Kategorien
Tagesmail

Mittwoch, 14. August 2013 – Moral der Erde

Hello, Freunde des Flanierens,

Deutsche wandern, Fromme pilgern und wandeln vor dem Herrn, Franzosen und Weltmänner flanieren. „Der Flaneur ist intellektuell und gewinnt seine Reflexionen aus kleinen Beobachtungen. Er lässt sich sehen, aber sieht auch, wenngleich mit leichter Gleichgültigkeit.“ Er gehört zur Menge, zu der er nicht gehören will, weshalb ihn manche als blasiert bezeichnen.

Flaneure sind ungefährlich, sie wissen nicht mal, wie man Bomben bastelt. Terroristen würden sich heute als Flaneure tarnen, weshalb sie die Gefährlichsten sind. Also dürfen sie beim müßigen Schauen quer durch die Stadt nie der Kontrolle des Staates entwischen. Allein, dass sie sich erlauben können, malochefrei herumzustrolchen, muss die versteckten Prismen des Staates in Erregung versetzen. Müssten die Dandys nicht längst an einem Schreibtisch sitzen, um das Wachsen des Wohlstands zu befördern? Welche Müßiggänger können sich erlauben, funktionsfrei alle Menschen zu beleidigen, die zielgerichtet ihren Jobs nachhasten?

Zu den öffentlichen Kameras in London kommen nun observierende Mülleimer, die die anonyme Masse als ambulante Subjekte dingfest macht. Bald werden die Gehwege mit Sensoren untertunnelt, um den Untertanen nie allein zu lassen. Der Staat lässt seine Untertanen nicht im Stich. Ob sie shoppen, walken, oder joggen, das gütige Auge des Staates ist stets über ihnen: Ihr seid meine geliebten Untertanen, die meine Fürsorglichkeit brauchen. Würde ich’s denn tun, wenn ich nicht wüsste: ihr wollt es doch auch? (Die TAZ)

Alle Aufregung über Spähen und Beobachten ist vorbei. Der zuständige Berliner Minister für passives Bespähtwerden namens Pofalla hat mit 

befreundeten englischen Spähmülleimern konferiert. Die haben ihm bestätigt, dass nur Inländer müllmäßig überspäht werden. Mit Bestimmtheit keine wandernden Germanen. Deutsche Speier und Späher sollen, nach geheimen Informationen, schon dabei sein, das angelsächsische Mülleimerkonzept zu diversifizieren.

Da in Deutschland Mülltrennung herrscht, können Biotonnen Veganer und Umweltbewusste leicht von Restmüll-Unbelehrbaren trennen und den Behörden nützliche Hinweise über jene Populationen liefern, denen korrektes Müllbewusstsein fehlt.

Wie oft kommt es in efeubewachsenen Berliner Müllinseln vor, dass der Inhalt der Gelben Säcke beim Restmüll landet, braune Flaschen bei den weißen fremd gehen und der einsame Bioeimer fast immer leer ist. Sollten die Berliner das Kochen verlernt haben? Aus solch erschreckenden, aber lebenswichtigen Daten könnte Umweltministerin Aigner wertvolle Schlüsse ziehen, was sie demnächst zwar nicht tun, aber ihr Nichtstun in sympathischem Bayrisch rechtfertigen will.

Wusste jemand, dass der Mensch an sich auch soziale Menschenrechte hat? Wozu das Recht auf Wohnen, Nahrung, Sanitärversorgung, Gesundheit, Bildung und Arbeit gehört? Schon 1966 haben die Vereinten Nationen diese sozialen Menschenrechte im UN-Sozialpakt verankert. Der Politikwissenschaftler Michael Krennerich hat dazu ein Buch geschrieben.

Streng genommen müssten die Regierungen aller Staaten angeklagt und wegen Verletzung der sozialen Menschenrechte in einen globalen Knast gesteckt werden. Am besten alle Regimes auf einer Eisscholle zusammenpferchen, die sich in der Antarktis abgespalten hat und unter ständiger Abschmelzung in den Süden driftet. Es soll gewisse Milliardäre geben, die unter Menschenrechten das Recht verstehen, die sozialen Menschenrechte in unbegrenzter Freiheit mit Füßen zu treten.

Was früher Adel und Klerus war, ist heute Geldadel und Klerus. Unterschiede gibt es keine, wenn man davon absieht, dass der ritterliche Nachwuchs besser reiten konnte und die eindrucksvolleren Rüstungen besaß. Ah doch, einen kleinen Unterschied haben wir vergessen. Der Feudaladel hatte ein Lehnswesen eingerichtet, das Lehnherren und Lehnsknechte zu einer Schicksalsgemeinschaft verband.

