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Tagesmail

Freitag, 10. Mai 2013 – Europa auf die Couch

Hello, Freunde Europas,

die Angst geht um, Europa könnte zerfallen. War die EU nur eine materielle Idee? Fehlte von Anfang an das geistige Band, das den Europäern das Gefühl der Einheit bot? Was hält die Europäer zusammen? Wohlstand? Freiheit? Demokratie? Gott?

Amerika, das Kind Europas, das der Mutter längst über den Kopf gewachsen ist, hat alle wichtigen Begriffe mit sich genommen und auf seine eigene Fahne geschrieben, als hätte es seine Fundamente selbst erdacht und erfunden. Das Kind will der Mutter nichts schuldig sein. Allzu oft scheint Mutter lästig zu werden, weil sie ihre eigenen Probleme nicht lösen kann. Immer widerwilliger fühlt das Kind sich zur Hilfe verpflichtet, obgleich es sich von seinem familiären Ursprung lösen und mit anderen Freunden in der Welt in Kontakt treten will.

Bei jeder Wahl eines neuen Präsidenten heißt es, nun werde der Neue Kontinent sein Hauptaugenmerk vom bedeutungslosen alten Kontinent lösen und sich dem pazifischen Raum zuwenden. Der Weg nach Westen ist nicht zu Ende, die Frontier wandert übers große Meer nach Indien, Japan und China. Gleichwohl werden immer wieder gleiche Grundwerte zwischen Amerika und Europa beschworen, als seien sie dabei, sich in Luft aufzulösen.

Welche gemeinsamen Grundwerte hat Amerika mit China – außer dem Kommerz? Japan und Indien sind Demokratien. Fehlt es ihnen nicht an Christentum, der angeblichen Quelle aller freiheitlichen Lebensgestaltungen? Wenn Amerika in die Krise gerät – aus der das Riesenland gar nicht mehr herauskommt –, wohin schaut es, um sich seiner Werte zu versichern und sie ständig zu erneuern? Ist Gods own Country dem alten Europa nicht doch wesentlich mehr verpflichtet

als es wahrhaben will?

Amerika fühlt sich noch immer dem christlichen Credo verpflichtet, obgleich die weißen angelsächsischen Protestanten gerade dabei sind, ihre Mehrheit zu verlieren. Europa hingegen gilt als das ungläubigere Gebilde. Wird es auch hier zu einer Konvergenz kommen? Sodass Amerika allmählich säkularer, Europa gläubiger wird?

Laut SPIEGEL entdecken die Deutschen den Glauben wieder. Nach Umfragen glauben mehr als die Hälfte der Deutschen wieder an Wunder. 54% glaubten gar an die Existenz von Schutzengeln. Ist dieser Glaube identisch mit dem amerikanischen Biblizismus? Ist es statthaft, schlichtweg von „dem Glauben“ zu sprechen?

In Amerika bezweifelt niemand die politischen Konsequenzen des Glaubens. Wenn 75% aller Amerikaner daran glauben, zu ihren Lebzeiten die Wiederkunft des Messias zu erleben, hat das eine andere Dimension als der Glaube an kindische Schutzengel. Zwischen Glauben und Politik gibt es für den Bible Belt nicht die geringste Differenz, während fromme Europäer tun, als beträfe der Glaube eine ganz andere Dimension, die erst auf den zweiten Blick in die Welt eingreife.

Wer es deutlicher will: die Amerikaner sind offen und machen keinen Hehl aus ihrem Glauben-als-Politik und ihrer Politik-als-Glauben, während die deutschen Hubers und Käßmänners den Glauben erst ins Überirdische heben müssen, bis sie ihn als Spiel über die Bande hastenichgesehen ins Irdische zurückführen und Herrschaft durch den Heiligen Geist beanspruchen.

(In Berlin, der Hauptstadt Deutschlands, gibt’s nur zwei sozialpädagogische Hochschulen: beide klerikal. Wer dem Diktat der Popen ausweichen will, muss sich in Potsdam einschreiben. Von der Kita bis zur Bahre sind riesige Bereiche der Bildung und des Sozialen in klerikaler Hand.)

