker.
Hier entlarvende Berichte über ein heruntergekommenes Riesenland. „Mein armes Land“ – über Los Angeles und eine kollektive Droge, dem high fructose corn syrup, ein in fast alle Lebensmittel eingebauter Süßstoff, der zum sinnlichen Pendant des Opiums fürs Volk geworden ist. Der Glaube genügt nicht mehr, die Erben der Puritaner wollen den Leib ihres Herrn und Heiland nicht mehr als staubtrockene Oblate, sondern als pappsüßer Energiespender schmecken und empfinden. Sehet und fühlet, wie köstlich es ist, im verheißenen Lande zu leben, wo Milch und Honig fließen. Selbst wenn der Honig in chemischen Laboratorien zusammengepantscht wird und niemand mehr weiß, was er zu sich nimmt, wovon er lebt oder krepiert.
Und ein anderer Bericht über die reiche Familie Madoff, ein Buch über eine Familie, die mit angehaltenem Atem in Saus und Braus lebte, ihr intaktes familiäres Binnenleben mit Anschluss an das Heilige zelebrierte und keine Sekunde daran dachte, nach der Legitimation ihres Wohllebens zu fragen. Über Nacht entpuppte sich der Reichtum als ungeheurer Bluff, die Familie zerbrach, der Patriarch wanderte ins Gefängnis, sein betrogener Sohn brachte sich um. Nun verflucht ihn die Frau des Sohnes mit entlarvenden Memoiren.
Die Familie ist repräsentativ für den amerikanischen Traum, der in beängstigendem Tempo zerplatzt zwischen haltlosen Versprechungen, ruchlosem Optimismus und verblendetem Wahnsinn. Noch ist der Alptraum nicht zu Ende: selbst im Gefängnis feiert sich der Täter wie ein Auserwählter.