Die Belehnten mussten dem Herrn gewisse Dienste tun, wie Halten des Steigbügels, Dienst als Mundschenk. Im Gegenzug verpflichtete sich der Herr zu Schirm- und Schutzzwecken. Beide bezeugten gegeneinander lebenslange Treue. Beide hatten sich zu achten und zu respektieren. Der Herr durfte den Knecht nicht schlagen, demütigen oder sich an dessen Frau oder Tochter vergreifen. (Das Jus primae noctis, das Recht der ersten Nacht, kam erst beim Verfall des ursprünglichen Lehnswesens auf.)

Heute würde jeder Geldadel die Mundschenkdienste eines Unterschichtlers mit Verachtung ablehnen, weiß der doch nicht mal, was Dekantieren ist. Das Jus primae noctis existiert noch immer, aber in kapitalistischer Form: selber schuld, wer unter die Räder kommt. Die unteren Schichten werden solange an den Rand des Bettelns gebracht, bis die jungen Töchter der Armen sich genötigt sehen, ihren Leib in reichen Ländern zu verkaufen. Nicht selten als Sklavinnen ohne Pass und bürgerliche Rechte.

Unter den Tycoons gibt es fulminante Menschenfreunde, die die Hälfte ihres Vermögens an Stiftungen abgeben und sich nur noch mit wenigen Trostmilliarden begnügen. (Warren Buffet hat seinen Kindern fast sein gesamtes Vermögen als Erbe vorenthalten. Sie müssen sich mit je einer Milliarde als Startkapital begnügen, damit, wie er sagte, gleiche Startchancen in der Gesellschaft gewahrt bleiben.)

Wenn Superreiche glänzende Abenddiners zu caritativen Zwecken veranstalten, kriegen Bettler, wenn sie denn von Cops nicht sofort vertrieben werden, einen großzügigen Taler in ihre Büchse geworfen. Am Diner teilzunehmen, wäre schon aus olfaktorischen Gründen ausgeschlossen. Man tut gern Gutes in Amerika, um sich calvinistische Gewissheitspunkte zu verschaffen  damit man reinen Gewissens mit den Objekten seiner Nächstenliebe nichts zu tun haben muss. Es handelt sich um ein garantiertes Abstands- und Nichtbeachtungsrecht.

Verglichen mit brosamengebenden Tycoons war das hohe Mittelalter mit seinem Lehnswesen eine solidarische Gemeinschaft von Herren und Knechten. Hegel hat das Herr-Knecht-Verhältnis aus schwäbischer Gutmütigkeit viel zu positiv für den Knecht geschildert. Weil der Knecht dem Prinzip folgt: schaffe, schaffe, Schlössle bauen, war er seinem Schlossherrn zwar handwerklich haushoch überlegen. Doch die Überlegenheit hatte keinerlei Folgen im Kapitalismus, wo es immer viel zu viele Knechte gab, die sich um die knappen Malocherplätze rissen, indem sie für immer weniger Knete die Arbeit verrichteten.

Inzwischen sind Knechte mit überlegenem Know-how nicht mehr gefragt, weil es ungeheuer viele Maschinen gibt, die alle Knechte überflüssig machen. Es gibt nur noch eine einzige knechtische Schicht von Intelligenzlern, die den Magnaten gewitzte Maschinen, Waffen und Prismenaugen anfertigen, mit denen die Überflüssigen unter Dauerkontrolle gehalten werden.

Das Herrsein ist auf keine Malocherknechte mehr angewiesen. Der Herr kann sich alles nach Belieben kaufen, was er selber nicht kann und die Magnatenschicht wird umschwirrt von willfährigen Technikern und Naturwissenschaftlern, die sich gegen ein Bakschisch anbieten, alle praktischen Probleme für sie zu erledigen. Was müssen moderne Herren können? Sie müssen nur noch das Geschäft des Herrschens beherrschen.

Das ist nicht so einfach, wie gewisse Neidhammel sich das vorstellen. Da muss man die Fähigkeit besitzen, andere für sich einzunehmen, gepaart mit der vibrierenden Brutalitätsbereitschaft, jeden aus dem Weg zu räumen, der sich dem Kurs ins Licht entgegenstellt. Eine hoch parfümierte Mischung aus Raubtierkatze und gewinnendem Patriarchen.