Wenn Amerikaner an das Ende der Heilsgeschichte glauben, werden sie alles tun, um in vorauseilendem Gehorsam die Welt mit Drohnen und weltumspannender Überwachung auf die Wiederkehr des Herrn zu präparieren. Das ist die grundlegende Differenz zwischen amerikanischer und europäischer Politik: Amerika bereitet in gläubiger Erwartung das Eschaton vor (die letzten Dinge), während Europa sich bislang noch weltlicher und aufgeklärter gibt, zusehends aber in die Naherwartungen ihrer Verbündeten hinüberdriftet.

 

Julia Kristeva ist eine aus Bulgarien stammende, in Frankreich lebende Psychoanalytikerin, die in der FAZ Europa auf die Couch legt, um eine Diagnose zu erstellen. FAZ-Gespräch mit Julia Kristeva:

Europa müsse, wie jeder Patient, erst seine Schatten zur Kenntnis nehmen und deren Ursachen verstehen, um eine gemeinsame und tragfähige Identität zu entwickeln. Bewusstmachen der eigenen Defizite sei Voraussetzung jeder Gesundung. In den Römischen Verträgen von 1957 sei es nur um Belange des homo öconomicus gegangen. Weder Kultur noch Geschichte seien erwähnt worden. „Man wollte den Kontinent wieder aufbauen, indem man seine Vergangenheit verdrängte.“ Gewiss, danach sei viel Erinnerungsarbeit geleistet worden, aber nur von Intellektuellen, die es versäumt hätten, ihr „Wissen an die Massen“ weiterzugeben.

Wer von Massen spricht, verachtet das Volk. Zudem muss der Analytikerin gesagt werden, Erinnerungsarbeit ist kein „Wissen“, das man wie Ware weitergeben kann. Wissen ist immer äußerlich, es fliegt ins Gehirn und wieder hinaus, ohne den Menschen zu beeindrucken. Erinnern muss ein kollektiver und individueller Prozess sein, der den Menschen in seiner Tiefe berührt.

Deutschland erhält ein Sonderlob: „Einige Länder – und ich denke da natürlich in erster Linie, aber nicht allein an Deutschland – haben sich mutig über ihre Vergangenheit gebeugt. Aber Europa als solches, als Ganzes, hat sich nicht ernsthaft mit seiner Geschichte auseinandergesetzt.“

Hat Deutschland sich das Lob wirklich verdient? Äußerlich gesehen: ja. Doch die „poststrukturalistische Genderfrau“ (kein Mensch weiß, was diese Begriffe bedeuten, nicht mal diejenigen, die sie vertreten; entsprechend ist der Stand der weiblichen Emanzipation in Europa) scheint von deutscher Psyche nicht viel zu verstehen. Die Deutschen bemühen sich gern – laut Helmut Schmidt soll auf seinem Grabstein stehen: Er hat sich bemüht –, aber stets nur als „überich-gesteuerte Pflicht“, nicht als verstandeshelle Herzensangelegenheit.

Inzwischen sind sie schon wieder dabei, auf Pfaden unschuldig aussehender Zeitgeistphilosophien das Erarbeitete wieder dem Orkus zu übergeben. Die Erinnerungen an ihre Verbrechen werden durch entleerte Erinnerungs-Rituale verdrängt. Man zeigt sein „Wissen“, um der Welt seine Ignoranz zu verbergen. Man könnte von einer Verdrängung in zweiter Potenz sprechen. Das Es erobert seine Macht des Nichtwissenwollens zurück, indem es sich mit Scheinerkenntnissen des Ich schmückt und legitimiert.

(Die psychoanalytische Theorie ist zu einer verknöcherten Scholastik verkommen. Da die Damen und Herren hinter der Couch immer mehr hinter dem Mond leben, die politische Realität nicht mit dem „Dritten Ohr“ wahrnehmen, werden sie immer unfähiger, ihre Thesen von der Wirklichkeit korrigieren zu lassen und fortlaufend in ihre Theorie einzubauen.)

Indem sie glauben, sie hätten ihre Hausaufgaben erledigt, kehren die Deutschen wieder zurück zu den Vorkriegsideologien der Deutschen Bewegung, die seit der Romantik alle Bezirke des deutschen Daseins kontaminiert hat, bis sie im Dritten Reich ihren verderblichen Höhepunkt erreichte. Man mache die Probe aufs Exempel und frage einen schreibenden Intellektuellen nach der Deutschen Bewegung: seine Miene verdüstert sich und, ohne zu wissen, worum es geht, wird er der Deutschen Bewegung jede Relevanz bestreiten.

Beweise gibt es jeden Tag zuhauf. Der deutsch-jüdische Dialog ist ein quartalsirres Aufeinanderherumhacken. Antisemiten, die keine sind, werden mit seltsamen Wortwiederholungsanalysen ausfindig gemacht. Singuläre Schreihälse werden zur Strecke gebracht, als seien sie repräsentativ für den Rest der Gesellschaft. Was aber mitten im Revier der Intellektuellen abläuft, wird nicht ins Visier genommen. Ultrarechte Bewegungen können nur von „Dumpfbacken“ stammen, die nicht bis Drei zählen können. Unsere Geisteseliten hingegen gerieren sich, als seien sie unberührbar.

Das hängt mit der Art und Weise der deutschen Erinnerungsarbeit zusammen, die den Führer als ignoranten Dumpfbacken, gescheiterten Künstler ohne Schulabschluss und ohne ordentliches Studium darstellt. Merke: deutsche Lichtgestalten müssen mindestens den Bachelor in Theologie und Soziologie haben und fließend das ABC beherrschen, sonst erzürnen sich die hochgelehrten Historiker und Biografen, dass sie sich um Kretins bemühen müssen. (Nur nebenbei: auch Rudolf Augstein und Günter Grass hatten weder Abitur noch Studium.)

Die Herrenart der NS-Arier hat sich auf merkwürdige Art in die Nachkriegszeit gerettet. Die ehemals Verführten mokieren sich in Herrenpose über den, dem sie einst mit Haut und Haaren verfallen waren. Die Kränkung, einem hergelaufenen Loser verfallen zu sein, muss so traumatisch gewesen sein, dass sie – in Post-Identifikation mit dem Täter – den Sohn der Vorsehung mit denselben Mitteln niedermachen müssen, wie sie selbst zur dumpfen Masse erniedrigt wurden. Das klingt komplizierter als es ist. Es ist nichts anderes als das, was der Volksmund schon immer wusste: wie du mir, so ich dir.

Betrachtet man die momentane Mode der Komiker, Hitler zum lächerlichen Gnom zu machen, fragt man sich, ob die Beherrscher der Pointen und der Peinlichkeit sich klar machten, dass der Versager fast jede Rolle vom parkettsicheren Salonplauderer über den Naturfreund, exzellenten Wagnerenthusiasten, Militärfachmann, Kunstkenner, Italienbewunderer bis zum phänomenalen Verführungsredner spielen konnte. Sein fotografisches Gedächtnis soll kein Gesicht vergessen haben, das er je gesehen hatte.

Die Deutschen merken gar nicht, dass sie sich umso lächerlicher machen, je mehr sie ihren charismatischen Führer zum Volltrottel erklären. Allein diese Unfähigkeit, die Gefahr in ihrem wahren Ausmaß zu erkennen, um sich angemessen dagegen zu wappnen, zeigt die Dürftigkeit deutscher Vergangenheits-Bewältigung. (Helmut Schmidt ist nicht mal in der Lage, den Namen des Führers vollständig auszusprechen; er spricht von Adolf Nazi. Mit solchem „Verschweigungszauber“ will er den Komplex bearbeitet haben.)

Noch verheerender ist der erwachende Bayreuthmythos der deutschen Eliten, die glauben, den Antisemitismus Hitlers vom Antisemitismus Wagners zu sondern und dessen Judenhass trennscharf von seiner berauschenden Musik sezieren zu können. Eine Tannhäuser-Aufführung in Düsseldorf wurde abgesetzt, weil sie Hitler in Zusammenhang mit Wagner brachte. (DER SPIEGEL)

Selbst jüdische Bürger opponierten gegen die Inszenierung, als ob auch sie zwischen Text und Musik präzise unterscheiden könnten. Das eine ist, ob man Verbrechen der Shoa naturalistisch-schockierend auf die Bühne bringt, das andere, ob man Wagner von Hitler reinigen will. Wer auf Schock setzt, will skandalisieren: kein Königsweg zur Erkenntnis. Wer aber die Linie Wagner-Hitler verleugnet und meint, vor lauter „reiner“ Musik den „unreinen“ Text der Musik vernachlässigen zu können, der sollte sein Diplom in Erinnerungsarbeit zurückgeben.