Um Skandalöses zu sagen, sagt man gern: die Gegenwart ist ins Mittelalter zurückgefallen. Verglichen aber mit dem Kapitalismus ist das Lehnswesen des Mittelalters eine persönlich gefärbte soziale Subsistenzwirtschaft gewesen. Herren und Knechte mussten sich akzeptieren und durften die Ehre des anderen nicht verletzen.

Wenn wir Ehre grob mit Würde übersetzen, die unantastbar sein soll, obgleich die Wahrung sozialer Menschenrechte auch zur Würde des Menschen gehört, sind wir inzwischen in den barbarischsten Zeiten gelandet, in denen es keine rechtlichen Gesellschaften gab und der Stärkste das Sagen hatte. Treueverhältnis zwischen Besitzern und Besitzlosen? Solidarität gegenseitig Abhängiger? Wenn Elysium unsere Zukunft zeigt, gibt es nur noch Hauen und Stechen zwischen Bewohnern seliger Gefilde und dem Restmüll der Gesellschaft.

Nur nebenbei: auch in diesem Film werden griechische Begriffe benutzt, um den christlichen Charakter der Visionen zu verbergen. Himmel ist das griechische Elysium, nicht der christliche Himmel, der von Menschen in selbsterfüllender Prophezeiung hergestellt wird. Niemand sagt Himmel, niemand sagt Hölle zu den beiden antagonistischen Zukunftsentwürfen, die der Film in brutalen und verlockenden Bildern zeigt. Es müssen griechische Tarnbegriffe her, obgleich der Film nichts ist als eine Illustration der Kinderbibel. Wenn ihr euch bemüht, den Aufstieg schafft und viel Geld verdient, liebe Kinder, landet ihr im neuen Paradies, wo Krankheit, Elend, Not und Tod für immer behoben sind. Vermutlich sind Himmlische im Elysium unsterblich und wenn sie es nicht sind, werden sie es bald sein.

Es ist die gigantischste Verdrängung der Weltgeschichte, dass eine Epoche komplett die Wurzeln verleugnet, denen sie entsprossen ist. Hat es das jemals in der Geschichte gegeben? Worauf die geistbegabte Epoche stolz ist, muss das Werk höherer Mächte sein, was sie an sich hasst, das Werk heidnischer Mächte.

Demokratie ist nicht die selbstbewusste Erfindung der Griechen, die dank ihrer beweglichen Intelligenz und Erfindung der Menschenrechte fähig ist, menschliche Konflikte in der Gemeinschaft so zu lösen, dass jeder Bürger stolz darauf sein kann  nein, sie ist die Folge menschlicher Schwächen. Alle Menschen sind Sündenkrüppel, die in höherem Auftrag überwacht werden müssen.

Warum ist Demokratie eher mit Christentum vereinbar als mit dem Islam? Die katholische Islamwissenschaftlerin Christine Schirrmacher:

„Im Christentum gebe es die Grundannahme, dass der Mensch fehlbar und seine Macht einzuschränken sei. Das gehe mit der Demokratie einher, bei der es die Möglichkeit zu Abwahl aller demokratisch gewählten Volksvertreter und Kontrollgremien wie Parlamente gebe. Hingegen seien klassische islamische Scharia-Normen schwieriger mit Demokratie vereinbar.“

Wäre der Mensch weniger fehlbar, wäre Demokratie erst recht die angemessene Gemeinschaft für die Gattung. Das abendländische Christentum hat die beste politische Erfindung des Menschen zu einer Sündenbewahranstalt erniedrigt. Der Stolz der Heiden wurde zum Gebrechen der Christen. Gewiss, kein Mensch ist perfekt, wir müssen Sorge umeinander tragen. Deshalb müssen wir Demokratie nicht zur Anstalt öffentlich-rechtlicher Demut und amoralischer Selbsterniedrigung verschandeln.

In ihren Kirchen sollen sie Rotz und Wasser über sich heulen, auf dem politischen Marktplatz haben sie stolz zu sein auf den homo sapiens, dass er gelegentlich seine eigenen Probleme durch Debattieren lösen kann. Das größte Übel der Demokratie sind geduckte, unterwürfige und servile Demokraten, die an allen möglichen Humbug glauben, nur nicht an die Fähigkeit der Menschheit, ihr Schicksal selbst zu gestalten.