(Küntzels Artikel in der WELT blieb bislang der einzige, der auf diesen veritablen Skandal hinwies. Zu einer sachhaltigen Debatte über die Linie Wagner, Houston Chamberlain bis Hitler kam es bis jetzt nicht und wird es – wie ick den Laden hier kenne – auch nicht kommen. Zur Erinnerung noch einmal der Küntzel-Artikel.

Der Weißwaschung Wagners liegt der deutsche Ästhetizismus zugrunde, die absurde Vorstellung, man könne Kunst als Ersatz für Politik praktizieren. Erinnern wir uns, dass Schiller ursprünglich ein Anhänger der Französischen Revolution war. Als die Revolte in Gewalt umkippte, waren unsere Salonrevolutionäre vom Gang der Geschichte so beleidigt, dass sie sich auf ihre Kunst zurückzogen, die hinfort die bessere Politik zu sein hatte.

In der Tradition der Schönheitsverehrung gilt Wagners „Gesamtkunstwerk“ als Erscheinung eines illuminativen Reichs jenseits der schnöden Realität. (Noch heute ein Grund für viele reine Gesinnungsapostel, jeden pragmatischen Kompromiss der Parteien als Teufelswerk zu verabscheuen. Nicht Kompromiss- und praktische Durchsetzungsfähigkeit ist tadelnswert, sondern die zunehmende Unschärfe der Richtung, wohin die Kompromissler überhaupt wollen: es fehlt das Ziel.)

Ohne es zu wissen, verfolgt der deutsche Ästhetizismus dieselbe Strategie wie das Christentum: beide sprechen immer vom Himmel (oder dem Schönen an sich), meinen aber stets die Macht auf Erden. Für Wagner gab es nie einen Zweifel, dass sein Kunstwerk dereinst aus Bayreuth ausbrechen und das Land überschwemmen würde. Seit Houston Chamberlain war Hitler jener Sohn des Himmels – oder des Schönen –, der die Botschaft von deutschen Erlösern und jüdischen Verderbern in alle Welt tragen sollte.

Es gibt noch andere Möglichkeiten, die Wiederkehr des Antisemitismus philosophisch zu fundamentieren:

a) Die Postmoderne leugnet jegliche objektive Wahrheit. Wie kann ohne den Begriff der Wahrheit die Wahrheit der Shoa behauptet werden? Wenn alles subjektivem Gutdünken unterliegt, können wir die Schulbücher über den Holocaust einstampfen.

b) Der Neuigkeitswahn oder die Vergangenheitsverleugnung der modernen Fortschrittsideologie. Wie kann eine vergangene Tat bedeutsam sein, wenn das Alte nicht mehr zählt, wenn die Menschheit nur noch in die Zukunft schauen soll? Nur das Risiko des Neuen zähle, der unkalkulierbare Sprung in die Zukunft. Wenn es keine Vergangenheit gibt, gibt es auch keine Völkerverbrechen, die in der Vergangenheit stattfanden.

Von all diesen deutschen Vergangenheits-Verleugnungen weiß Kristeva nichts. Allerdings hat sie Recht, dass Europa seine blutige und schreckliche Vergangenheit mitnichten aufgearbeitet habe:

„Ich denke da nicht nur an die Schoa. Ich denke an die Inquisition, an die Pogrome, an den Kolonialismus, an den Machismo oder an die Kriege, die für den Kontinent verheerend gewesen sind und sich über die ganze Welt ausgebreitet haben. Solange dieser verborgene Schatten nicht erforscht und einer Kritik unterzogen worden ist, wird Europa nicht vorankommen, sondern ist sogar dazu verdammt, Rückschritte zu machen.“

Europa müsse seine Identität erarbeiten und dürfe nicht länger projektiven Trugbildern nachhängen, so Kristeva. Was versteht sie unter Trugbildern? Den „Kommunismus, das Sozialmodell“. Hört, hört. Das klingt neoliberal. Unklar bleibt, ob es so gemeint ist. Der europäische Staat werde als „Große Mutter“ gesehen. Ist die Große Mutter das Pendant zum deutschen Väterchen Staat, dem zu viele auf der Tasche liegen?