Was für eine erbärmliche Kriecherei unter einen Ganz Großen, um seine Partner, seine Kinder, seine Nachbarn und Landesleute, seine demokratischen Brüder und Schwestern in der ganzen Welt für Versager und Rohrkrepierer zu halten. Mit solchen Kopfnickern, Naturverächtern und Menschheitshassern soll man der Erde treu bleiben.

Nietzsche hatte die rechte Ahnung, als er ausrief: „Bleibt der Erde treu und glaubt denen nicht, welche euch von überirdischen Hoffnungen reden! Giftmischer sind sie, ob sie es wissen oder nicht.“ Wäre er nur dabei geblieben, die Treue zur Erde nicht zur Sache gottähnlicher Übermenschen zu machen. Wäre er nur selbst der Erde treu geblieben, anstatt den Menschen in einen faschistischen Erlöser zu verwandeln, so wäre er zum philosophischen Herold einer friedlichen Menschheit geworden.

Zu welchen Erkenntnissen war dieser Alpengänger fähig! „Sein kategorischer Imperativ: Du sollst den Augenblick so leben, dass er dir ohne Grauen wiederkehren kann! Du sollst! „Da capo“ rufen können.“

Wenn wir zu allem Ja und Amen sagen können in Stolz und ohne Schuldbewusstsein  wozu aber gehört, unsere Fehler zu sehen und zu korrigieren , dann haben wir den stehenden Augenblick erreicht, der seine Vergangenheit bereinigt hat und die Zukunft nicht als messianische Fluchtperspektive benötigt.

„Belustigt zitiert Nietzsche den Jesusspruch in Luthers Übersetzung: “So ihr nicht werdet wie die Kindlein, so kommt ihr nicht in das Himmelreich“, um hinzuzufügen: “aber wir wollen auch gar nicht in das Himmelreich: Männer sind wir geworden  so wollen wir das Erdenreich.“

Männer ist zu wenig: hier sprach der Pastorensohn, der sich von Mutter und Schwester nicht lösen konnte und bei jeder Frau die Peitsche schwingen musste, um seine Angst zu betäuben. Er hätte schreiben müssen: Menschen sind wir geworden  also wollen wir das Erdenreich. Das muss die Losung einer Menschheit werden, die der Erde treu bleiben will, anstatt im Nirwana herumzuschwirren und die Stätte unserer Geburt und unseres Todes zu verfluchen.

Wie kann man Natur retten, wenn man sie verabscheut? Wie kann man der Erde treu bleiben, wenn man sie als minderwertiges Durchgangslager betrachtet? Hier haben wir keine bleibende Stadt, die zukünftige suchen wir? Als die ersten Christen vor skeptischen Heiden von den Freuden des Himmels schwärmten, fragten sich die nüchternen Philosophen: warum bringen sie sich nicht um, um schnell den Ort ihrer jenseitigen Freuden zu erblicken?

Christen betrachten die Demokratie als technisches Vehikel, das keinerlei Moral benötige, um zu funktionieren. Ohnehin sei der Mensch ein amoralisches Wesen. Über eine Demokratie, die besser wäre, wenn Demokraten fröhlicher, humaner und selbstbewusster wären, lachen sie unverhohlen. Das Christentum hat den Sieg über die Welt errungen, weil es amoralisch ist  sagt der neoliberale Volkswirtschaftler und Lehrer Hayeks: Ludwig von Mises:

„Gerade der Umstand, dass Jesus kein Sozialreformer war, dass seine Lehren frei von jeder für das irdische Leben anwendbaren Moral sind, dass alles, was er seinen Jüngern empfiehlt, nur Sinn hat, wenn man mit umgürteten Lenden und brennenden Lichtern den Herrn erwartet, um ihm alsbald zu öffnen, wenn er ankommt und anklopft, hat das Christentum befähigt, den Siegeslauf durch die Welt anzutreten. Nur weil es vollkommen asozial und amoralisch ist, konnte es durch die Jahrhunderte schreiten, ohne von den gewaltigen Umwälzungen des gesellschaftlichen Lebens vernichtet zu werden. Weil es nichts enthält, was es an eine bestimmte Sozialordnung gebunden hätte, weil es zeitlos und parteilos ist, konnte jede Zeit und jede Partei daraus das verwerten, was sie wollten.“ („Die Gemeinwirtschaft“)

Das amoralische Christencredo besiegt die Welt, indem es die Welt zerstört. Wer der Erde treu bleiben will, muss einer Moral der Erde folgen.