Nicht unbedingt. Kristeva will eine Ergänzung des bloß materiellen Aspekts. „Die Europäer haben vergessen, dass Solidarität nicht nur eine materielle, sondern auch eine spirituelle Seite hat.“ Es wäre verwunderlich, wenn’s hier ohne Mystik ginge. „Kant spricht in seiner „Kritik der reinen Vernunft“ vom „corpus mysticum“, von der unverzichtbaren Vereinigung des Selbst und seiner Schatten mit der übrigen Welt.“

Das Corpus mysticum ist bei Kant jenes ausgedachte Reich, in dem menschliche Glückswürdigkeit und Glückseligkeit von einem Vernunftgott zusammengeführt werden. Ob Kant hier sein pietistisches Erbe nicht gänzlich bearbeitet hat oder aber streng vernünftig denkt, darüber lässt sich streiten. Doch es ist der helle Wahn, Mystizismen anzudeuten, ohne sie zu erklären. Ein typisches Beispiel für hybrides Schwatzen der Gegenwart, das sich großartig gibt, ohne zur Kasse gebeten zu werden.

Natürlich muss das Prinzip Solidarität mit dem „griechischen und christlich-jüdischen Erbe“ in Zusammenhang gebracht werden. Richtig ist die Ableitung von der Solidarität der Polis, falsch vom persönlichen oder nationalen Erlösungsindividualismus der Christen und Juden. Hier unterliegt Kristeva selbst dem europäischen Trugbild einer harmonischen Einheit aus Vernunft und Offenbarung. Europa ist keine Einheit, sondern ein Schlachtfeld, auf dem menschliche Autonomie gegen göttliche Heteronomie ankämpft.

Je länger Cristeva (= die Christin?) spricht, je rechtgläubiger werden ihre Aussagen. Am Schluss verweist sie auf die „Wanderschaft“ Augustins, mit der sich der Kirchenvater auf das wandernde Volk Gottes bezieht, das sich nach dem Himmel sehnt. Der Ort seiner Verantwortung ist nicht das Irdische, sondern das zukünftige Reich Gottes. Europa soll sich im Jenseits verankern, der bleibenden Stadt Gottes im Himmel. Die Analytikerin hatte offenbar eine persönliche Erleuchtung, als sie dem deutschen Papst die Hände küssen durfte.

Wer schon hier auf Erden im Schosse Abrahams sitzt, für den muss politische Empörung befremdlich sein. Jetzt folgt, ohne den Namen zu nennen, eine Philippika gegen den so überzeugenden und wohlgesonnenen französischen Diplomaten Stéphane Hessel, der vor kurzem mit riesigem Erfolg die Europäer zur Empörung aufrief.

Kristeva: „In meinen Augen ist die Empörung romantisch, eine von Abwehr und Zorn geprägte und jugendlich-unreife Reaktion, die keine glaubwürdige Alternative benennt, weil sie keinerlei Interaktion mit dem anderen vorsieht. Sie denkt nicht an den anderen. Es ist eine Haltung, die zum Dogmatismus verleitet; sie ist ihrem Wesen nach totalitär und todbringend. Die Empörung ist eine europäische Sünde, ein negativer Narzissmus.“

Mal langsam. Ohne Empörung gegen das Unrecht der Welt kann es kein leidenschaftliches politisches Engagement geben. Empörung muss sachhaltig werden und präzis angeben, was sie verändern will. Bloße Empörung – wie bei „Occupy“ oder den Piraten – kann allerdings infantil bleiben. Deshalb ist sie noch lange nicht totalitär und todbringend. Totalitäre Todbringer wussten genau, was sie in ihrer Empörung vernichten wollten.

Kristeva ist zuzustimmen, dass Europa sich selbst erkennen muss. Nicht nur seine Schwächen, auch seine Vorzüge: Demokratie und Menschenrechte sind in Griechenland geboren, noch liegt Griechenland in Europa. Solche Petitessen erwähnt die Französin mit keinem Wort. Mit Mystik und Augustin hingegen wird Europa ins Mittelalter zurückgeführt.

Eine politische Psychoanalytikerin müsste selbst auf die Couch, bevor sie Europa gute Ratschläge erteilen will.